«der arbeitsmarkt» 11/2006

Weniger arbeiten will gelernt sein

Seit knapp zwei Jahren sind Assistenzärztinnen und -ärzte dem Arbeitsgesetz unterstellt. Sie dürfen höchstens 50 Stunden pro Woche arbeiten und nicht mehr als sechs Tage
hintereinander. Haben sich die Arbeitsbedingungen in den Spitälern gebessert? Einen Blick in die neue Wirklichkeit gibt der Arzt Oscar Matzinger, Vizepräsident des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO).

der arbeitsmarkt: Herr Matzinger, gehören Mammutwochen, die 70 Stunden Arbeit und mehr bedeuteten, in Ihrem Beruf der Vergangenheit an?

Oscar Matzinger: Leider nein. Es gibt immer noch viele Spitäler, die mit oder ohne Ausnahmebewilligung die alten  Arbeitspensen beibehalten haben. Die Situation ist jedoch von Kanton zu Kanton und von Spital zu Spital sehr unterschiedlich. Grundsätzlich sind die Deutschschweizer Kantone fortschrittlicher als die Westschweizer. Sie zeigen mehr Interesse an der Umsetzung der 50-Stunden-Woche. Einige Kantone wie Zürich und Bern hatten überdies schon früher damit begonnen, die Arbeitszeit zu reduzieren und sich entsprechend darauf einzurichten. So mussten sie ihre Organisation nicht auf einen Schlag anpassen, sondern taten dies in Zwischenschritten. In beiden Kantonen konnten deshalb die Arbeitszeiten relativ problemlos gesenkt werden. Aber auch hier gibt es noch Spitäler oder Abteilungen wie die Chirurgie oder Gynäkologie, für welche die 50-Stunden-Woche ein Fremdwort ist.

Wie erklären Sie sich die unterschiedliche Entwicklung in den beiden Landesteilen?

Die meisten Chefärzte sahen – und sehen – keinen Handlungsbedarf. Und die Assistenzärzte wagen es nicht, sich gegen die überlangen Arbeitszeiten zu wehren. Sie schweigen, da sie für eine gute Weiterbildung an verschiedenen Spitälern arbeiten müssen. Ohne eine Empfehlung des Chefarztes können sie jedoch nicht die
Klinik wechseln. Diese Abhängigkeit trifft zwar auf die Assistenzärzte in allen Landesteilen zu, doch ist sie in der Westschweiz um ein Mehrfaches grösser. Dort stehen für die Weiterbildung nur zwei Universitätskliniken zur Verfügung. Und an diesen erfolgt ein grosser Teil der Ausbildung.

Ausgeschlafene Ärzte machen weniger medizinische Fehler. So begehen Chirurgen am Operationssimulator nach einer schlaflosen Nacht 20 Prozent mehr Fehler. Das sind doch Tatsachen, die für sich sprechen. Warum sperren sich also so viele Spitäler?

Als Hürde erweist sich die doppelte Hierarchie in den öffentlich-rechtlichen Spitälern. Da sind zum einen die Chefärzte, welche die Verantwortung für die medizinische Versorgung tragen. Viele von ihnen haben kein Interesse daran, dass sich bei den Arbeitszeiten und den betrieblichen Prozessen etwas verändert. Wenn sie da durchgegangen sind, kann es auch die nachfolgende Ärztegeneration.

Als zweiter Pfeiler der Hierarchie wären da aber noch die Spitaldirektoren. Sie sind zuständig für die Administration und das Budget. Angesichts der Kritik an den steigenden Kosten im Gesundheitswesen müsste ihnen doch daran gelegen sein, die Effizienz der Spitalorganisation zu steigern und die Bestimmungen des Arbeitsgesetzes durchzusetzen?
In den Spitälern haben nicht jene das Sagen, die über den Einsatz der Gelder bestimmen. Die meisten Chefärzte sehen die Verwaltung als Erfüllungsgehilfe ihrer Entscheidungen. Der Arbeit
an der Verbesserung betrieblicher Abläufe bringen sie nur wenig Wertschätzung entgegen. Die Spitalleitungen getrauen sich deshalb häufig nicht, ihre Anliegen, die nicht immer die der Chefärzte sind, offensiv zu vertreten. Viele Chefärzte würden es sich auch nicht bieten lassen, von der Administration auf die 50-Stunden-Woche verpflichtet zu werden.

Assistenzärzte sind jetzt nicht mehr unbegrenzt einsetzbar. Zumindest theoretisch. Der 24-Stunden-Betrieb und die Qualität in der Versorgung der Patienten müssen jedoch aufrechterhalten werden. Wie haben denn die Spitäler, die dem Gesetz Folge leisten, die 50-Stunden-Woche umgesetzt?
Es wurde und wird grösstenteils herumgewurstelt. Da werden hier ein paar zusätzliche Assistenzärzte eingestellt und dort wird ein bisschen der Dienstplan angepasst. Zu tief greifenden Veränderungen der Arbeitsprozesse kam es jedoch nur in einer winzig kleinen Minderheit der Spitäler.

Welche strukturellen Veränderungen müssten denn vorgenommen werden?
Ärzte fühlen sich traditionell dem medizinischen Fortschritt verpflichtet und schenken organisatorischen Neuerungen nur wenig Beachtung. Die vorherrschenden ärztlichen Organisationsstrukturen funktionierten, solange die Assistenzärzte täglich übermässig viele Stunden anwesend waren. Durch die Arbeitszeitreduktion sind die Spitäler jedoch gefordert, die betrieblichen Abläufe auf einen sparsamen Arbeitszeiteinsatz auszurichten. Um ein Beispiel zu nennen: Assistenzärztinnen und -ärzte verwenden ungefähr 40 Prozent ihrer Arbeitszeit für administrative Arbeiten. Ein Grossteil des Tages wird damit zugebracht, alte Dossiers
aufzufinden, Röntgenaufnahmen zu suchen und Telefonate zu führen. Assistenten sind jedoch hoch qualifizierte,
teuer ausgebildete junge Ärzte, die betrieblich nicht optimal eingesetzt werden. Es wäre sinnvoller und billiger, administrative Arbeiten an eigens dafür geschulte Kräfte zu übergeben. Der unwirtschaftliche Arbeitseinsatz der Assistenzärzte muss ein Ende finden. Sie sollen sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren. Auch könnte so der Druck gemindert werden, die Arbeitszeitreduktion durch zusätzliche Assistenten aufzufangen.

Aber dies sind nicht die einzigen Verbesserungen, die der VSAO vorschlägt.
Richtig. Assistentinnen und Assistenten arbeiten in den Spitälern mit dem Ziel, sich zu Fachärzten ausbilden zu lassen. Von den Kritikern der Arbeitszeitreduktion wurde befürchtet, dass die Zeit für die Weiterbildung mit der Zahl der Wochenstunden sinkt und so die Ausbildung verlängert und verteuert wird. Dies muss jedoch nicht sein. Straffung und Strukturierung lautet die Lösung.

Wie sähe eine solche strukturierte Weiterbildung aus?
In den meisten Schweizer Spitälern erfolgt die Weiterbildung durch «learning by doing». Eine Strukturierung wie in den USA ist hier kaum vorzufinden. Nehmen wir zum Beispiel die chirurgische Abteilung. In der Chirurgie müssen die Assistenten in der Tat viele Stunden anwesend sein. Aber warum? Weil am Morgen der Chefarzt operiert, am Nachmittag dann der Oberarzt. Will dann eine Assistenzärztin noch zum Zuge kommen, bleibt ihr nichts anderes übrig, als nachts zum Skalpell zu greifen. Eine strukturierte Weiterbildung hingegen legt fest, in welchem Zeitraum bestimmte Fähigkeiten erworben werden müssen, und überprüft den
Katalog der vorgeschriebenen Operationen. Die Assistenzärzte müssen sich zu einem früheren Zeitpunkt für die Richtung ihrer Spezialisierung entscheiden, und die Weiterbildungsstätten müssten verstärkt kooperieren.

Noch bevor die 50-Stunden-Woche in allen Spitälern eingeführt wurde, wird sie auch schon wieder in Frage gestellt. Der Spitalverband H+ fordert, dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit nicht jede Woche eingehalten werden muss, sondern lediglich über einen Zeitraum von drei Monaten.
Gegen eine solche Regelung wehren wir uns. Bei 140 zulässigen Überstunden im Jahr besteht die Gefahr, dass durch die Hintertür wieder die 70-Stunden-Woche eingeführt wird. Weitere Streitpunkte sind die Dauer der Nachtarbeit, die Forderung der Spitäler nach 7-Tage-Schichten und die ungeliebten Pikettdienste. All diese Punkte waren allerdings nie unumstritten. Es wurde deshalb
eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Spitäler, des VSAO und des Staatssekretariats für Wirtschaft gebildet. Jetzt sollen endlich für alle Seiten akzeptable Arbeitszeitregelungen gefunden werden.

Besteht aber nicht die Gefahr, wenn alle Interessengruppen mit den Kompromissen leben können, dass die grundlegenden Organisationsprobleme dann wieder einmal auf Eis
gelegt werden?
Diese Gefahr besteht tatsächlich. Aber ich habe die Hoffnung, dass in einer Situation, in der es nicht dauernd zu Reibungen kommt, der Nährboden besser bereitet ist, die Optimierung betrieblicher Abläufe in Angriff zu nehmen. Schliesslich dürfte auch das veränderte Selbstverständnis der jungen Ärztinnen und Ärzte diesem Zukunftsprojekt mehr Erfolg verschaffen.  

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