«der arbeitsmarkt» 02/2005

Russisches Roulette auf der Baustelle

Die Schweizer Baubranche leidet seit Jahren an Überkapazitäten. Unter den Anbietern herrscht ein gnadenloser Wettbewerb – gekämpft wird um jeden Auftrag. Neuerdings auch mit neuen und zweifelhaften Methoden.

Mitte Dezember am Hauptsitz der Batigroup in Basel, dem grössten Bauunternehmen der Schweiz. Am Laptop sitzt der Kalkulator Stephan Gysel, neben ihm steht Eduard Schmied, Geschäftsführer Batigroup Bau Basel. Auf dem Bildschirm blinkt es kurz. «Jetzt bietet wieder einer», erkärt Gysel und fragt ein paar Sekunden später: «Wir sind auf Platz fünf abgerutscht. Um wie viel sollen wir runter?» «Versuchen wir es einmal mit 2 Prozent und schauen, was passiert», lautet die Anweisung von Schmied. Kurz nach der Eingabe des Gebots erscheint das Resultat am Bildschirm. «Jetzt sind wir Erste», gibt Gysel bekannt. Einige Minuten später ist Batigroup wieder nach hinten gerutscht.
«Reverse eAuction» nennt sich dieses Auktionsverfahren im englischen Fachjargon. Es ist eine Art ricardo- oder ebay-Versteigerung mit umgekehrten Vorzeichen. Denn hier erhält nicht derjenige den Zuschlag, welcher am meisten bietet, sondern derjenige mit der günstigsten Offerte.
In diesem aktuellen Fall geht es um den Bau des Sanaa-Buildings der beiden japanischen Stararchitekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa. Das Gebäude gehört zum Novartis Campus, einem riesigen Forschungskomplex, den der Pharmakonzern derzeit am Rhein hochziehen lässt.

Nach Auktionsende beginnen die Nachverhandlungen

Zwanzig Minuten nach Auktionsbeginn liegt das Angebot rund eine halbe Million unter dem ersten Betrag, und das bei einer Bausumme von gut sechs Millionen Franken. In immer kleineren Schritten von ein paar tausend Franken geht es weiter nach unten. Nach jedem Gebot öffnet sich ein neues Zeitfenster von drei Minuten. Die Spannung wächst. Noch ist das unterste Limit, das sich Schmied und Gysel aufgrund der Kalkulation gesetzt haben, nicht erreicht. Doch es rückt näher und näher. Wie bei jeder anderen Auktion sind die Dauer und der Ausgang völlig ungewiss.
Anders als bei gewöhnlichen Versteigerungen, bei denen der Zugang prinzipiell unbeschränkt ist, nehmen hier nur Firmen teil, die von Novartis ausgewählt wurden, die Ausschreibungsunterlagen erhalten und eine
erste Offerte abgegeben haben. Auf dem Bildschirm erkennt der Anbieter jeweils nur sein eigenes Angebot und auf welcher Position er steht. Eine weitere Besonderheit dieser elektronischen Auktion: Am Ende erhält nicht automatisch die Firma mit dem günstigsten Angebot den Zuschlag. Novartis behält sich nämlich beim endgültigen Entscheid vor, auch Qualitätsunterschiede einfliessen zu lassen. Den Bietern ist das vorher bekannt. Eduard Schmied ist von der Qualität seines Angebots überzeugt, auch wenn Batigroup am Ende der Auktion lediglich im zweiten Rang abschliesst. Das Wissen um die eigenen Qualitäten verhindert, einen unrealistisch tiefen Preis anzubieten. Nach 35 Minuten ist die Auktion zu Ende. Jetzt beginnen die Nachverhandlungen. Bei Redaktionsschluss war noch nicht bekannt, wer den Zuschlag schlussendlich erhalten hat.

Schmied und Gysel haben schon zehn solche Auktionen hinter sich, und ihre Begeisterung hält sich in Grenzen. Auch ihr oberster Chef,  Batigroup-CEO Werner Helfenstein, ist gegenüber dem neuen Versteigerungssystem skeptisch. «Bei jedem Gebäude handelt sich um eine Art Prototyp und nicht um Standardware, bei welcher der Einkauf via Internet durchaus Sinn machen mag. Das Verfahren scheint zwar modern, aber ist in unserer Branche eher heikel. Ich habe Zweifel, ob das ein Modell ist, das in der Baubranche Schule machen wird.»
Weniger diplomatisch äussern sich Vertreter anderer Baufirmen, welche auch schon an solchen Auktionen teilgenommen haben, die aber alle anonym bleiben möchten. «Dass ausgerechnet Novartis mit ihren Milliardengewinnen zu einer solchen Methode greift, bei der man sich bis aufs Hemd ausziehen muss, ist irgendwie typisch», ärgert sich einer. «Die Gefahr bei dieser Methode besteht darin, in eine Art Spielrausch zu geraten und am Schluss zu einem viel zu tiefen Preis zu offerieren.»

Saubere Kostenrechnung bleibt häufig auf der Strecke

«Calor litiganti» heisst das Steigerungsfieber in der Fachsprache. Dass der Begriff aus dem Lateinischen stammt, ist nicht nur auf den früher üblichen Gebrauch als Wissenschaftssprache zurückzuführen. Schon die
alten Römer versteigerten den Bau von Tempeln und anderen Bauten an denjenigen mit dem günstigsten Angebot – allerdings in einer öffentlichen Veranstaltung.
ETH-Professor Gerhard Girmscheid hört zum ersten Mal von dieser neuen Art der Bauvergabe. «Ich halte das nicht für seriös. Da spielt der Kunde einseitig seine Marktmacht aus und profitiert von der angespannten
Situation in der Baubranche. Einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Bauherrn und Bauunternehmung ist das nicht förderlich.»
Bei einer Bausumme von 437 Millionen Franken hat Novartis Schweiz letztes Jahr Aufträge in der Höhe von 117 Millionen Franken so versteigert. Marino Buser, beim Basler Pharmakonzern verantwortlich für den Einkauf sämtlicher Waren und Dienstleistungen, sieht das Ganze als Win-win-Situation: «Wir möchten, dass beide Seiten davon profitieren. Für uns liegt der Nutzen in der Regel in markant niedrigeren Preisen und für den Anbieter wird die Schlussverhandlung transparent. Er ist nicht mehr der ‹Abgebotswillkür› ausgesetzt.»
Tatsächlich sind solche «Abgebotsrunden» in der Bauwirtschaft seit Jahren die Regel. Das heisst, der Auftraggeber hakt nach Eingabe der Offerten bei den Baufirmen per Telefon, Fax oder E-Mail nochmals nach und verlangt  zusätzlichen Rabatt: «Wenn du nochmals 50000 Franken runter gehst oder 2 Prozent Rabatt gibst, hast du den Auftrag», lautet eine typische Aufforderung. «Die Marktsituation spiegelt sich heute in den Rabatten und nicht in den Offerten wider», meint Eduard Schmied.
Ein solches «Spiel» kann sich durchaus mehrmals wiederholen. Dass das letzte Angebot dann häufig nicht einer sauberen Kostenrechnung, sondern der schieren Not entsprungen ist, liegt auf der Hand.  «Es gibt immer einen, der Hunger hat», so schildert der Batigroup-Chef Werner Helfenstein die derzeitige Situation in der Bauwirtschaft – und dieser Zustand dauert nun schon seit Jahren an. Von einem «ruinösen Preiswettbewerb, der sich nicht an kalkulatorischen Grundsätzen, sondern am russischen Roulette orientiert», spricht zum Beispiel auch Daniel Lehmann, Direktor des Schweizerischen Baumeisterverbands, im Jahresbericht 2003.

Fixkosten reduzieren, Flexibilität erhöhen

Die goldenen Jahre der Bauwirtschaft sind längst Vergangenheit, und auch das Selbstbewusstsein der Branche hat kräftig gelitten. Nach dem 2. Weltkrieg  stand Bauen für Fortschritt und Wachstum. «Baue deine Zukunft,
lerne Maurer!», hiess damals der Slogan, mit dem neue Lehrlinge geworben wurden. In den Alpen veränderten riesige Kraftwerke ganze Bergtäler, das Land wurde mit einem dichten Autobahnnetz überzogen, neue Vororte und Ferienhaussiedlungen frassen sich in die Landschaft, das Mittelland wurde mehr und mehr zugebaut.
So wurde Beton zum Schimpfwort, und Bauunternehmer galten als Prototyp des Neureichen. Zahlreiche unsaubere Machenschaften waren dem Image der Branche nicht gerade zuträglich. «Die Baubranche hat in der Öffentlichkeit an Wertschätzung eingebüsst, und nicht zuletzt aufgrund von Auswüchsen in der Vergangenheit sucht die Wettbewerbskommission in der Baubranche regelmässig nach Sündern, obwohl die Baufirmen in den letzten Jahren fast nur Verluste eingefahren haben», erinnert sich Batigroup-Chef Helfenstein.
Doch die Zeiten der Preisabsprachen, der fetten Margen und der stolzen Wachstumsraten gehören der Vergangenheit an. Heute bestimmen die strukturellen Überkapazitäten in der Baubranche und somit die
Auftraggeber die Preise. Nationale Grossprojekte wie der Nationalstrassenbau und Bahn 2000 sind weitgehend
abgeschlossen, und die öffentliche Hand setzt auch beim Bauen immer mehr den Sparstift an.
Die gesamte Bautätigkeit lag 2003 bei einem Volumen von 44 Milliarden Franken. In den letzten Jahren hat es real kaum zugenommen. Gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) hat die Bauwirtschaft massiv an Bedeutung verloren. «Vor zehn Jahren lag unser Anteil am BIP bei 14 Prozent, jetzt liegen wir bei gut 10 Prozent, und in zehn Jahren werden es vielleicht nur noch 5 Prozent sein», schätzt Werner Helfenstein.
Markant gesunken ist auch die Beschäftigtenzahl. Von 383000 im Jahr 1991 ging sie innerhalb von zehn Jahren um fast ein Viertel auf 294000 zurück. Noch stärker war der Rückgang im Bauhauptgewerbe, das heisst ohne Installations- und Ausbaugewerbe: Von 1993 bis 2003 schrumpfte sie um ein ganzes Drittel auf 85000.
Gleichzeitig hat die Zahl der Betriebe zugenommen, sie werden logischerweise also immer kleiner. Gemäss Betriebszählung des Bundesamts für Statistik stieg die Zahl zwischen 1991 und 2001 von 34145 auf 36569, die durchschnittliche Betriebsgrösse sank damit von rund elf auf acht Beschäftigte. Zwei Gründe sind hauptsächlich für diese – in letzter Zeit nachlassende – Entwicklung verantwortlich. Bestehende Firmen schrumpfen auf eine kleine Stammbelegschaft hinunter und heuern je nach Auftragslage zusätzliches Personal an. Das reduziert die Fixkosten und erhöht die Flexibilität.

Niedere Schwelle für Firmengründungen

Ein zweiter Grund für den Trend zum Kleinbetrieb: Macht eine mittlere oder grössere Firma Bankrott, kommen die Maschinen zu Billigstpreisen unter den Hammer. Aus einer Firma entstehen rasch zwei, drei neue. «Was soll ein 45-jähriger Polier machen, wenn sein Arbeitgeber Konkurs macht? Den können Sie nicht in die Migros hinter das Fleischregal stellen. Der macht sich selbständig», beobachtet Paul Hug, Geschäftsführer des Bauunternehmerverbands beider Basel.
Die Eintrittsschwelle für eine Firmengründung ist sehr niedrig. Eine Fähigkeitsprüfung braucht es dazu nicht, und wer einmal in der Branche Fuss gefasst hat, hört kaum freiwillig wieder auf – auch mangels Alternativen. «Wenn Firmen aufhören wollen, brauchen sie Geld, um Schulden zurückzuzahlen. Und wenn sie das nicht haben, bleibt nur noch die Flucht nach vorne, nämlich weiterzumachen und auf bessere Zeiten zu hoffen», so Werner Helfenstein. Dazu kommt die emotionale Komponente. Viele der Baumeisterpatrons haben sich mit Leib und Seele ihrem Beruf verschrieben.
Deshalb werkeln sie auch ohne tragfähiges betriebswirtschaftliches Fundament und eine vernünftige Kostenrechnung weiter, immer mit der Hoffnung auf den nächsten Auftrag.

Schlechte Stimmung bei Grossunternehmen

Genaue Zahlen über den Geschäftsgang der Tausenden von Klein- und Kleinstbetrieben liegen keine vor. Nur
die beiden börsenkotierten Unternehmensgruppen Zschokke und Batigroup müssen ihren Aktionären regelmässig öffentlich Rechenschaft ablegen. Ihre Ergebnisse sind alles andere als berauschend und widerspiegeln die in der Branche üblichen knappen Margen.
Interessante Einsichten liefert eine von der UBS 2003 durchgeführte Umfrage bei 330 Bauunternehmen. Kleine Betriebe mit weniger als zehn Mitarbeitern beurteilten ihre Lage gemäss dieser Studie deutlich positiver als die grossen, sowohl was die Vergangenheit als auch was die Zukunft betrifft. Überdurchschnittlich schlecht ist die Stimmung hingegen bei den Grossunternehmen mit über 250 Mitarbeitern. UBS-Baubranchenanalyst Christian Unternährer ortet den Grund für diese unterschiedliche Beurteilung vor allem in der unterschiedlichen Kostenstruktur der Kleinen gegenüber den Grossen.
Trotz einiger positiver Signale der letzten Zeit warnt Unternährer vor Hoffnung auf die Rückkehr der fetten Jahre. «Beim harten Preiskampf handelt es sich um ein langfristiges und nicht um ein konjunkturelles Problem. Mit einer Marktberuhigung beziehungsweise einem Nachlassen des Kostendrucks ist langfristig nicht zu rechnen.»
Punkto Analyse besteht in der Branche seit Jahren Einmütigkeit. Der Verband rechnet mit einem Rückgang von weiteren 10000 bis 15000 Arbeitsplätzen allein in den nächsten sechs Jahren. Allen ist klar, dass auch
viele Betriebe verschwinden müssen und werden. Nur ist es nie der eigene.

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