«der arbeitsmarkt» 01/2006

Vom Nationenhaus zum interkulturellen Wohnraum

Gewandelte Institution Das Kinderdorf Pestalozzi in Trogen feiert im Jahr 2006 seinen 60. Geburtstag. Heute leben dort nicht mehr Kriegswaisen, sondern Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die individuelle Förderung benötigen.

Spielende Waisenkinder aus Afrika oder Asien, die mit ihrem Lachen die Herzen der Betrachter berühren. An solche Bilder erinnert man sich, wenn vom Kinderdorf Pestalozzi in Trogen die Rede ist. Doch wie sieht es heute aus? Der Dorfplatz ist menschenleer, weit und breit keine herumtollenden Kinder mit lachenden Gesichtern. Kinderspielzeuge sind ebenfalls nirgends zu sehen. Die Zufahrtswege zu den Häusern sind vom herbstlichen Laub gesäubert. Das Dorf wirkt sauber und ordentlich – fast ein wenig zu ordentlich für ein Kinderdorf. Die Appenzeller Holzhäuser, deren Fenster mit Geranien verziert sind, präsentieren sich dafür freundlich und warm vor der sonnigen Herbstkulisse. Der nichts ahnende Besucher könnte sich in irgendeinem appenzellischen Dorf wähnen.
Am 28. April 1946 wurde im Dorf der erste Grundstein gelegt. Die ersten Kinder stammten aus den Kriegsgebieten Europas. Es waren Waisen, deren Eltern im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen waren. Damals lebten bis zu 300 Kinder aus ganz Europa im Kinderdorf. Zu Beginn wohnten sie in Nationenhäusern, das heisst, jede Nation hatte ihr eigenes Haus. So genannte Hauseltern betreuten die Waisen und lebten mit ihnen zusammen.

Klassenzimmer mit Flügel

Heute kümmern sich ausgebildete Sozialpädagogen um die Kinder und Jugendlichen. Im Gegensatz zu früher gibt es – mit Ausnahme des Tibeterhauses – keine Nationenhäuser mehr. Interkulturelles Wohnen steht im Vordergrund: Die Jugendlichen sollen lernen, andere Kulturen zu respektieren. Im gesamten Kinderdorf leben heute noch dreissig Kinder, die nicht nur aus Europa stammen. Die meisten von ihnen leben aber mit ihren
Angehörigen in der Schweiz. Viele wurden sogar hier geboren. Die Mehrzahl sind keine Waisen. Sie kommen aus sozial benachteiligten Familien und haben eines gemeinsam: Sie sind Kinder in Not, die einen stationären Platz mit individueller Förderung benötigen.
Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi unterstützt Projekte im Ausland und bietet in der Schweiz drei Programmbereiche an:
Neben interkulturellem Wohnen sind es der interkulturelle Austausch und die interkulturelle Weiterbildung. Jugendliche aus der Schweiz können die interkulturelle Vorlehre (siehe Kasten) besuchen. Sie ist für Jugendliche konzipiert, die nach der obligatorischen Schulbildung keine Lehrstelle finden konnten. In der Vorlehre haben sie die Möglichkeit, sich persönlich, schulisch und beruflich weiterzuentwickeln. Im Moment absolvieren vier Jugendliche die Vorlehre im Kinderdorf Pestalozzi. Sie arbeiten zwei Wochentage in einem der in Trogen angesiedelten Betriebe. An drei Tagen besuchen sie die Dorfschule.
Von aussen wirkt das Gebäude wie jeder andere Schulkomplex: gepflegt und funktional. Doch das Klassenzimmer der Vorlehrlinge ist alles andere als eine konventionelle Lernstätte. Im hinteren Teil des Zimmers stehen ein grosser schwarzer Flügel und runde Holztische mit kleinen Hockern. Das Zimmer ist hell und wirkt freundlich. Pflanzen und bunte Zeichnungen zieren den Raum. Die Computerplätze, die Arbeitstische und die Wandtafel erinnern an ein Klassenzimmer.

Gemeinsames Wochenende in Venedig

Der Lehrer Nino Moricca sagt, dass es in der Vorlehre darum gehe, die Fäden von neun Jahren obligatorischer Schulbildung zusammenzuziehen und Kompliziertes einfach zu erklären.
Auf der hinteren Wand ist ein selbst gemaltes Bild aufgehängt: Das indische «Om» strahlt den Betrachter in prachtvollen Farben an. «Om» steht für Anfang und Ende und bildet in sich eine Einheit. «Nach neun Jahren Unterrichtserfahrung interessiert mich die ganzheitliche Sichtweise», betont der junge Lehrer. Diese Sichtweise versucht er den Jugendlichen nicht etwa durch Theorie, sondern durch seine persönliche Einstellung zu vermitteln.
In der Klasse sind heute nur drei Schüler – der vierte Vorlehrling macht gerade ein Praktikum. Die Jugendlichen sind erst kürzlich von einem gemeinsamen Wochenende in Venedig zurückgekehrt und schreiben nun ihre Impressionen nieder.
«Wie hiess schon wieder diese Piazza beim Fluss, Herr Lehrer?», fragt ein Schüler, ohne vorher die Hand aufgestreckt zu haben. Respekt gegenüber dem Lehrer muss hier nicht mit Disziplinarmassnahmen erzwungen werden. Die Jugendlichen schätzen den unkonventionellen Unterrichtsstil. Die Klassen werden bewusst klein gehalten, damit der Lehrer auch individuell auf die Jugendlichen eingehen kann.
Während zwei der Schüler am Computer arbeiten, sitzt Roger an einem der Arbeitstische. Seine elegante Kleidung fällt auf: schwarze Falthosen und ein weisses Hemd, dazu eine gestreifte Krawatte und blitzblank polierte Schuhe. Ob er jeden Tag so aufgeputzt in die Schule komme? Am Morgen war er im «Appenzellerhof», einem sehr schicken Hotel, am Schnuppern. «Sie haben mir gesagt, dass ich der aktivste Schnupperlehrling war, den sie je hatten», erzählt er stolz. Schnupperlehren und Praktika gehören zum Ausbildungsprogramm der Vorlehre. Roger gefällt der Umgang mit Menschen. Einen Nachteil sieht er aber in den unregelmässigen Arbeitszeiten. Da würde ihm nur wenig Zeit für Freunde bleiben. Roger weiss, was er will: Sein Traumjob ist im Verkauf.
In der Vorlehre werden auch erste Arbeitserfahrungen gesammelt. Zu Beginn ihres Aufenthaltes durchlaufen die Jugendlichen ihre handwerkliche Lehre in der Schreinerei. Der Lehrmeister Urs Hobi versucht den Jugendlichen ein Arbeitsverhalten beizubringen, das sie auch nach der Vorlehre an den Tag legen können. Es sei wichtig, dass die Jugendlichen lernten, pünktlich zu sein, genau zu arbeiten und Durchhaltewillen zu zeigen.
Gewöhnlich dauert ein Einsatz drei bis vier Wochen. Danach haben die Vorlehrlinge die Möglichkeit, in einen anderen Betrieb des Dorfes zu wechseln.
Die Gleichheit der Geschlechter ist auch im Kinderdorf Pestalozzi ein Thema: Die jungen Männer müssen sich in «Frauenberufen» genauso bewähren wie die jungen Frauen in typischen «Männerberufen». Das fällt nicht immer allen gleich leicht. Hobi sagt, die jungen Frauen müsse er für die Arbeit in der Schreinerei oft zusätzlich motivieren. Das gelinge ihm aber immer wieder. Kein Wunder, der Lehrmeister im gelben T-Shirt – mit aufgedruckter Maus –  hinterlässt einen sympathischen Eindruck. Er mag die Arbeit mit den Jugendlichen:  «Wenn ich Zeit habe, höre ich den Jugendlichen gerne zu. Oft genügt das, denn sie wissen selbst genau, wo das Problem liegt.»
Hobi versteht die Arbeit in der Schreinerei als Therapie. Es liege ihm sehr am Herzen, dass die Jugendlichen wieder Vertrauen zu sich selbst und zu anderen gewinnen würden. Dann senkt er leicht den Kopf und bemerkt melancholisch: «Das Problem ist, dass sie sich oft minderwertig fühlen und dem Leben misstrauisch oder ängstlich gegenüberstehen.»

Selbständiges Handeln wird geübt

Die Jugendlichen lernen nicht nur im Unterricht oder im Betrieb, Selbstvertrauen aufzubauen. In den gemeinschaftlichen Wohnhäusern üben sie sich in eigenverantwortlichem und selbständigem Handeln. Jeder Jugendliche hat seinen Aufgabenbereich und ist verantwortlich für ein Ressort wie Essen, Freizeitgestaltung,
Finanzen, Unterhalt des Hauses, Garten sowie Moderation der Haussitzungen. Petra Hängge, seit zwei Jahren als Sozialpädagogin im Haus «Esperanza» angestellt: «In Konfliktsituationen versuche ich so Einfluss zu nehmen, dass die Jugendlichen lernen, ihr eigenes Verhalten wahrzunehmen.»
«Esperanza», das heisst Hoffnung. Von aussen unterscheidet sich das Haus kaum von den anderen Appenzeller Landhäusern im Kinderdorf. Der Innenraum erinnert ein wenig an ein Ferienhaus. Und obwohl alles im Haus seine Ordnung hat, schimmert in einem Raum auch jugendliche Unordnung durch. Das Aufenthaltszimmer im Untergeschoss wirkt nicht blitzblank aufgeräumt, dafür aber belebt und gemütlich. Die grünen Polstersofas sehen sehr bequem aus. Über dem TV hängt ein Graffiti-Bild mit der Aufschrift «Beats», auf dem Boden liegen eine Xbox und ein paar DVDs herum. Die Jugendlichen können sich ihre Zeit auch im Computerraum, im Musikzimmer oder im Pingpongraum vertreiben. Einzig die Raucherecke, die absichtlich neben dem
Abfall eingerichtet wurde, lädt nicht gerade zum Verweilen ein.

Eine Chance für jedes Kind

Nöldi raucht gerade eine Zigarette, draussen auf der Terrasse. Es ist strahlend schönes Herbstwetter. Der Vorlehrling hat sich einverstanden erklärt, uns sein Zimmer zu zeigen. An der Eingangstür sind Posters von Rock- und Reggae-Stars aufgehängt. Ein Aufkleber mit der Aufschrift «Gegen Rassismus» fällt auf. Im Innenraum sind weitere Poster von Film- und Musikstars zu sehen. Das Zimmer ist klein und sehr persönlich eingerichtet. Eine Wand ist voll beklebt mit Liebesbriefen der Freundin, die Nöldi im
Kinderdorf kennen gelernt hat. Jetzt lebt sie nicht mehr hier. Sie hat eine Praktikumsstelle gefunden. Den grossen Plüschtiger, den er ihr geschenkt hat, bewahrt er auf seinem Bett für sie auf. Ein gemeinsames Bild in rot-silbernem Rahmen steht auf seinem Schreibtisch. «Mein Herzenswunsch ist es, selbständig und frei
zu sein, genug Geld zu haben und mit meiner Freundin zusammenzuwohnen», sagt der Bursche. Die Idee des Kinderdorfes finde er gut. Im Haus habe es viele Betreuer, das gefalle ihm weniger gut. Er sei froh, sich jederzeit in sein Zimmer zurückziehen zu können. Die Freundin fehle ihm sehr.
Gefühlskonflikte und glückliche Momente gehören zum Alltag. Das hat sich im Kinderdorf nicht geändert – genauso wenig wie das Engagement der Betreuer. Mahmoud und Fatima Kassem, die einige Häuser weiter entfernt vom «Esperanza» wohnen, sind noch die einzigen Hauseltern im Kinderdorf. Ab nächstem Jahr werden auch sie nicht mehr mit den Kindern zusammenwohnen. Schwierige Situationen würde es immer geben. Sie haben aber eine Philosophie: «Für uns ist es wichtig, dass jedes Kind seine Chance bekommt. Falls die Chance nicht wahrgenommen wird, akzeptieren wir das, denn wir können kein Schicksal bestimmen.» Als palästinensische Flüchtlinge kamen sie 1985 aus dem Libanon nach Trogen. Sie waren von der Idee des Kinderdorfes sofort begeistert und sind es immer noch. «Für uns ist diese Idee in erster Linie eine Identitätsfrage und ein Lebensinhalt», sagt Mahmoud. Fatima betont, sie würde für die Idee sogar gratis arbeiten. Da beide als Flüchtlinge aufgewachsen sind, hätten sie immer schon eine besondere Beziehung zu den Kindern gehabt. Sie haben die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre und die vielen Wechsel im Kinderdorf nahe miterlebt.

Lebendige Idee

Heute sei vieles anders im Dorf, meint Mahmoud. Es gebe in der Schweiz genug Kinder, die in Not seien. Einen weiteren Unterschied sieht er darin, dass heute das interkulturelle Bewusstsein viel ausgeprägter ist als früher. Die Infrastruktur und die Organisation seien auch viel besser geworden.
Einen professionellen Eindruck hinterlässt das Kinderdorf schon. Doch was fehlt, ist das Leben auf den Strassen. Das alte Bild loszulassen, ist nicht einfach. Auf dem Sportplatz ist einzig Nöldi zu sehen, er fährt ein bisschen mit seinem Skateboard herum. Auf demselben Platz steht ein ausländischer Bus parkiert. Er hat Jugendliche aus Weissrussland für einen interkulturellen Austausch ins Kinderdorf gebracht. Ein paar Meter weiter ragt eine rote Skulptur als Zeichen des Friedens gen Himmel empor. Die Idee des Kinderdorfes Pestalozzi ist lebendig.

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