«der arbeitsmarkt» 06/2006

WIR sind auch Geld

Nur die wenigsten Schweizerinnen und Schweizer wissen über die zweite offizielle Währung des Landes wirklich Bescheid. Das exklusive WIR-Geld ist für viele KMU ein Segen, kann aber bei unsachgemässer Handhabung zum Klotz am Bein werden.

«WIR ist, als ob einem die Pest angehängt würde. Man kommt dadurch zwar an zusätzliche Aufträge, doch die WIR wird man kaum los.» Dies sagt die Bereichsleiterin Finanzen eines mittelständischen Unternehmens, die weder ihren noch den Namen ihres Arbeitgebers gedruckt sehen möchte. «Dank WIR ist unser Umsatz um zwanzig Prozent gestiegen», sagt dagegen Arlette Glättli vom Reisebüro Accotravel in Affoltern am Albis. Rafael Ittig aus Mörel im Wallis macht mit seiner Weinhandlung sogar achtzig Prozent des Umsatzes in WIR und hat «damit sehr gute Erfahrungen gemacht».
Die Meinungen sind geteilt. Und trotzdem haben Glättli, Ittig und die Finanzbereichsleiterin eines gemeinsam: Sie gehören zu jener Minderheit, die Erfahrung mit WIR hat. Die Mehrheit der Bevölkerung weiss zwar, dass es sich bei WIR um eine Währung handelt. Was es damit auf sich hat und wie das System funktioniert, ist jedoch kaum bekannt.
«Ein WIR ist ein Schweizer Franken, der nur im System der WIR-Teilnehmer ausgegeben werden kann», fasst Hervé Dubois, Abteilungsleiter Kommunikation der WIR Bank, das Ganze in einem Satz zusammen. WIR ist Giralgeld, das nur als Guthaben auf Bankkonten existiert. Hinter jeder Zahlung in WIR steht ein Austausch von Gütern oder Dienstleistungen. Bargeld gibt es nicht. Seinen Ursprung hat WIR in der Zeit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Um nicht von knappem und teurem Geld abhängig zu sein, griffen 16 findige Geschäftsleute aus Zürich zur Selbsthilfe und gründeten 1934 die Wirtschaftsring-Genossenschaft WIR (seit 1998 WIR Bank). Diese emittiert die Währung WIR, die auch heute noch eins zu eins an den Franken gebunden ist. Die Teilnehmer, ausschliesslich kleinere und mittlere Unternehmen, beziehen einen günstigen Kredit in WIR und kommen so zu finanziellen Mitteln.
Das System lehnt sich an die Freigeldtheorie des deutsch-argentinischen Kaufmanns Silvio Gesell an, die unter anderem besagt, dass Kapital nicht verzinst werden soll, damit es frei zirkuliert, statt gehortet zu werden. Wer WIR besitzt, ist deshalb bestrebt, sie wie eine heisse Kartoffel möglichst schnell wieder aus der Hand zu geben. Dadurch wird der Geldfluss erhöht und der Handel innerhalb des Rings angekurbelt. Das ist bis heute der Sinn von WIR geblieben. «WIR ist gebundene Kaufkraft, aus der sich systembedingte Solidarität ergibt», beschreibt Hervé Dubois den Kreislauf.

Teilnehmende sind sowohl Käufer als auch Verkäufer

Schon 1936 erhielt der Wirtschaftsring eine Banklizenz. Die wäre heute nur schwer zu bekommen, aber damals sah die Sache anders aus. «Der Wirtschaftsring hat gar nicht um eine Banklizenz angefragt. Die Behörden wollten ihn auf diese Weise wohl unter ihre Aufsicht stellen, da ihnen das System nicht ganz geheuer war», sagt Hervé Dubois. Sorgen brauchten und brauchen sich Staat und Nationalbank aber nicht zu machen. WIR ist zwar eine eigene Währung, die aber als Ergänzung zum Franken funktioniert und diesen keineswegs ersetzen soll. Die WIR-Guthaben machen nur ungefähr ein Prozent der Geldmenge in der Schweiz aus. Das ist zu wenig, um die Geldpolitik der Nationalbank beeinflussen zu können.
Vor zwei Jahren wurde WIR von der Weltbank als offizielle Währung anerkannt und ISO-zertifiziert. Sie erhielt in Entsprechung zum Franken (CHF) den dreistelligen Buchstabencode CHW. Damit wurde die Schweiz zum einzigen Land mit zwei anerkannten Währungen. Ein Unikat ist auch die WIR-Karte (Kredit und Debit), die zwei Währungen kombiniert.
Dank der Banklizenz hat das WIR-System bis heute überlebt. Es basiert auf zwei Pfeilern, der WIR-Verrechnung und dem WIR-Kredit. Ein Beispiel: Ein Unternehmer nimmt bei der genossenschaftlich organisierten WIR Bank gegen bankübliche Sicherheiten, etwa Immobilien, einen Bau-, Hypothekar- oder Investitionskredit auf, einen Teil davon in WIR. Damit bezahlt er Bauunternehmer, Handwerker und Lieferanten, die ebenfalls WIR-Teilnehmer sind. Er stellt einen WIR-Cheque aus, den der Rechnungssteller an die WIR Bank schickt. Diese nimmt die Umbuchung oder eben Verrechnung des entsprechenden Betrages zwischen den WIR-Konti der Teilnehmer vor. Seit einigen Jahren ist die Verrechnung auch über die WIR-Karte und Electronic Banking möglich.
Damit der Unternehmer erwägt, am System teilzunehmen, muss ihm daraus natürlich ein Vorteil entstehen. Genau genommen sind es sogar zwei: Erstens sind WIR-Kredite viel billiger als solche in Schweizer Franken. In den ersten drei Jahren beträgt die Verzinsung nur ein Prozent. Die WIR Bank kann ihre Kredite deshalb so billig anbieten, weil sie die Geldmittel selber schöpft und ihr somit keine Refinanzierungskosten entstehen. Dank schlanker Strukturen, nur sieben Filialen mit knapp 200 Mitarbeitenden, kann sie ihre Kosten tief halten. «Ausserdem verkaufen wir nur wenige und einfache Produkte, so dass wir ohne teures Know-how auskommen», erklärt Hervé Dubois. Für ausgefeilte Finanzprodukte, wie sie zum Beispiel in der Vermögensverwaltung zum Zug kommen, besteht kein Bedarf, da sich auch die Kundschaft aus den so genannt «einfachen Leuten», den Gewerblern, rekrutiert.
Der zweite Vorteil besteht darin, dass unter den WIR-Teilnehmern Geschäftsbeziehungen entstehen, die sonst nicht zustande kämen. WIR-Verrechnung ist nicht nur bargeldloser Zahlungsverkehr, sondern auch «ein Marketinginstrument für KMU», erklärt Hervé Dubois.
«Wir wurden vor zwanzig Jahren WIR-Teilnehmer. Dadurch erreichten wir plötzlich Kunden aus der ganzen Schweiz und machten zwanzig Prozent mehr Umsatz», bestätigt Arlette Glättli von Accotravel. Immerhin 60000, etwa ein Fünftel der Schweizer KMU, sind WIR-Verrechner. Die Zahl der Teilnehmer ist seit zwanzig Jahren mehr oder weniger konstant. Den jährlich ungefähr 5000 Abgängen infolge Konkurs, Geschäftsaufgabe oder Austritt stehen meist ebenso viele Neuzugänge gegenüber. «Wenn plötzlich alle mitmachen würden, wäre dieses Instrument natürlich tot», gibt Dubois zu bedenken. Beim heutigen Stand dürften es aber durchaus noch einige mehr sein.
Neben der Mitgliederzahl muss die WIR Bank auch die Geldmenge im Auge behalten. «Das WIR-System ist wie eine kleine Volkswirtschaft, und als solche müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu viel WIR emittieren, weil uns sonst Inflation droht», erklärt Hervé Dubois. Das war in den 60er- und 70er-Jahren der Fall. Teilnehmer, die auf ihren Guthaben sitzen blieben, tauschten diese vermehrt mit Abschlag gegen Franken ein. Die Genossenschaft verbot in der Folge diesen Handel. Wem heute WIR-Handel nachgewiesen wird, dem droht neben dem Ausschluss eine Konventionalstrafe. Dies war im vergangenen Jahr laut Geschäftsbericht der WIR Bank 74 Mal der Fall. WIR-Ankäufer, die mit Kleininseraten werben, sind in der Regel nicht sündige Verrechner, sondern Treuhänder, die als Nichtmitglieder nicht den Geschäftsbedingungen unterstehen und legal handeln.
Da WIR im Stillstand keine Früchte trägt, ist jeder Teilnehmer sowohl Käufer als auch Verkäufer. Er platziert einerseits die WIR aus seinem Kredit, muss aber auch WIR von anderen Teilnehmern in Zahlung nehmen. Gibt es keine Vertragspartner zu bezahlen, baut er sein Guthaben über Spesen (Restaurants nehmen bis zu hundert Prozent WIR), den Kauf von Büromaterial, einer Ferienreise, von Kleidern oder des neuen Autos ab. Über das Angebot anderer Teilnehmer informiert er sich im vier Mal pro Jahr erscheinenden WIR-Katalog oder über das Verzeichnis der Teilnehmer. Oder er besucht eine der vier WIR-Messen. Dort kann er sich überzeugen, dass sich entgegen der landläufigen Meinung mit WIR nicht nur Steinbrunnen oder Keramikfliesen erwerben lassen.
Für den Walliser Weinbauern Rafael Ittig lohnt sich der Auftritt an der Messe. An der WIR EXPO Aargau in Wettingen scharen sich Mitte Mai die Besucher nicht nur zum Degustieren um seinen Stand. «Ich verkaufe den grössten Teil meiner Produktion an der Messe», sagt Ittig. Das sei sehr vorteilhaft, denn für den Verkauf habe er sonst kaum Zeit. Er ist neben dem Weinbau auch in der Landwirtschaft und in Immobilien tätig. In diesen Bereichen kann er die eingenommenen WIR wieder platzieren. Rafael Ittig ist diesbezüglich ein vorbildlicher WIR-Verrechner.

Verkehrtes Budget: Ausgaben bestimmen über Einnahmen

Wer klagt, seine WIR nicht loszuwerden, hat schlecht geplant oder sich ungenügend informiert, bezeugen denn auch die Insider. «Wer mit WIR geschäften will, muss bereit sein, sich damit auseinander zu setzen, und darf den Mehraufwand nicht scheuen», erläutert Hervé Dubois. So muss ein WIR-Verrechner zum Beispiel zwei Budgets führen: eines in Franken und eines in WIR. Für das WIR-Budget gilt ein ungewohnter Ansatz: «Ich muss wissen, wie viel ich platzieren kann, bevor ich entscheide, wie viel ich einnehmen will», erklärt Dubois. Damit die Verrechner nicht auf ihren Guthaben sitzen bleiben, betreibt die WIR Bank einen beratenden Aussendienst und organisiert Workshops. Thema Nummer eins ist dabei immer die Absatzberatung.
KMU können WIR auch an ihre Mitarbeitenden weitergeben. Dies geschieht in der Regel dadurch, dass sich diese Gratifikationen in WIR auszahlen lassen. Rund 20000 KMU-Angestellte machen davon regelmässig Gebrauch. Als stille Teilnehmer können sie so zu WIR-Verrechnern werden. Natürlich wollen auch sie dabei ein gutes Geschäft machen. Der Arbeitgeber der eingangs zitierten Bereichsleiterin Finanzen macht zwei bis drei Prozent des Umsatzes in WIR und verkauft diese auch vergünstigt an die Mitarbeitenden. Für hundert Franken gibt es 130 WIR. Was laut Genossenschaft illegal ist, sei mit der WIR Bank abgesprochen, sagt die Frau. Solche Absprachen gibt es aber laut Hervé Dubois nicht. Der Handel werde generell nicht geduldet.

Öffentliche Hand ist von WIR-Verrechnung ausgeschlossen

Private, sagt die Frau weiter, «bringen WIR sehr gut los. Man muss etwas suchen, aber es lohnt sich.» Ihre Mitarbeiterinnen sind nicht unbedingt derselben Meinung. «Das Angebot im Katalog ist schon gross, aber die Anbieter sind Fachgeschäfte und gehören eher zu den teureren. Sinn macht es, wenn man grössere Anschaffungen macht oder ausbaut», sagt die eine. Eine andere hat aber auch beim Verhandeln mit einem Lieferanten für Bodenplatten schon gegenteilige Erfahrungen gemacht: «Als ich eine Teilzahlung in WIR vorschlug, trat er vom vereinbarten Kostenvoranschlag zurück und wollte auch nicht mehr gratis liefern. Ich habe dann ausgerechnet, dass es mich billiger kommt, wenn ich in Franken bezahle und die Ware selber abhole», erinnert sie sich. Diese Erfahrung bestätigt die Kollegin aus der Finanzabteilung: «Wenn man einen Handwerker zwischen Teilzahlung in WIR und zwei Prozent Skonto wählen lässt, entscheidet er sich in der Regel für den Rabatt.»
Gemäss Geschäftsbedingungen müssen WIR-Verrechner auf die ersten zweitausend Franken mindestens 30 Prozent WIR nehmen. Alles Weitere ist Verhandlungssache. Eine Bezahlung in 100 Prozent WIR ist selten möglich, denn auch die am System teilnehmenden KMU sind auf die Landeswährung angewiesen. Löhne dürfen laut Gesetz nur in Franken ausbezahlt werden, und auch der Fiskus akzeptiert keine WIR. Interessant ist das System für Unternehmen, die weder mit der öffentlichen Hand Geschäfte machen noch im Export tätig sind. Man stösst im Verzeichnis auf Zahnärzte und Drogisten, aber nicht auf Ärzte oder Apotheken, da diese mit den Krankenkassen abrechnen müssen.
Ansonsten finden sich Betriebe aus allen Branchen. Das Baugewerbe generiert gut dreissig Prozent des gesamten WIR-Umsatzes von 1,7 Milliarden Franken pro Jahr, knapp dreissig Prozent entfallen auf den Detailhandel. Es folgen die Gastronomie, die Industrie und der Autohandel, aber auch Psychologen und Wahrsager geschäften mit der zweiten Landeswährung.
Offenbar sahen diese es voraus: Mit WIR hat man nicht plötzlich die Pest am Hals.
Zur PDF-Version: