«der arbeitsmarkt» 01/2005

Wenn Mütter arbeiten – Wunsch- oder Albtraum?

Eine vor kurzem veröffentlichte Studie der OECD bestätigt es: Berufstätige Eltern sind in der Schweiz nach wie vor mit zu vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Roswitha Gampp aus Frauenfeld hat erfahren, was das konkret bedeutet.

Die Schweiz muss mehr tun, um die Situation berufstätiger Eltern zu verbessern. Das hat die jüngst veröffentlichte Studie «Vereinbarkeit von Beruf und Familie» der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ergeben. Verfasst wurde sie im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) und des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco). Untersucht wurden im neuesten
Ländervergleich Portugal, Neuseeland und die Schweiz (davon die Kantone Zürich, Waadt und Tessin). Im Jahr 2000 waren laut Studie in knapp 60 Prozent der Paarhaushalte mit mindestens einem 16-jährigen oder jüngeren Kind beide Elternteile erwerbstätig. In 13 Prozent arbeiteten beide vollzeitlich, in 43 Prozent ein Partner voll, der andere Teilzeit. Nur 3 Prozent der Paare praktizierten das Modell einer egalitären Arbeitsteilung (jeder 30 Std./Woche).

Doppelbelastung (natürlich?) für die Frau

Von den Tücken der Realität könnte Roswitha Gampp, freiwillig berufstätige Ehefrau und Mutter der heute zwölfjährigen Fabienne, ein Liedchen singen. Im Mai 1992 waren sich die frisch gebackenen Eltern über den Teilzeitarbeitswunsch der Mutter einig. Dass der Vater Rolf sein anspruchsvolles und unregelmässiges Arbeitspensum als Spitalarzt zugunsten der Frau reduziere, stand für beide niemals zur Debatte.
Es lag also an Roswitha, sich zu organisieren. Frühzeitig genug kümmerte sie sich im Spital in Frauenfeld, wo ihr Mann arbeitete, um einen Krippenplatz. Quasi zum Wunschtermin, zehn Monate später, bekam sie eine Zusage. Eine ihren Vorstellungen entsprechende, qualifizierte Teilzeitstelle (anderthalb Tage pro Woche) fand sich im Unispital Zürich.
Doch nach wenigen Monaten waren die anfallenden Aufgaben in der Neuropathologie nicht mehr in anderthalb Tagen zu bewältigen – Roswitha Gampp stand vor der Wahl, mehr zu arbeiten, eine Tätigkeit mit weniger Verantwortung auszuüben oder ganz aufzuhören. Sie entschied sich für die erste Variante. Das hiess, fortan während dreier Tage pro Woche zu arbeiten. Weil die Familie damals in Winterthur wohnte, waren die Fahrten zwischen Wohnort, Krippe und Arbeitsplatz sehr zeitraubend.
Für Roswitha stellte die Doppelbelastung rasch hohe Anforderungen an Energie, Organisationstalent und Improvisationsgabe. Obschon drei Jahre später der Umzug nach Frauenfeld gewisse Erleichterungen brachte, hätte sich Roswitha eine Kinderkrippe mit flexibleren Öffnungszeiten gewünscht. «Verkehrsstaus oder kleinste Verzögerungen am Arbeitsplatz waren für mich oft stressig, da ich befürchtete, mein Kind nicht rechtzeitig vor Torschluss um 18 Uhr abholen zu können. Manchmal musste ich Rolf bitten, jemand von seiner Abteilung solle doch Fabienne abholen und zu sich ins Büro nehmen, bis ich eintreffe. Zum Glück fand sich immer wieder ein flexibler, hilfsbereiter Mensch», erinnert sie sich.

Schlechtes Gewissen gegenüber allen

Das ist kein Einzelfall. Der OECD-Bericht belegt, dass das Krippenangebot für Kinder von 0 bis 3 Jahren in den untersuchten Kantonen stark variiert, was ein Ausdruck unterschiedlicher Politik bezüglich familienergänzender Kinderbetreuung ist. Auch decken sich die Öffnungszeiten der Krippen schlecht mit den Bedürfnissen der Eltern, und es gibt noch viel zu wenig Betreuungsplätze. Die informelle Betreuungsform «Tageseltern» erlaubt zwar den Eltern eine bessere Abstimmung. Jedoch kann die Qualität der Betreuung zum Problem werden.
In Roswitha Gampps Arbeitsalltag schlich sich ein anderes Problem ein:
«Fabienne erschien mir ein zufriedenes Mädchen. Trotzdem hatte ich als berufstätige Mutter oft ein schlechtes Gewissen: gegenüber meinem Kind, das oft als Letztes in der Krippe auf mich wartete; gegenüber Arbeitskollegen, die für mich letzte Pendenzen erledigten, wenn ich pünktlich aus der Klinik rasen musste; gegenüber meinem Mann, weil nebst Kind und Haushalt wenig Freizeit mit der Familie übrig blieb.»
Rolf bot an, eine Putzfrau zu engagieren. Roswitha begann, Arbeit mit nach Hause zu nehmen. «Man kann nicht allen gerecht werden, das habe ich erkennen müssen. Arbeiten wurde gewissermassen mein Hobby. Ich meinte, weil ich etwas für mich in Anspruch genommen hatte, müsste ich in allen anderen Dingen doppelt so gut sein».
Mit Fabiennes bevorstehender Einschulung 1998 fingen die Probleme richtig an. Konnte das erste Schuljahr noch via Krippe besucht werden, war dies ab zweitem Schuljahr nicht mehr möglich. Auch einen so genannten Mittagstisch gab es in Frauenfeld nicht, an den sich Fabienne hätte setzen können. Fremdbetreuung – bei Nachbarn, wenn überhaupt – kam für Roswitha nicht in Frage, obschon dies eine bessere Abstimmung mit ihren Arbeitszeiten erlaubt hätte.
Blieb die flexible Kindertagesstätte «Chinderarche» im Stadtzentrum. Aber wie kommt das Kind dorthin? Der Busfahrplan war zu unregelmässig, der Weg nicht ungefährlich. Blieb das Taxi. Roswitha engagierte ein Taxiunternehmen, erstellte monatlich fein säuberlich einen Fahrdienstplan, an den sich Fabienne und Taxifahrer halten konnten. Alles klappte (beinahe) wunderbar, bis eines Tages, nach etwa einem Jahr, Fabienne im Frühjahr 2002 plötzlich nicht mehr mit dem Taxi fahren wollte. Ihre Klassenkamerädli würden sich über sie lustig machen. Ausserdem wollte sie wie alle Kinder daheim essen.
So fällte Roswitha Gampp schliesslich einen Entscheid: «Ich muss für das Kind da sein!» Seither erledigt sie, bei freier Zeiteinteilung, noch «gewisse Versuchsprojekte für das Grundlagenforschungsinstitut» und kommt pro Monat auf zwei Arbeitstage.

Gefordert sind Politikerinnen und Politiker

Die fundierte OECD-Analyse empfiehlt der Schweiz mehrere Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Die öffentlichen Ausgaben zu Gunsten der familienergänzenden Betreuung von Kindern im Vorschul- und Schulalter sollen erhöht und der Zugang zu Tagesschulen erweitert werden, um die Vollzeitarbeit der Frauen zu fördern. Bei der Finanzierung der familien-ergänzenden Betreuung von Vorschulkindern und der schulergänzenden Betreuung sollte von der Finanzierung der Anbieter zur Finanzierung der Eltern übergegangen
werden. Die Einführung der Individualbesteuerung soll geprüft, und allgemein soll die Familienfreundlichkeit von Arbeitsplätzen verbessert werden. Bei der allfälligen Einführung eines nationalen Systems von Ergänzungsleistungen für Familien sollten negative Effekte bezüglich Arbeitsanreizen vermieden werden. Auch sollten Besteuerung und Sozialhilfe Eltern nicht abschrecken, ihr Arbeitspensum zu erhöhen.
Zu diesem Forderungskatalog meint Roswitha Gampp: «Ich wünschte mir einiges: statt Pauschalabzüge für Fremdbetreuung den vom Staat finanzierten Mittagstisch in den Schulen, wo die Kinder bis etwa 16 Uhr betreut werden, flexiblere Krippenöffnungszeiten und regelmässigere Schulstundenpläne. Dazu ein besseres Angebot an qualifizierten Teilzeitstellen, ganz zu schweigen von weniger Sturheit beim Steueramt bezüglich Arbeitswegabzug. Dann würde ich bestimmt heute noch drei Tage pro Woche arbeiten.»
Gefordert sind nun Politikerinnen und Politiker – und an guten Vorsätzen mangelt es nicht. So meinte Bundespräsident Joseph Deiss anlässlich der Präsentation der OECD-Studie: «Den Eltern die Vereinbarkeit von
Berufsleben und Familie zu erleichtern, ist für die Politik ein Anliegen von hoher Priorität.»

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