«der arbeitsmarkt» 12/2005

Wanderin zwischen Welten

Ursula Mesmer verbindet ihre Neugier auf fremde Welten mit sozialem Engagement. Für «Ärzte ohne Grenzen» war die Krankenschwester in mehreren
Krisenherden im Einsatz. Die 34-Jährige ist Fachfrau für kontrolliertes Risiko.

Ursula Mesmers Wohnung, die eigentlich ein grosses Zimmer ist, ist ein Provisorium. Nicht, dass sie ungemütlich wäre. Im Gegenteil. Arbeitstisch, Regale und Zimmerpflanzen unterteilen den Raum in wohnliche Bereiche, Couch und zahlreiche Kissen laden zum Fläzen ein, der Blick vom Kaffeetischchen am Terrassenfenster in den üppigen Garten beruhigt. Nein, die Wohnung im Haus ihrer Mutter ist ein Provisorium, weil Ursula Mesmer des Öftern monatelang nicht zu Hause ist. Im Frühling dieses Jahres arbeitete sie für drei Monate im Osten Kongos für ein Frauengesundheitsprojekt von «Médecins sans frontières» (Ärzte ohne Grenzen, MSF). Zuvor war die Aargauerin für MSF im Südsudan und für den Malteser Auslanddienst in Westafghanistan.
Drei Einsätze in Kriegs- und Krisenregionen, in denen auch schon humanitäre Helfer entführt worden sind – Ursula Mesmer scheint das Risiko geradezu zu suchen. «Herausforderungen faszinieren mich», gibt sie zu.
Ihrer Grenzen und der Gefahren ist sie sich aber bewusst. Je höher das Risiko, desto grösser die Vorsicht. «Ich bin viel aufmerksamer und versuche, alles im Blick zu behalten.» Wenn die passionierte Laienschauspielerin erzählt, strahlt sie Souveränität und Offenheit aus. Ihre Worte unterstreicht sie mit ausladender
Gestik, ihr Lachen steckt an. Im Kongo hat ihre Überzeugungskraft vermutlich mehreren Menschen das
Leben gerettet: Auf einer Überlandfahrt wurde ihr MSF-Team eines Tages von jugendlichen Soldaten angehalten. Kindersoldaten, die oft unter Alkohol und Drogen gesetzt werden, gelten als äusserst unberechenbar. «Sie haben gezittert und waren extrem unruhig», erzählt Mesmer. «Ich habe nur noch instinktiv gehandelt. Dabei konnte ich mich wie eine Aussenstehende selbst beobachten.» Schliesslich liessen die Soldaten den MSF-Jeep passieren.

Gastfreundschaft und Herzlichkeit neben Leid und Verzweiflung

Ursula Mesmer war damals in einer mobilen Klinik in der Umgebung der Stadt Bunia (Provinz Ituri) unterwegs. Die Gegend war kurz zuvor von heftigen Kämpfen erschüttert worden, zehntausende Menschen mussten
fliehen. Mesmer fuhr mit ihrem Team in Gesundheitszentren der Region, wo sie eine Sprechstunde speziell für Frauen anbot und lokales Personal schulte. Ärzte ohne Grenzen sind die einzige Organisation, die in Ituri mit einem solch spezifischen Hilfsangebot für Frauen arbeitet. Neben einer Geburtsabteilung im zentralen Spital in Bunia und gynäkologischen Sprechstunden beinhaltet das Projekt vor allem die Betreuung von vergewaltigten Frauen. Das ist bitter nötig: Allein in Bunia suchten im Durchschnitt jeden Tag acht Vergewaltigungsopfer das Spital auf.
Die missbrauchten Frauen werden gegen Geschlechtskrankheiten behandelt, erhalten teilweise eine HIV-Prophylaxe sowie psychologische Betreuung. Lokale MSF-Mitarbeiterinnen dokumentieren den Tathergang für allfällige künftige juristische Schritte. Ursula Mesmer hat nicht alle Geschichten dieser geschundenen Frauen gelesen. «Da musste ich mich abgrenzen.» Sich immer wieder ähnelnde Schicksale von Krankheit, Gewalt, Vertreibung und Tod – für die Helferin aus der Schweiz kein Anlass zur Resignation. Zwar handle es sich bei der humanitären Aktion nur um einen Tropfen auf den heissen Stein. «Doch für diese eine Person ist der Nutzen in diesem einen Moment gross.»
Dazu kommt, dass sie in ihren Einsätzen keineswegs nur mit Leid und Verzweiflung konfrontiert war. Mesmer streicht auch die schönen Seiten heraus: Die Nähe und das Vertrauen zu spüren, die durch die enge Zusammenarbeit im Team entstehen. Die Gastfreundschaft und Herzlichkeit der lokalen Angestellten gegenüber ausländischen Mitarbeitern und Patientinnen zu erleben. Den Willen der Gewaltopfer zu bewundern, die ihr Leben möglichst zuversichtlich weiterführen. Oder ein Kind auf die Welt zu bringen: Bei der Visite einer hochschwangeren Patientin sah sich Ursula Mesmer unverhofft in die Rolle einer Hebamme gedrängt. Für Geburtsvorbereitungen blieb keine Zeit; in improvisierter Teamarbeit halfen Ursula Mesmer und ein Kollege der Mutter, den Buben gesund zu gebären.
Kontaktfreude und Empathie zeichneten Ursula Mesmer schon in ihrer Kindheit aus. Als einziges Kind ihrer Mutter Katharina in einer Elf-Familien-Siedlung in Niederlenz bei Lenzburg aufgewachsen, spielt sie mit Nachbarskindern jeden Alters und nimmt dabei immer eine verbindende Rolle ein. «Sie hatte nicht
eine beste Freundin, sondern immer gleich zwei», erinnert sich ihre Mutter. In der neu eröffneten Rudolf-Steiner-Schule kümmert sie sich liebevoll um ihren lernschwachen Pultnachbarn. Von ihrem Vater, einem Architekten, wird sie in den Ferien auf kulturhistorische Reisen mitgenommen. «Steinhaufen besichtigen», scherzt sie heute – doch vielleicht der Anfang ihrer Neugier auf fremde Kulturen. Zu ihren vier
Halbgeschwistern, die zwölf bis zwanzig Jahre älter sind, hat sie etwas seltener Kontakt. In der Jugend kommt die Abenteuerlust hinzu. Höhlenforschung, Kletterkurs. Als 19-Jährige reist sie – zum Missfallen ihrer Mutter – alleine nach Simbabwe, um Freunde zu besuchen. Auf Anhieb fühlt sie sich wohl, im Bus singen die Passagiere, Ursula Mesmer bestaunt Land und Leute. Seither lässt sie Afrika nicht mehr los. Drei Monate lang radelt sie alleine durch Madagaskar und kommt dabei nach eigenem Bekunden an ihre körperlichen und mentalen Grenzen.

Tausende von Flugkilometern für einen spontanen Besuch

Auch zur Welt der Medizin hat sie früh Kontakt. Als sie drei Jahre alt ist, bringt ihre Mutter sie einen Tag pro Woche in der Krippe des Spitals Baden unter. Dann macht sich Katharina Mesmer als Atemtherapeutin selbständig und berät vor allem Schwangere im Hinblick auf die Geburt. Ursula wohnt bisweilen den Therapiestunden bei. So liegt die Berufswahl nahe: Ursula Mesmer wird diplomierte Pflegefachfrau. Seit zehn Jahren arbeitet sie nun auf der Unfallchirurgie im Universitätsspital Zürich, zunächst mit Vollzeitpensum, seit einigen Jahren mit einer flexiblen jährlichen Mindestarbeitszeit, damit Auslandeinsätze möglich sind. Die Flexibilität kommt beiden Seiten zugute: Wenn im Spital Not an der Frau ist, springt Mesmer ein. Als eine der routinierten Pflegekräfte bringe sie in hektischen Situationen die notwendige Ruhe ein, sagt eine Arbeitskollegin.
Auf der unfallchirurgischen Abteilung findet moderne Medizin in veralteten Räumlichkeiten statt. Der abgenutzte Linoleumboden in den Gängen wirkt schäbig. Das Stationszimmer E Ost II ist klein, manchmal treten sich Frühschichtlerinnen und Anästhesisten auf den Füssen herum. Der Flügel befindet sich zurzeit im Umbau, während der Bautätigkeit ist es lärmig. Die Arbeit muss trotzdem normal weitergeführt werden. Zu tun gibt es immer etwas. Neun der elf Betten sind belegt. Allein zwei Stunden war Ursula Mesmer heute damit beschäftigt, den Verband eines Verbrennungsopfers zu wechseln – eine heikle und für den Patienten schmerzhafte Angelegenheit, die besonderes Einfühlungsvermögen benötigt. «Danach ist man erledigt», meint sie. Als Belohnung empfindet sie die Dankbarkeit der Patienten. Dies gehöre zu den schönsten Erlebnissen dieser Arbeit. Jetzt tippt sie ihre Rapporte in den Computer. Die Aufdatierung der Dokumentationen, welche die früheren mündlichen Rapporte ersetzt haben, nimmt einen respektablen Teil der Arbeitszeit in Anspruch.
Mit 29 Jahren bewirbt sie sich bei Ärzte ohne Grenzen. Das Ende einer langjährigen Beziehung mag bei diesem Entscheid eine Rolle gespielt haben. Um eine Flucht handelt es sich aber nicht. Um ein Helfersyndrom auch nicht. «Im Vordergrund stand eindeutig die Neugier», sagt Ursula Mesmer, die ein «abgelöschtes Leben» als ihre grösste Angstvorstellung bezeichnet. «Ich habe mir gesagt: Jetzt oder nie!» Nach Schulungen am Tropeninstitut kommt sie in eine entlegene Gegend im kriegsgeplagten Südsudan, um an einem Projekt zur Bekämpfung der Schlafkrankheit teilzunehmen. «Es war ein enormer Kulturschock. Nach drei Wochen wollte ich nur nach Hause.» Knall auf Fall ist sie für ein Spital mit 60 Betten, drei Schwestern und einigen Hilfskräften verantwortlich. Trotz der medizinischen Versorgung durch MSF sterben jede Woche mehrere Schwerkranke.
Doch Ursula Mesmer wächst in die Aufgabe hinein, führt Ausbildungen für das lokale Personal durch,
managt die strikt rationierte Medikamentenabgabe – und schlachtet entsprechend den Landessitten erstmals in ihrem Leben ein Huhn. Als die Sudanesinnen hören, dass Schweizer Konsumenten nicht lebendes, sondern totes Geflügel kaufen, fragen sie erstaunt, wie man denn wisse, ob es ein gutes Huhn gewesen sei.
Daneben schliesst Mesmer Freundschaften, die trotz unregelmässiger Kontakte ein Leben lang halten. Den langjährigen Expatriates (internationalen humanitären Mitarbeitenden), unter denen es «schillernde Figuren» gebe, tritt sie anfänglich mit Skepsis entgegen. Heute, nach drei Einsätzen, fühlt sie sich ein wenig dieser Gemeinschaft zugehörig. Einige Indizien sprechen dafür: Für ein spontanes Treffen nimmt eine Freundin, die beim IKRK tätig ist, schon mal tausende Flugkilometer in Kauf. Wenn Ursula Mesmer von einem Einsatz zurückkehrt, belächelt sie die hiesigen Konflikte nicht mehr als unbedeutende Luxusprobleme, sondern geniesst es einfach, dass Feierabend tatsächlich Arbeitsschluss bedeutet. Dachte sie früher: «Oje, die Schweiz», so spürt sie heute ein Heimatgefühl und erfreut sich an Bergwanderungen und Skitouren.

Hohe Ansprüche an einen zukünftigen Partner

Ganz spurlos gehen die Auslandaufenthalte nicht an Ursula Mesmer vorbei. Kontakte zu einigen Freundinnen sind abgebrochen, sie geht seltener aus, ihr Gesichtsausdruck ist, so glaubt ihre Mutter, ernster geworden. Dennoch steht für die Wanderin zwischen den Welten ausser Frage, dass sie wieder auf einen internationalen humanitären Einsatz geht. Um dafür noch besser gerüstet zu sein, schliesst sie derzeit ihr Europäisches Studium in Internationaler Gesundheit ab. Sie kann sich auch vorstellen, einige Jahre in Afrika zu leben, allenfalls mit Familie. Nach eigener Aussage will sie sich möglichst viele Optionen offen halten. An einen Partner stellt sie allerdings hohe Ansprüche. Mit jemandem, der ausschliesslich in der Schweiz leben will, «wäre es schwierig», lacht sie.

Zur PDF-Version: