«der arbeitsmarkt» 04/2006

Stolz statt Brot

Polen weist mit 19,4 Prozent die höchste Arbeitslosenquote in der EU auf. In Ermangelung von Rezepten beschwört die Regierung Vaterlandsliebe und Glaubenstreue.

Hundert Kilometer südlich von Breslau liegt das niederschlesische Städtchen Bystrzyca Klodzka. Gegründet wurde es Mitte des 13. Jahrhunderts und hiess noch bis 1945 Habelschwerd. Die 20893-Seelen-Gemeinde ist in Polen durch ein einzigartiges Museum über die Geschichte des Feuers bekannt. Die mittelalterliche Stadtmauer und die vielen prachtvollen Kirchen gehören zu den weiteren Sehenswürdigkeiten von Bystrzyca Klodzka. So kommen auch immer mehr Touristen aus dem benachbarten Tschechien und Deutschland in die Stadt. Doch ist dies alles viel zu wenig, um jenes Problem radikal zu lösen, welches die Stadt seit der politischen Wende 1990 im Würgegriff hält: die Arbeitslosigkeit.

Das Sozialhilfegeld deckt einen Zehntel der Miete

3450 Personen im erwerbsfähigen Alter (29 Prozent) haben derzeit in Bystrzyca Klodzka keinen Job. Zwar blieben die früheren staatlichen Zündholz- und Möbelfabriken in Betrieb, nachdem sie an einen Italiener und einen Deutschen verkauft worden waren. Die Privatisierung bedeutete jedoch Massenentlassungen, und die übrig gebliebenen 700 Beschäftigten sind ihrer Zukunft ebenfalls nicht sicher. 1800 Familien leben von der Sozialhilfe – oder versuchen es zumindest. Denn je nach dem aktuellen Kassenstand der lokalen Sozialwerke kann sie im Monat bisweilen bis auf 30 Zloty (12 Franken) sinken. Zum Vergleich: Die niedrigste Wohnungsmiete in der Stadt beträgt 300 Zloty (124 Franken).
Was tun? Von Seiten des Staates – Polen weist mit 19,4 Prozent die höchste Arbeitslosenquote in der EU auf – kann vorerst nicht viel erwartet werden, zumal in den von Warschau weit entfernten Provinzen. Doch längst nicht alle Betroffenen bleiben passiv und hoffen, dass etwas von selbst geschieht. Grazyna Wdowiak zum Beispiel war fast zwei Jahrzehnte lang Vizeleiterin der 
städtischen «Anstalt für öffentliche Hilfe» in Bystrzyca Klodzka. Ihre Erfahrung und ihre Fachkenntnisse im Umgang mit in Not geratenen Menschen gaben ihr Mut, vor einem Jahr ein Gemeindehilfswerk zu gründen, welches sich mit der Integration der Arbeitslosen befasst. So entstand das «Zentrum für die öffentliche Integration», die erste Organisation dieser Art in Polen. Selbst Warschau hat die Aktivitäten des Zentrums wahrgenommen: Es wurde in wissenschaftlichen Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) und der Uni von Warschau als nachahmenswertes Modell im ganzen Lande empfohlen.
Dabei ist die Idee Grazyna Wdowiaks ganz einfach. Dem «arbeitsmarkt» gegenüber erzählt sie: «Das Ziel unseres Zentrums ist es, den willigen, den tüchtigen und risikobereiten Menschen zu helfen und mit kleinen, flexiblen Einsatzgruppen eine Art spezialisierte Berufsgenossenschaften zu gründen. Jede Gruppe bildet eine eigenständige Körperschaft. Die Leute müssen sich gut kennen, einander vertrauen und wirken nach dem Motto der Musketiere: Einer für alle, alle für einen. Die erzielten Erträge werden untereinander gleichmässig aufgeteilt. Diese Methode fördert eine hohe Motivation und dadurch auch eine hohe Qualität der gebotenen Dienstleistungen.»
Gegenwärtig betreut das Zentrum über 50 Personen, darunter 20 gerichtlich verurteilte Kleinkriminelle. Auf diesem Wege finden diese rascher zu ihrer Resozialisierung. Profitieren können auch die von der Arbeitslosigkeit besonders schwer betroffenen Frauen. So entstanden etwa Mini-Genossenschaften, die Kranken zu Hause eine rundum professionelle Betreuung anbieten. Den Einstieg in diese Selbständigkeit fördert seit kurzem auch der Staat, indem er jeder Person 7000 Zloty (2890 Franken) Startkapital gewährt und für ein Jahr bloss rein symbolische ZUS-Beiträge (AHV) kassiert.

«Solidarnosc» schlägt sich auf die Seite der Rechtsregierung

In Polen gilt ein ähnliches Gesetz wie auch in der Schweiz: Wer volle zwölf Monate – bei 170 Arbeitsstunden pro Monat – gearbeitet hat, hat bei Erwerbsausfall Anrecht, ein Jahr lang (2040 Arbeitsstunden) Arbeitslosenentschädigung zu beziehen. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht es anders aus. Nach den Erhebungen der GUS (Staatliches Amt für Statistik) stand im Juli 2005 nur noch 12,5 Prozent der arbeitslosen Polen dieses «Privileg» zu, welches pauschal für alle 460 Zloty (189 Franken) monatlich beträgt. Es ist dies sprichwörtlich zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Auch Senioren, die 120 Zloty (49.50 Franken) mehr erhalten, können damit selbst auf dem Lande nur die Miete und die Elektrizität bezahlen. Der ärmliche Rest gehört zur Überlebenskunst. Anders als in der Schweiz sind Arbeitslose nicht verpflichtet, sich aktiv um eine neue Stelle zu bemühen. Die Nachweisformulare für etwaige Stellenbemühungen sind somit weitgehend unbekannt. Das Novum: Wer eine durch das Arbeitsamt angebotene Stelle ablehnt, muss damit rechnen, für einen Arbeitseinsatz im öffentlichen Dienst aufgeboten zu werden. 
Warum aber kommt das gewaltige Heer der übrigen 87,5 Prozent der Arbeitslosen nicht einmal in den Genuss der mickrigen finanziellen Unterstützung? Die Ansichten der Befragten klaffen auseinander und sind häufig mehr verwirrend denn klärend: Zum einen sei die Kurzlebigkeit der fast zwei Millionen Kleinbetriebe daran schuld, in welchen, wie Janusz Sniadek, der Stellvertretende Präsident der Gewerkschaft «Solidarnosc» (Solidarität), erklärt, rechtlicher Freiraum herrsche. Zum anderen sei die Gerissenheit der Grossunternehmen ebenfalls nicht zu unterschätzen, welche die ausweglose Lage der Menschen ausnutzten und sie nur temporär oder vielfach unter dubiosen Bedingungen zu beschäftigen pflegten. Dazu kommen die Undurchsichtigkeit der vielen ausländischen Firmen und Investoren sowie das Dickicht von sich gegenseitig ausschliessenden, nicht selten anachronistischen Verordnungen der Staatsbehörden, welchen die neue, rechtsgerichtete PiS-Regierung («Recht und Gerechtigkeit») mit voller Wucht zu Leibe rücken möchte. Kein Wunder, wenn die unter Druck geratenen bisherigen Profiteure Alarm schlagen und sich auf Demokratie oder unternehmerische Freizügigkeiten berufen.
Das politische Klima in Polen wird immer rauer. Die abgewirtschaftete Linke, welche das Land noch bis vor vier Monaten regiert hatte, wird von der PiS als Hauptverursacher der Misere angeprangert. Selbst wenn die wichtigste Oppositionspartei, die SLD (Vereinte Demokratische Linke), irgendwelche Konzepte zum Thema hätte, findet sie derzeit kein nennenswertes Gehör beim enttäuschten Volk.
Und wie ist die Haltung der einst mächtigen Gewerkschaftsbewegung «Solidarnosc», welche vor einem Vierteljahrhundert das sozialistische Staatssystem stürzte? Bisher sprachen ihre Exponenten vom Verrat der Postkommunisten an den Werktätigen, nun vom Verrat an den Kapitalisten. Denn «Solidarnosc» wittert die Gunst der Stunde und setzt auf die PiS. So erklärt der Chefredaktor der Gewerkschaftszeitung «Tygodnik Solidarnosc», Jerzy Klosinski, gegenüber dem «arbeitsmarkt»: «Unsere Regierung will mit aller Entschiedenheit den Niedergang von 1300 grossen Betrieben verhindern, welche als Staatsvermögen und exzellente Arbeitgeber für das Land bewahrt werden müssen. Sie steht für Marktwirtschaft, will jedoch dem bisherigen ungezügelten Wildwuchs einen Riegel vorschieben. Das ist gut so. Denn wer in den letzten Jahren genügend Geld hatte, kaufte sich zum Beispiel staatliche Industrieanlagen oder was immer ihm passte, und dies meistens zu Schleuderpreisen. Der Staat, das heisst unsere Gesellschaft, ging dabei leer aus. Einige wenige konnten sich masslos bereichern, während die Mehrheit des Volkes verarmte.» 
Erste konkrete Schritte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit scheint die neue Obrigkeit gemacht zu haben. Das Arbeitsministerium verkündete jedenfalls vor kurzem «revolutionäre Änderungen im Arbeitslosenrecht» und schickte den entsprechenden Projektentwurf in die Vernehmlassung. Über Details ist allerdings wenig bekannt. Im Grundsatz geht es laut der Professorin Stanislawa 
Golinowska vom Institut für Arbeit und Soziales um Folgendes: «Der Staat soll Rahmenbedingungen für die Chancengleichheit schaffen, das heisst die Leute ausbilden und Programme ins Leben rufen, damit jedermann eine Beschäftigung finden kann.» 
Henryka Bochniarz wiederum, die Präsidentin der polnischen Konföderation der durch die Gewerkschaft «Solidarnosc» oft angeprangerten privaten Arbeitgeber, betont: «Solange wir zur Lösung dieser komplexen Fragen kein Gesamtpaket geschnürt haben, werden wir gezwungen sein, mit steigender Arbeitslosigkeit zu leben.» Und komplex ist die Materie in der Tat. Die Wochenzeitung «7 dni» (7 Tage) zum Beispiel berichtete im Februar über eine massive Zunahme der im Ausland beschäftigten Personen, welche in Polen als Stellenlose gemeldet sind. Rund eine Million Arbeitslose, so die Zeitung, arbeiteten schwarz, fast 100000 im Ausland.

Mit Appellen an die nationale Seele gegen den Braindrain

So bleibt das lähmende Problem der Unterbeschäftigung vorläufig ungelöst. Hinzu kommt die katastrophal niedrige Entlöhnung der Arbeitenden. Die Folge: Die Fachkräfte fliehen in Massen ins Ausland, primär nach Grossbritannien (Ärzte, Krankenschwestern), Deutschland und in die Benelux-Staaten (Bauarbeiter, Handwerker) oder in die USA (Informatiker, Wissenschaftler). Es ist zum Beispiel keine Seltenheit, wenn in einem Spital heute kaum noch ausgebildete Ärzte arbeiten. Und die PiS-Regierung zieht in ihrer Hilflosigkeit bereits alle Register, auch jene der sprichwörtlichen polnischen Vaterlandsliebe und Glaubenstreue. Angeführt von den Brüdern Kaczynski (Staatspräsident Lech und PiS-Chef Jaroslaw) appelliert sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit an Patriotismus, Staatspflicht, nationale Ehre und an die selig machende christliche Selbstlosigkeit.
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