«der arbeitsmarkt» 10/2007

Und wieder ertönt «Bandiera rossa»

Über 15000 Gewerkschafter forderten am 22. September in Zürich einen neuen Gesamtarbeitsvertrag im Baugewerbe. Ein Team des «arbeitsmarkts» marschierte mit.

Samstag, 22. September, 11.15 Uhr im Bahnhof Olten. Es ist ein warmer und sonniger Tag im Altweibersommer. Etwa 40 Gewerkschafter stehen schon parat für den Sonderzug nach Zürich. Noch sind sie in Zivil. «Aber es werden noch die knallroten T-Shirts und Schirmmützen der Unia verteilt», sagt René Lappert, Gewerkschaftssekretär und Administrationsleiter der Unia Region Aargau. Der 51-Jährige ist dafür verantwortlich, dass die Demonstranten aus der Region Aargau nach Zürich kommen. Man trifft sich in
Olten, weil viele aus Zofingen kommen, der Sonderzug wird später noch in Aarau und Lenzburg halten. «Wir wollen mit dieser Demonstration ein Zeichen in der Öffentlichkeit setzen», sagt der Gewerkschaftssekretär. Er wirkt selbstbewusst und gelassen.
Die Manifestation wurde von der Gewerkschaft Unia ausgerufen. Weitere Gewerkschaften schlossen sich diesem Aufruf an. Das Motto lautet: «Kein Lohndumping auf dem Bau. Wir verteidigen unseren Landesmantelvertrag». Der Schweizerische Baumeisterverband hat den Landesmantelvertrag (LMV) auf den 1. Oktober 2007 gekün-digt. Die Unia sieht diesen Schritt als Angriff auf die soziale Gerechtigkeit. Sie befürchtet eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sowie Lohndumping und Sozialabbau. Für die nationale Demonstration in Zürich hat die Unia aus der ganzen Schweiz kostenlose Extrabusse und Sonderzüge
organisiert. Die Demonstration beginnt um 13.30 Uhr am Limmatquai und endet mit Reden auf dem Helvetiaplatz.

Eine Zugfahrt ohne Klassengrenzen

Im Bahnhof Olten bilden sich mittlerweile kleine Grüppchen: Hier redet die italienische Fraktion, dort stehen Leute aus Ex-Jugoslawien beisammen, daneben diejenigen mit Schweizer Dialekt. Kistenweise Material
wird auf den Perron getragen: Sandwiches, Getränke, T-Shirts, Schirmmützen, Trillerpfeifen, Fahnen, Flugblätter mit Informationsmaterial.
Der Sonderzug fährt ein. Die Demonstrierenden machen sich in den 1.-Klasse-Waggons breit, obwohl sie nur ein Billett für die zweite Klasse haben. Überraschenderweise ruft der Kondukteur nicht zum Klassenwechsel auf, sondern zeigt sich solidarisch und zieht sogar ein Unia-Käppi an. Unter den Demonstranten finden sich mehrheitlich Männer jeden Alters, auf zwei Männer kommt eine Frau. Mitunter sind sogar ganze Familien im Zug. Die Stimmung ist ruhig, es werden weder Protestparolen skandiert noch Protestlieder gesungen. Die Unia-T-Shirts sind verteilt, die Menschen im Zug sind jetzt uni rot gekleidet.
Der Zug fährt um 12.45 Uhr im Zürcher Hauptbahnhof ein. Die rot bekleideten Manifestanten schlängeln sich mit ihren Fahnen wie ein Tatzelwurm durch den Bahnhof und treffen sich dort mit den anderen Kampfgenossen und Kampfgenossinnen aus der ganzen Schweiz. Der Lärm, herrührend von den unzähligen Pfeifen, ist ohrenbetäubend. Auf dem Weg zum Limmatquai, wo sich der Zug formiert, erhält man eine Vorstellung von der Grösse dieser Veranstaltung. Die Veranstalter rechneten mit einem Aufmarsch von 12000 Personen, über 17000 werden es sein. Der Verkehr rund um den Bahnhof wird angehalten. Personenwagen, Busse, Motorräder und Trams müssen wohl oder übel eine Pause einlegen, während der Tross sich langsam und lärmend auf der Strasse vorwärtsbewegt.
Die Veranstaltung ist fast schon militärisch streng organisiert. Hier werden Gehörschutzpfropfen angeboten, dort gibt es Sonnenschutzcreme. Aus einem fahrenden Lieferwagen werden Unia-T-Shirts verteilt, während aus den Lautsprechern eines anderen Fahrzeugs Musik von Manu Chao ertönt. In italienischer Sprache wird «Sciopero! Sciopero!» skandiert. Streik! Eine auffallend grosse Beteiligung aus dem Tessin ist auszumachen. Auf den orangefarbenen Gewerkschaftsfahnen steht etwa «Organizzazione cristiano-sociale Ticinese OCST». Selbst aus Italien ist eine Schar Demonstrierender zu finden. Auf ihrem Transparent steht «FILLEA-CGIL, lavoratori del legno, edili e affini, Como». Arbeiter aus der Holzverarbeitung.

Flammende Reden gegen Abzockerei

Die verschiedenen Gewerkschaften sind in ihre regionalen Sektionen unterteilt, jede Sektion hat ihr eigenes Transparent. Die Unia der Region Bern ist gar mit einer gan-zen Band angereist, bestehend aus sieben Dudelsackbläsern und drei Trommlern. Sie nennt sich «Rosalia de Castro, Grupo de gaitas y danzas Gallegas» und trägt mit ihrer ungewohnten Musik zur friedlichen Stimmung bei.
Pünktlich setzt sich der Zug in Bewegung. Aus Solidarität haben sich eine Handvoll Antifaschisten und Punks dem Protestmarsch angeschlossen. Die Sektion Berner Oberland spielt aus ihrem Fahrzeug, das mit Lautsprechern bestückt ist, ein italienisches Protestlied. «Bella ciao». Sind die politischen Protestlieder eigentlich alle italienisch? Gibt es überhaupt deutsche Protestlieder? Da-zwischen hält einer über Lautsprecher eine flammende Rede gegen die Abzockerei: «Bauarbeiter sollen darben, während die Chefs Millionen kassieren. Das kann so nicht weitergehen! Das ist menschenverachtend!» Dann erschallt das Lied «Bandiera rossa».
Bruno Weibel, 43, Baumaschinenführer und seit 21 Jahren in derselben Firma tätig, kommt aus dem Berner Oberland und ist mit seiner ganzen Familie präsent. Er, seine Frau und selbst die beiden Kinder im Primarschulalter tragen die rote Unia-Schirmmütze. Während des Protestmarsches hält er mit seiner Meinung nicht zurück: «Wir wurden schon mit Landesmantelvertrag beschissen! Doch die Kündigung des LMV wirft uns 70 Jahre zurück.»
Um 14.20 Uhr ist der Demonstrationszug auf dem Helvetiaplatz eingetroffen. Hier reden Hansueli Scheidegger, Sektorleiter Bau von der Unia, Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), Hans-Jürg Fehr, Präsident der SPS, und viele andere in vielen Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Albanisch und Portugiesisch.
Kaum ist die Veranstaltung zu Ende, strömt die Menge auseinander. So diszipliniert, wie sie gekommen sind, reisen die Demonstrierenden wieder nach Hause. Und wie geht es den Aargauern um Gewerkschaftssekretär René Lappert? Sie sind mit eingerollten
Fahnen in der zum Bahnhof strömenden Menge verschwunden.

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