«der arbeitsmarkt» 02/2006

Schön oder gruusig? Menschengerecht!

Wie gehen Menschen damit um, dass sie Tätigkeiten verrichten, die ein geringes soziales Prestige haben? Gudela Grote, Professorin für Arbeitspsychologie, erklärt, wie wichtig die menschengerechte Gestaltung von Arbeit ist und weshalb wir über die gesellschaftliche Bewertung von Arbeit nachdenken sollten.

der arbeitsmarkt: Frau Grote, empfinden Sie Ihre Arbeit als schöne Arbeit?
Gudela Grote: Meine Tätigkeit ist sicherlich extrem spannend und vielfältig; sie kann aber, wie jede andere Arbeit auch, zwischenzeitlich mühsam sein. Das Wort «schön» würde ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden.

Sie lehnen eine Unterscheidung in «schöne» und «gruusige» Arbeit grundsätzlich ab?
Was als «schön» oder «gruusig» empfunden wird, ist subjektiv sehr verschieden. Wir arbeiten nicht mit solchen Kategorien. Wir unterscheiden aber zwischen menschengerechter Arbeit und Arbeit, die nicht menschengerecht ist. Hierfür gibt es klare Kriterien, die untersucht und normiert sind.

Was sind das für Kriterien?
Ein Element ist zum Beispiel, dass Arbeit nicht krank machen oder ganz allgemein das Wohlbefinden nicht beeinträchtigen sollte. Etwa durch Stress, Über- und Unterforderung oder durch monotone Arbeit, bei der man zwar viel, aber wenig Anspruchsvolles tun muss. Eine andere Perspektive ist, dass Arbeit die Menschen nicht nur nicht schädigen, sondern umgekehrt fördern sollte. Also dass Menschen bei der Arbeit die Möglichkeit haben sollen, Kompetenzen zu entwickeln und soziale Kontakte aufzubauen. Ein weiteres Kriterium ist die Zumutbarkeit. Hier steht die Frage im Vordergrund, wie weit eigene Qualifikationen und Ansprüche mit dem zusammenpassen, was in der jeweiligen Arbeitstätigkeit gefordert ist.

Gemessen an diesen Kriterien schneidet Ihre Tätigkeit sehr gut ab.
Das ist richtig. Ich habe sehr viele Entscheidungsspielräume und jede Menge Kontakte. Das Problem liegt hier woanders. Nämlich, dass man nur dann gut arbeitet, wenn man 150 Prozent arbeitet. 100 Prozent reichen nicht. Dieser Problematik – Arbeit «at any
time and any place» – wird heute viel zu wenig Beachtung geschenkt. Sie betrifft viele qualifizierte Tätigkeiten, die zwar einem grossen Teil der positiven Kriterien entsprechen, bei denen aber der Druck daraus entsteht, dass die Arbeit nie aufhört.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem sozialen Prestige und der menschengerechten Gestaltung von Arbeit?
Tendenziell kann man sicherlich sagen, dass Tätigkeiten mit einem hohen sozialen Prestige menschengerechter organisiert sind als solche mit niedrigem. Dennoch besteht zumindest die Hoffnung, dass man auch weniger prestigeträchtige Tätigkeiten menschengerecht gestalten kann, sonst gäbe es noch mehr Leute, die durch Arbeit krank werden.

Welche Tätigkeiten gelten in der Gesellschaft als prestigeträchtig?
Das widerspiegelt sich vor allem in den Lohnsystemen der verschiedenen Länder. Daran lässt sich gut ablesen, wem welche Arbeit wie viel wert ist beziehungsweise was eine Gesellschaft für wichtig oder weniger wichtig hält. In den westlichen Ländern ist es so, dass intellektuelle Tätigkeiten oder Führungsfunktionen, die mit einer langen Ausbildungszeit verbunden sind, eine höhere gesellschaftliche Wertung besitzen und dementsprechend mit mehr Lohn entgolten werden.

Sie sprechen von den westlichen Ländern. Ist es in anderen Kulturkreisen anders?
Sicherlich existieren kulturelle Unterschiede. Es gibt eine Untersuchung des International Labor Office (ILO), in der weltweit zusammengetragen wurde, wer wo wie viel verdient. Allerdings mehr aus der Perspektive von Geschlechterdifferenzen. Dabei zeigt sich, dass es doch ein paar generell frauentypische und üblicherweise schlechter entlöhnte Tätigkeiten gibt: Dies sind Krankenschwestern, Schreibkräfte und Haushaltshilfen. Aber selbst für diese Tätigkeiten fanden sich einige Länder, in denen diese Tätigkeiten in ähnlichem Ausmass oder sogar überwiegend von Männern ausgeführt werden. Zum Beispiel Krankenschwestern/-pfleger in Tunesien, Schreibkräfte und Haushaltshilfen in Indien.

Lassen sich solche geschlechtsspezifischen Unterschiede auch in der Schweiz feststellen?
Ja. Solche Unterschiede hängen oft mit den unterschiedlichen Entstehungsgeschichten einzelner Tätigkeiten zusammen. Ein Beispiel sind die medizinisch-technischen Radiologie-Assistenten und -Assistentinnen. In der Deutschschweiz wird dieser Beruf zu mehr als 70 Prozent von Frauen ausgeübt. In der Westschweiz und im Tessin sind es bis zu 50 Prozent Männer. Das kommt daher, dass dieser Beruf in der Westschweiz und den lateinischen Ländern als technischer Beruf angesehen wurde. Dementsprechend war auch die Ausbildung stärker auf Männer ausgerichtet. Im deutschsprachigen Raum hingegen ist der Beruf aus der Erweiterung der Krankenpflege entstanden und war von dem her klar weiblich definiert. Diese unterschiedlichen Entstehungsgeschichten bilden sich dann auch in der Ausbildungs- und Lohnstuktur ab.

In der Antike waren es nur Sklaven und Mittellose, die arbeiteten. Die Bürger Athens oder Roms gaben sich lieber der Musse hin. Arbeit galt als unehrenhaft. Heute ist es gerade umgekehrt. Dass Erwerbsarbeit als etwas Ehrenhaftes angesehen wird, kam erst mit der Industrialisierung und dem Aufstieg des Bürgertums. Je weniger Menschen es gab, die ohne Arbeit auskamen, desto stärker hat sich die Bewertung von Arbeit verändert. Vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet war sicherlich die Verknüpfung von religiösen Wertsystemen und Erwerbsarbeit – das protestantische Arbeitsethos – ein wesentlicher Faktor in dieser Entwicklung.

Welchen Stellenwert hat Arbeit heute?
Das hängt vom kulturellen Hintergrund der Menschen ab. In der Schweiz geben über 80 Prozent der Befragten an, dass Arbeit in ihrem Leben einen zentralen Stellenwert besitze. Das ist enorm viel. In einer Vergleichsstudie, die in Grossbritannien durchgeführt wurde, waren es nur gerade 50 Prozent. Wo Arbeit – wie
in der Schweiz – einen so zentralen Platz im Leben der Menschen einnimmt und als Bestandteil der eigenen Identität aufgefasst wird, dort stellt es auch ein grösseres Problem dar, womit ich mein Geld verdiene und wie angesehen diese Tätigkeit ist.

Je zentraler der Stellenwert der Arbeit in einer Gesellschaft, desto wichtiger das soziale Prestige der eigenen Tätigkeit?
Genau. Wichtig ist aber auch die Frage: Wie sinnhaft ist das, was ich tue? Wie geht zum Beispiel jemand, der in der Rüstungsindustrie arbeitet, damit um, dass er quasi den ganzen Tag zerstörende Dinge produziert? Welche Konstruktionen hat er, dass das, was er tut, trotzdem richtig und gut ist? Oder jemand, der in der Kehrichtentsorgung arbeitet, dem für eine zwar gesellschaftlich wichtige Tätigkeit nur eine geringe Wertschätzung zuteil wird. Gemeinhin wird angenommen, dass Menschen mit solchen wenig prestigeträchtigen Tätigkeiten tendenziell eher Arbeit und Freizeit voneinander abkoppeln. Nach dem Motto: Das, was ich in der Arbeit mache, hat mit meiner Person und dem, was ich in der Freizeit mache, nichts zu tun. Arbeit wird dann lediglich als Mittel zum Zweck aufgefasst, nämlich um Geld zu verdienen und den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Von der Arbeitsgestaltungsperspektive her sollte Arbeit jedoch immer auch ein intrinsisches Moment enthalten.

Arbeit soll auch sinnhaft sein. Ist das in unserer Zeit, in der die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfangenden steigt, nicht ein Luxus? Oder anders gefragt: Inwiefern ist für die Betroffenen der Satz «Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit» zutreffend?
Ob aus der Sicht der Arbeitslosen, also von ihrem persönlichen Wohlbefinden her, jedwede Arbeit besser ist als keine Arbeit, ist nicht systematisch untersucht. Was man hingegen weiss, ist, dass es Arbeitslosen, die ehrenamtliche Tätigkeiten verrichten, gesundheitlich besser geht als Leuten, die gar nichts zu tun haben. Klar ist auch: Wenn wir wollen, dass möglichst viele Menschen im Arbeitsprozess integriert sind, dann ist es wichtig, über die gesellschaftliche Bewertung von Arbeit nachzudenken. Das bedeutet auch, einen grösseren finanziellen Ausgleich für Tätigkeiten ins Auge zu fassen, die wichtig sind, aber bislang nur schlecht
bezahlt werden.
.
Hätte ein solcher Ausgleich im gegenwärtigen Lohnsystem reale Chancen?
Wohl eher nicht. Solange es Menschen gibt, die bereit sind, auch unter schlechten Bedingungen zu arbeiten, wird sich nichts ändern. Erst wenn Arbeitskräfte knapp werden und sich für solche Tätigkeiten niemand mehr findet, entsteht der Druck, diese attraktiver zu machen. Denn wir brauchen Menschen, die diese Arbeiten erledigen. Zum Teil gibt es bereits solche Ausgleiche in Form von Schicht- oder Erschwerniszulagen. Man honoriert damit Menschen, die bereit sind, ein Stück weit ihre Gesundheit zu schädigen, dadurch, dass sie auch nachts für uns zur Verfügung stehen, Züge fahren, Kranke pflegen oder Schrauben fertigen. Aber fair ist ein solcher Ausgleich noch lange nicht.

Durch die Technisierung der Arbeitswelt müssen etliche nicht menschengerechte Arbeiten heute nicht mehr verrichtet werden. Hat dies nicht auch zu einer generellen Verbesserung der Arbeitsbedingungen geführt?
Zum Teil ja. Dafür gibt es heute aber beispielsweise Call-Centers. Die sind zwar sauberer und man hat einen Bürotisch, an dem man, so man will, mit Hemd und Kragen sitzen kann; eine tolle Tätigkeit ist das trotzdem nicht. Jede Technisierung hat immer wieder neue qualifizierte und weniger qualifizierte Tätigkeiten geschaffen. Die Frage ist vielmehr, wie sie verteilt werden: Verbleiben diese Call-Center-Tätigkeiten in der Schweiz oder werden sie in Billiglohnländer ausgelagert? Für Europa trifft es sicherlich zu, dass mehr wenig qualifizierte Tätigkeiten wegfallen als dazukommen.

Wie sollte den damit verbundenen Konsequenzen für die Arbeitnehmenden begegnet werden?
Damit die Menschen in den Arbeitsprozessen noch mithalten können, muss das Qualifikationsniveau steigen. Zentral ist, dass auch bei wenig qualifizierten Tätigkeiten darauf geachtet wird, dass die Potenziale, die darin stecken, genutzt werden. Kurz: Man darf das Lernen nicht verlernen. Die Arbeitsmarktfähigkeit muss erhalten werden, das gilt für alle Beschäftigten, auf allen Stufen der Qualifikation.

Was können Sie als Wissenschafterin zur menschengerechten Gestaltung von Arbeit beitragen?
Indem wir tun, was wir tun: theoretische und empirische Grundlagen für menschengerechte Arbeitsgestaltung bereitstellen und Unternehmen dabei unterstützen, diese umzusetzen.

Zur PDF-Version: