«der arbeitsmarkt» 09/2006

Schlangengrube Arbeitsplatz

Laut einer in diesem Sommer veröffentlichten Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind neue Formen von Gewalt am Arbeitsplatz weltweit im Vormarsch. Was sind die Gründe? «der arbeitsmarkt» fragte nach bei Co-Autor Vittorio Di Martino.

der arbeitsmarkt: Herr Di Martino, gemäss Ihrer neuesten Studie zur Gewalt am Arbeitsplatz sprechen Sie von «neuen Formen der Gewalt». Was ist darunter zu verstehen?
Vittorio Di Martino: Mit dem Begriff Gewalt erfassen wir sowohl die bekannten Formen der physischen Gewalt wie auch der psychologischen, wie zum Beispiel Einschüchterungen, Belästigungen, Schikane oder Mobbing. In den vergangenen zehn Jahren lag der Fokus auf letzteren. Deren Funktionsweise kann ich so beschreiben: Es handelt sich um eine Kette von Taten, die im Einzelnen belanglos erscheinen, sich aber in der Summe auf den Betroffenen verheerend auswirken. Ich denke beispielsweise an die konstante Kritik an einem Angestellten, gezieltes Streuen von Gerüchten über die Person, dauerndes Lächerlichmachen, soziale Isolierung oder systematisches Übergehen eines Angestellten bei Beförderungen.

Warum sind diese Formen im Vormarsch?Gegenwärtig sind wir Zeugen eines «Eisbergeffekts». In der Vergangenheit sahen wir nur die Spitze des Eisbergs. Je ausgiebiger und gründlicher wir das Phänomen untersuchen, desto mehr verstehen wir davon.

Wieso wurde das Problem so lange verschwiegen?
Weil die Opfer sich häufig selbst für die Situation verantwortlich machen, und weil sich die Arbeitgeber weigern, diese Art von Gewalt anzuerkennen. Denn würden sie es tun, würde das Image der jeweiligen Firma stark angekratzt. Welcher Betrieb lässt sich gerne als «gewalttätig» beschreiben? Tatsache ist aber auch, dass die Unternehmen inzwischen mehr für das Problem sensibilisiert sind und dieses immer offener diskutiert wird.

Gemäss der EU-Studie von 2000, die auch in Ihrem Bericht zitiert wird, wird nirgendwo so häufig gemobbt wie in europäischen Büros. Warum?
Es ist tatsächlich so, dass Mobbing die am weitesten verbreitete Gewaltform in Europa ist und die einzige, die noch immer zunimmt. Sie ist von sieben auf neun Prozent angestiegen. Demgegenüber scheint sich
die Situation bei der sexuellen Belästigung etwas entspannt zu haben. Sie verharrt auf einem Niveau von zwei Prozent. Eine Abnahme lässt sich dagegen bei der physischen Gewalt registrieren.

Was auffällt, sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, was deren «Gewaltprofil» betrifft.
Zu einem grossen Teil kann es darauf zurückgeführt werden, dass bei der Studie die Wahrnehmung der Befragten im Zentrum steht. Die Wahrnehmung wiederum ist stark vom jeweiligen kulturellen Hintergrund des Interviewten geprägt. Ebenfalls von Bedeutung ist der Grad, mit dem im jeweiligen Land über das Phänomen diskutiert wird.

Wie hoch sind die Kosten in Europa, die durch Gewalt am Arbeitsplatz verursacht werden?
Gewalt ist sehr eng mit dem Phänomen Stress verbunden. Beides ist erforscht. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Auf der Grundlage einer Studie von 1999 schätzt die Europäische Kommission die Kosten, die durch Stress am Arbeitsplatz in der EU verursacht werden, auf 20 Milliarden Euro pro Jahr. Die Kosten wegen Stress und Gewalt dürften sich pro Land und Jahr zwischen 0,5 und 3,5 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandprodukts (BIP) bewegen.

Die Ursachen und Mechanismen der Gewalt sind das eine. Ganz wichtig ist aber auch, wie das Problem angepackt werden kann. Was sind Ihre Vorschläge?
Erfolgreiche Fälle zeigen, dass in den Betrieben organisatorischen Vorkehrungen höchste Priorität eingeräumt werden sollte. Die beste Prävention ist die geeignete Organisation. Dieser Ansatz scheint mir viel erfolgversprechender und günstiger als eine Vorgehensweise, die erst dann greift, wenn die Folgen bereits eingetreten sind. Die organisatorische Prävention sollte vor dem Hintergrund der spezifischen Situation des Unternehmens entwickelt und angewendet werden. Wichtig erscheint mir auch, dass die Angestellten und deren Verbände bei der Erarbeitung eines organisatorischen «Anti-Gewalt-Konzeptes» einbezogen werden.

Braucht es dazu nicht auch speziell ausgebildetes Personal?
Sicherlich. Es braucht geschultes Personal in ausreichender Zahl. Wichtig ist auch eine betriebsinterne Anlaufstelle für Gewaltfragen. Die Firmen sollten ihre Arbeitsabläufe überprüfen und notfalls verbessern. Das ist ebenso kostengünstig wie effektiv. Um das Gewaltrisiko zu minimieren, bieten sich auch Arbeitszeitplanungen an. Übermässiger Arbeitsdruck sollte vermieden werden. Ganz entscheidend ist die Führungs- und Betriebskultur. Kaderangestellte sollten sich durch Offenheit, Kommunikations- und Dialogfähigkeit auszeichnen. Die Haltung des Managements sollte durch den Respekt vor der Würde des einzelnen Mitarbeitenden geprägt sein.

Wann erscheint die nächste Studie?
Das Phänomen entwickelt sich ständig weiter. Meiner Meinung nach sollte alle zwei Jahre eine erscheinen.

Wie wird die Situation anlässlich der kommenden Studie in ein paar Jahren aussehen? Besser oder schlechter?
Das lässt sich nicht abschätzen.

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