«der arbeitsmarkt» 07/2006

Väter zwischen Job und Kinderspielen

Work-Life-Balance Vater werden ist nicht schwer,
berufstätiger Vater sein dagegen sehr. Wie aktive Papis die Doppelbelastung von Job und Familie erleben.

Kurz vor Mittag ist der Musiker Matthias Gubler (43) von der Probe nach Hause gekommen, hat eine Pizza gebacken für seine drei Söhne – ausnahmsweise ohne Käse – und schon stehen Journalist und Fotografin vor der Tür. «Keine Homestory, bitte», hatte Matthias Gubler beim Vorgespräch gesagt. Nein, nur ein kleiner, neugieriger Blick in die Lebenswelt eines aktiven Vaters.
Die Familie wohnt in einem heimeligen Reihenhaus in Basel. Die beiden jüngeren Söhne, Isaak (5) und Hannes (7), haben sich gerade ein spezielles Haus eingerichtet, eines aus Karton. In ihrem engen Gehäuse johlen und schwatzen sie. Moritz, mit neun Jahren der Älteste, wartet gespannt auf die Fortsetzung der Schachpartie mit dem Vater. Dieser lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Christoph Wernli (37), RAV-Berater mit einem 60-Prozent-Pensum, wohnt mit seiner Familie ländlich idyllisch. «Wir haben von einem Flecken geträumt, wo wir die Kinder herumspringen und spielen lassen können.» Dieser Ort fand sich auf dem Areal der umgebauten «Schoggi»-Fabrik in Laupen ZH. Aus einem der grossen Fenster guckt Lena (5) neugierig den Besuchern entgegen und führt nachher auf dem Sofa eine Akrobatiknummer vor. Janna, fast vierjährig, hält sich noch im rückwärtigen Raum unter einer Bettdecke versteckt.

Qualitätszeit in der Patchwork-Familie

Kleine Paradiese bietet auch das Zürcher Seefeldquartier. In einem leicht verwinkelten Haus aus der guten alten Zeit hat Gion Caprez (40), Kadermitarbeiter bei der «Zürich», eine anstrengende Zeit als Vater von Sarah (7) und Charlotte (5) erlebt. Seine Frau hatte letztes Jahr ein Burnout und stand als Mutter während Monaten nicht zur Verfügung. 16 Stunden täglich war er für Kinder und Geschäft auf Achse. Aber jetzt hat sich die Lage etwas entspannt. Während die Töchter im Hintergrund herumwirbeln, sitzt Gion Caprez am Küchentisch bei einem Glas Weisswein und schwärmt von der modernen Patchwork-Familie. «Vieles habe ich meiner Schwägerin Jeanne zu verdanken, die im gleichen Haus lebt. Sie ist für die Kinder ein zweites Mami.» Die unvernetzte Kleinfamilie hält er für ein Auslaufmodell.
Bei André Müller (44), Personalberater bei Manpower, ist das Kinderzimmer wunderbar aufgeräumt und mit Spielsachen bevölkert, aber leer. Der Vater ist anwesend, die siebenjährige Aileen bleibt fern – so sieht das Leben des engagierten Wochenendpapis meist aus. André Müller bleibt für seine Tochter ein einfühlsamer Begleiter und Spielgefährte. An der Küchentür hat er alle Termine Aileens notiert. Die fortdauernden Kämpfe mit seiner ehemaligen Frau belasten ihn. Er träumt von einer Zeit, in der die Eltern alle Machtinteressen vergessen – zugunsten ihrer Kinder.
Zu wenig Zeit für die Kinder? Viele überlastete Mütter klagen über ein schlechtes Gewissen. Derartige Bekenntnisse kommen abwesenden Vätern selten über die Lippen. Managementberater sprechen von Quality Time, um jene seltenen Stunden aufzuwerten, die Spitzenkräfte ihren Kindern widmen. «Qualitätszeit» während drei Abenden pro Woche und spannende Weekendausflüge reichen vielen Vätern, um die Bindung zum Nachwuchs zu vertiefen.
Gion Caprez hätte einer von diesen Vätern werden können. Er hätte mit Sarah und Charlotte gespielt und dabei versucht, den komplexen Charakter der weiblichen Wesen zu ergründen. Mit den Buben des Bruders wäre er dem Fussball nachgerannt – und hätte niemals nach weiteren Erziehungspflichten verlangt.
Aber dann erlebte er etwas Seltsames, einen Zustand glücklicher Maximalbeanspruchung. Als seine Frau im letzten Jahr ihr bisheriges Leben zwischen Kindern, Jobs und Ehemann nicht mehr ertrug und während Monaten eine Auszeit benötigte, fühlte er sich gefordert. Sein Tagesprogramm: Am Morgen weckte er die Kinder, machte für sie das Morgenessen, fuhr sie zur Schule, ging an den Arbeitsplatz, kam nach Hause, kochte, brachte die Kinder zu Bett und arbeitete danach weiter für die Firma. Beim direkten Vorgesetzten fand er Verständnis. Seinen Kollegen erklärte er an einer Teamsitzung, warum er am Morgen später kam und am Abend früher ging. Wenn ein Kind krank war, konnte er sich auch daheim ins Netz der Firma einloggen und von dort aus mit Kunden in Amerika verhandeln.

Familienleben als Energiequelle

Strahlend sagt der auch heute noch doppelt belastete Vater: «Ich habe gemerkt, dass man sehr viel schafft, wenn es sein muss. Es waren 16-Stunden-Tage, um sieben ging es los, um 22 Uhr war es vorbei, dann hatte ich noch eine Stunde für mich. Für mich sind Kinder und Familie das Zentrale im Leben, wichtiger als der Job.»
Kinder sind fordernd und weniger diplomatisch als Arbeitskollegen. Wenn Christoph Wernli von seiner Arbeit heimkommt, beginnt das Bombardement: «Janna und Lena wollen unbedingt sofort Beachtung, Auskünfte, Zuwendung, obwohl ich völlig abgeschlafft bin.» Manchmal fühlt er sich schutzlos ausgeliefert. Er möchte sich eigentlich hinlegen. Wenn er den ganzen Tag daheim ist, nimmt er alles viel gelassener und geniesst es, in der Natur aufzutanken, den Kinder Beatles-Platten vorzuspielen oder im Liegestuhl einen Leseversuch zu machen, bis die Töchter wieder ihre Ansprüche anmelden. «Ich fühle mich aufgehoben in meiner
Familienwelt, schöpfe daraus Kraft.» Die Dosierung von Teilzeiterwerb und Vaterarbeit gibt ihm Zufriedenheit. Am Montag geht er immer sehr gern zur Arbeit nach Zürich und erlebt sich als produktiv und effizient.
«Für die Musik nehme ich mir Zeit. Aber Zeit für mich habe ich natürlich nicht», sagt Matthias Gubler mit einem ironischen Lächeln. Schwierig, sich vorzustellen, dass er jeweils sagen würde: «Tut mir leid Kinder, ich brauche jetzt meine Stunde Yoga.» Er braucht das offenbar weniger und versucht, seine Wünsche mit jenen der Kinder unter einen Hut zu kriegen. So würde er eigentlich gerne längere Velotouren machen – aber Velo fahren kann er auch mit den Söhnen. Bücher liest er in den Ferien. Ein Buch hat ihm Eindruck gemacht: «Die Suche nach dem verlorenen Glück» von Jean Friedloff. Die Autorin war zu den Frauen der Yequana-Indianer in Venezuela gegangen, um herauszufinden, warum dort die Babys nicht schreien. Sie fand heraus, dass die Kinder immer umhergetragen werden. Das Fazit von Jean Friedloff hat ihn überzeugt: «Sie schreibt, dass wir eigentlich genau wissen, was richtig ist, wenn wir auf unseren Instinkt vertrauen. Und doch war es
offenbar nötig, ein Buch zu schreiben, um dies den Eltern klar zu machen!»
Matthias Gubler fühlt sich glücklich. Die Familie gibt ihm, so vermutet er, Pepp und Kreativität für seine Arbeit als Musiker. Gerade hat der Saxofonist zusammen mit Heidi Gürtler und Hannes Fankhauser die CD «SULP swiss urban ländler passion»
veröffentlicht. Das Leben im Biotop Familie versorgt den aktiven Vater mit jener emotionalen Energie, die sich auch im Erwerbsleben positiv auswirkt. Die rechte, emotional geprägte Gehirnhälfte wirkt zusammen mit der linken, rational orientierten Gehirnhälfte – so kann man zumindest spekulieren. Auf Neudeutsch heisst dies Work-Life-Balance.  

Modernes Vaterbild und bleibende Werte

André Müller hat glücklichere Zeiten erlebt. Als Aileen vor sieben Jahren zur Welt kam, ging ein Lebenstraum in Erfüllung. Er verkürzte sein Arbeitspensum von 100 auf 60 Prozent. Der Monteur auf dem Bau wurde Nachtportier. Er arbeitete von abends 10 Uhr bis morgens um 7 Uhr, kam zum Morgenessen, dann schlief er bis um 13 Uhr, worauf seine Frau arbeiten ging. Am Abend kochte er, brachte die Tochter zu Bett und ging um 22 Uhr arbeiten. Von aussen betrachtet mag dies ein anstrengender Lebensrhythmus sein. Aber André Müllers Vaterfreuden waren intensiv und die Nachtarbeit störte ihn nicht.
Der Haussegen geriet in Schieflage, als er eine Vollzeitstelle im Aussendienst annahm. Nach der Arbeit holte er die Tochter von der Kinderkrippe ab, ging mit ihr auf den Spielplatz, machte das Nachtessen. Anschliessend badete er die Tochter oder erzählte ihr eine Geschichte, brachte sie zu Bett und erledigte seine Büroarbeiten. Von seiner Frau bekam er den Vorwurf zu hören, er widme ihr zu wenig Zeit. Die Beziehung ging in die Brüche, und André Müller zog aus der gemeinsamen Wohnung aus.
Autorität kam bei der 68er-Generation schlecht weg. Gestrenge Lehrer, verkniffene Väter waren out. Dann kamen die Rebellen selbst an die Schalthebel der Macht in Politik, Erziehung und manchmal sogar der Wirtschaft. Sie gaben sich locker, aber bestimmt und prägten ein neues Bild der Autorität: Wer etwas befehlen will, muss Gründe angeben – was für heutige Väter nicht immer einfach ist.
Matthias Gublers drei Söhne testen ständig, wie weit sie gehen und wie viel sie kriegen können. Sie rangeln um ihre Position in der Geschwisterhierarchie, wollen Aufmerksamkeit und ein grosses Stück vom Kuchen. «Jeder von ihnen weiss, dass er genügend bekommt, aber jeder möchte gern noch ein bisschen mehr.» Ein Lieblingswort von Isaak, dem Jüngsten, ist «unfair». Unfair ist schon, wenn er nicht sein bevorzugtes Dessertschälchen bekommt. Wenn der Vater mal ein Stoppsignal setzen muss, macht er dies klar und entschieden. «Meine Frau und ich haben zum Glück ähnliche Ansichten über Erziehung.» Strafen sind ihm zutiefst zuwider.
Für Gion Caprez ist der Vater ein Vermittler von Normen und Lebensprinzipien, wie es schon die traditionelle Pädagogik verlangte. Auf Selbständigkeit legt er grosses Gewicht. Er möchte, dass aus seinen Kindern gute und freie Menschen werden, die ihre Ziele nicht mit der Brechstange durchsetzen. Von der Mutter stamme, so Gion Caprez, die Erfahrung der Geborgenheit. «Ich weiss, das ist ein Klischee. Aber ich bin überzeugt: Nur wer diese körperliche und emotionale Grundsicherheit erfahren hat, kann sich in andere hineinversetzen – empathisch sein. Darum ist auch die Mutter so wichtig für das Kind.»
Die Kinder gehen dreimal wöchentlich in den Hort. Das schmerzt ihn ein bisschen, denn er wünschte sich eigentlich, dass Charlotte und Sarah noch mehr mit ihren Eltern zusammen wären. Gion Caprez und seine Frau haben sich nach der Krise auf ein neues Beziehungsarrangement verständigt.  Sie leben unter einem Dach und sorgen gemeinsam für die Kinder, aber betrachten sich als getrennte Ehepartner.  

Lobbyarbeit für gemeinsames Sorgerecht

Dass auch die Bedeutung des Vaters nicht unterschätzt werde, dafür engagiert sich André Müller seit seiner Trennung. Er wirkt in der Vereinigung «Verantwortungsvoll erziehende Väter und Mütter» (VeV) mit. Ihr dringendstes Ziel ist das gemeinsame Sorgerecht von Vätern und Müttern. Die Hoffnung ruht auf dem parlamentarischen Vorstoss des Schwyzer CVP-Nationalrats Reto Wehrli für eine Neuregelung des Sorgerechts. Die Vereinigung unterhält die Website www.vev-lu.ch und bietet Beratungen und Treffs an. Vätern in Krisensituationen will sie Lichtblicke vermitteln. «Auch Väter in Trennungssituationen brauchen mehr Hilfestellungen, vielleicht sogar Väterhäuser», fordert André Müller.
Für die rhetorischen Gefechte hat er sich mit Argumenten gewappnet. Es ist nämlich noch nicht für alle selbstverständlich, dass Väter bei der Erziehung wirklich gebraucht werden. André Müller studiert gerade eine Abschlussarbeit von Studentinnen der sozialen Arbeit. Diese geht auch auf die Unterschiede väterlichen und mütterlichen Spielens ein. Der Vater, so heisst es darin, fördere beim Spiel stärker die Neugier und den Durchhaltewillen seiner Kinder und ermutige sie, Ungewohntes auszuprobieren. Einer anderen Studie zufolge haben junge Männer, die ohne Vater aufwuchsen, oft Probleme mit ihrer männlichen Identität. Das berichtet die Zeitschrift «Psychologie heute» vom Februar 2006. Zum Teil sei dies direkt auf die «Leerstelle» und das fehlende Rollenvorbild zurückzuführen. Auch hätten viele der Studienteilnehmer von der Mutter ein negatives Männerbild vermittelt bekommen, heisst es unter Berufung auf eine Untersuchung an der Universität Hamburg. Problematisch sei die Beziehung zur Mutter auch dann, wenn die Knaben als Ersatzpartner behandelt würden.
Ist der heutige Mann nun aber bereit, mehr Vater und weniger Karrierist zu sein? In dunklen Stunden hat auch Gion Caprez über entgangene Karrierechancen sinniert. Er hat es dennoch gut im Vergleich zu einem geschiedenen Vater mit Bauarbeiterlohn und Unterhaltspflichten, und das weiss er. Als gut bezahlter Spezialist in einem internationalen Finanzkonzern sieht er keinen Grund zur Klage. «Bevor ich mit 33 Jahren zum ersten Mal Vater wurde, habe ich alle Gelüste ausgelebt und ich werde nie jammern müssen, ich hätte etwas verpasst.»  
Zurzeit geniessen doppelt belastete Väter noch kein grosses Prestige – obwohl sie auch besondere Kompetenzen ins Berufsleben einbringen können. Ein Wandel zum fürsorglichen Vater hängt laut RAV-Berater Christoph Wernli auch von der Bereitschaft der Mütter ab: «Viele Mütter klammern sich zu stark an ihre Kinder. Wir Männer spüren aber immer mehr, dass wir auch sehr gut allein einen Haushalt mit Kindern schmeissen können, mit Kochen, Waschen und Kranke-KinderPpflegen.» Mit weiblichen Qualitäten kann er sich gut anfreunden: «Meine Frau und ich sind eigentlich ein untypisches Paar. Sie hat mehr männliche Züge und ich habe einige weibliche Züge. Ich vermisse meine Kinder oft und habe, wissenschaftlich gesprochen, wirklich ein tiefes Bedürfnis nach der Brutpflege.»

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