«der arbeitsmarkt» 09/2013TEXT: Mario Walser
3-D-Drucktechnologie

Revolution der Produktion

Künstlich hergestellte Haut für Verbrennungsopfer, Pralinés mit dem persönlichen Konterfei oder zuhause hergestellte Schusswaffen – was vor Jahren nur in Science-Fiction-Filmen möglich war, ist heute Realität, dank der Technologie des 3-D-Drucks.

Das gibt’s sonst nur an der Oscar-Verleihung: Mick Jagger, Plácido Domingo, Diane Krueger, Brian Ferry, Kelly Osbourne und Lenny Kravitz, Lindsey Lohan, Sting und wie sie alle heissen stehen mucksmäuschenstill Spalier – und empfangen die Besucher der Zentrale des Hörgeräteherstellers Sonova im beschaulichen zürcherischen Goldküstendorf Stäfa.

Allerdings nicht leibhaftig, sondern in Form von über 60 überlebensgrossen Schwarzweissfotoporträts, eingefangen vom kanadischen Musiker und Fotografen Bryan Adams. Sie alle sind Botschafter der von Sonova gegründeten «Hear the World»-Stiftung. Sie alle tragen dazu bei, die Öffentlichkeit auf die Bedeutung guten Hörens und auf die Folgen eines Hörverlusts aufmerksam zu machen. Denn rund ein Siebtel der Menschheit, etwa eine Milliarde Erdenbürger, hört nicht optimal.

Sonova hat sich der Innovation verschrieben. Sie ist nicht nur Vorreiter, wenn es um den Anteil von Frauen in Führungspositionen geht (37 Prozent), sondern auch bei der Fabrikation von Hörgeräten mit dem Verfahren des 3-D-Drucks. «Als wir vor rund zehn Jahren damit begannen, unsere Hörgeräte im 3-D-Druckverfahren zu fertigen, wurde die Technologie andernorts meist erst zur Entwicklung von Prototypen benutzt», erklärt Stefan Launer, in der Sonova-Geschäftsleitung verantwortlich für Forschung und Technologie.

Um die Serienproduktion möglich zu machen, musste die Firma einige Teilschritte im Prozess der Herstellung ändern. Gemäss Stefan Launer beinhaltete diese früher vor allem viel Handarbeit: «Ein langjährig ausgebildeter, hochspezialisierter Mitarbeiter erstellte mit Silikon einen ersten Abdruck des Gehörganges. Anschliessend modellierte er die Orthoplastik, also den Teil des Hörgerätes, der sich im Ohr befindet, sowie die Ohrschale, in der sich die ganze Technik des Hörgerätes befindet. Das nahm sehr viel Zeit in Anspruch.» Heute scannt ein Mitarbeiter den nach wie vor in Handarbeit erstellten Abdruck für die Orthoplastik ein und bearbeitet diesen am Computer weiter. Anhand der virtuellen Vorlage stellt schliesslich der 3-D-Drucker die Plastik detailgenau her: «Die Maschinen helfen dem Produktionsteam, die Anzahl und die Qualität der produzierten Ohrschalen zu vervielfachen beziehungsweise zu verbessern.»

Massanzug fürs Ohr

Im Vergleich zur klassischen Fertigung bietet die 3-D-Technologie viele Vorteile für jegliche Art von industrieller Produktion. Wollten Firmen in der Industrie bislang etwas herstellen, brauchten sie einen Maschinenpark: eine Maschine, die giesst; eine, die fräst; eine, die bohrt; eine, die dreht, und eine, die schleift. Eine herkömmliche Fräse beispielsweise schneidet ein Objekt aus einem Metallblock und produziert viel Abfall. Ein 3-D-Drucker arbeitet nur noch mit dem tatsächlich benötigten Material. So werden bis zu 90 Prozent an Materialkosten eingespart. Komplexe Gebilde aus vielen beweglichen Teilen, etwa ein Kleid aus einzelnen Ringen in der Art eines Kettenhemds oder Getriebe aus Zahnrädern, sogar Gegenstände mit Hohlräumen, sind in einem Druckdurchgang herstellbar. So fertigt beispielsweise Burton, der amerikanische Hersteller von Snowboards, die Bindungen für seine Bretter fast ausschliesslich mit 3-D-Druckern.

Auch im Bereich der Nachhaltigkeit hat das 3-D-Druckverfahren enormes Potenzial. Denn die meisten gedruckten Objekte sind rezyklierbar, können also in den Produktionskreislauf zurückgeführt werden. Bei Sonova erfolgt die Herstellung zudem unter besser kontrollierbaren Produktionsbedingungen: «Wir haben weltweit einen hohen Qualitätsstandard bei der Herstellung, den wir einhalten können. Früher beeinflussten Kriterien wie das Herstellungsland, das Labor und die individuellen Fähigkeiten der Mitarbeitenden massgeblich das Ergebnis. Das ist heute nicht mehr der Fall», sagt Launer.

Bei Sonova garantieren Rocco, Tom, Gio, Miri und Lora, die fünf jeweils rund 80 000 Franken teuren, wie Spätzlimaschinen aussehenden 3-D-Drucker, acht Stunden täglich gleichbleibende Qualität – im hermetisch abgesicherten und für Besucher nicht zugänglichen Produktionslabor, das aussieht wie das Vorbereitungszimmer eines Chemie- oder Physiklehrers. Unter der Aufsicht von Produktionsleiter Antonio Guida erzeugen die mit Kosenamen bedachten Drucker in etwa zwei Stunden jeweils 50 individuelle Ohrschalen. Schicht für Schicht tragen sie den Kunststoff Photopolymer auf. Danach stellt Antonio Guida die Schalen für einige Minuten in eine Zentrifuge und danach in ein Bad aus UV-Licht. So werden letzte Verunreinigungen entfernt, und die Ohrschalen härten aus.

Hilfsmittel für den Bastler 2.0

Was für Industrieunternehmen wie Sonova schon tägliches Brot ist, wird zunehmend auch für Private interessant. Denn Anwendungsgebiete für einen 3-D-Drucker finden sich in jedem Haushalt. Gegenstände wie Wäscheklammern, Ausstechformen für Weihnachtsguetzli oder ein Ersatzgriff für den Schraubenzieher stellen die Drucker vor keine Probleme. Auch vor verlorenen oder kaputten Teilen, wie etwa dem Endstück einer Vorhangstange oder der Halterzunge für die Spülmaschine, schrecken sie nicht zurück. Hobby-Modellbauer können kaputte Teile, die nicht mehr lieferbar sind, im Nu selber herstellen. Und jeder kreative Smartphone-Besitzer kann seine Schutzhüllen am heimischen Gerät ausdrucken. 3-D-Drucker für Privatpersonen sind seit kurzem sogar erschwinglich: Günstige Exemplare in der Grösse eines Mikrowellengerätes kosten noch etwas mehr als 1200 Franken.

Laut Jochen Hanselmann, einem der führenden Schweizer Experten der Technologie, geht die Entwicklung bei den privaten Anwendern, dem sogenannten Consumer-Bereich, jedoch langsamer voran, als das mediale Dauerfeuer vermuten lässt: «Die seit 2011 sehr intensive Berichterstattung in den Medien erweckt den Eindruck, dass der 3-D-Druck auch im Consumer-Bereich schon weit verbreitet und einfach in der Anwendung ist. So weit ist die Entwicklung aber noch nicht fortgeschritten.» Den Drucker einfach an den Computer anzuschliessen und innert Sekunden zu drucken, wie vom bewährten 2-D-Papierdrucker gewohnt, das ist im Moment noch nicht möglich. Die Geräte sind langsam, und ihre Bedienung erfordert technisches Talent, sodass das 3-D-Drucken vorerst nichts für ungeduldige Anwender ist.

Mit dem Smartphone ins «FabLab»

Wer zusätzliche Hilfe sucht, wird beispielsweise in den bekannten App-Stores fündig. Seit kurzer Zeit sind Apps auf dem Markt, die das gewünschte Produkt einscannen und als elektronische Vorlage an den Computer übermitteln. Ein gewisses technisches Flair für die Erstellung der komplexen Designvorlagen ist aber auch hier Voraussetzung.

Damit die besten Ideen nicht bereits an der Umsetzung scheitern, können Private komplexere Objekte in einem sogenannten FabLab ausdrucken, einer Art Hightech-Werkstatt, die Interessierten die Möglichkeit bietet, sich mit Experten auszutauschen und auf einem 3-D-Drucker zu produzieren.

Initiator der FabLabs ist Neil Gershenfeld, Direktor des Center for Bits and Atoms am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Das erste FabLab nahm er dort im Jahr 2002 in Betrieb. In der Schweiz existieren inzwischen FabLabs in Zürich, Bern, Neuenburg, Lugano und Luzern. Sie alle sind weltweit vernetzt, doch hat jede Werkstatt ihren eigenen Charakter: Während das Luzerner FabLab der Hochschule Luzern angegliedert ist, organisieren sich die Initiatoren des Zürcher FabLabs als gemeinnütziger Verein, getragen von Mitgliederbeiträgen. Kreative Zürcher haben zusätzlich die Möglichkeit, die Dienste des 3-D-Druckshops «3D-Model» in Anspruch zu nehmen. Dieser eröffnete im vergangenen August im Zürcher Kreis 4, drei Monate bevor sich erste Shops in New York installierten.

Druck auf Recht und Ethik

Für eine weitere Verbreitung der 3-D-Drucker, vor allem im Consumer-Bereich, müssen noch einige offene Fragen geklärt werden. Dazu zählen einheitliche Copyright-Regelungen, um das Scannen und Kopieren von Kunstgegenständen oder anderen geschützten Designs via 3-D-Druck zu verhindern. «Eine internationale Harmonisierung ist in mehrfacher Hinsicht unbedingt nötig», ist Jochen Hanselmann überzeugt, «denn 3-D-Drucker können nicht nur sogenannte Skimming-Teile zur Manipulation von Geldautomaten fabrizieren, auch die Fälschung von Markenartikeln ist einfacher geworden. Sogar gefährliche Schusswaffen sind schnell und problemlos anzufertigen.» Auch Standards bezüglich der Qualität des Ausgangsmaterials und von gedruckten Produkten sind inexistent. «Bis jetzt prüft und garantiert niemand, dass ein 3-D-gedrucktes Ersatzteil genügend stabil ist, um seinen Einsatzzweck problemlos zu erfüllen», sagt Jochen Hanselmann. Ob diese noch zu lösenden rechtlichen und ethischen Fragestellungen den Erfolg der 3-D-Technologie aufhalten können, wird sich zeigen.

Eine neue industrielle Revolution

Der heilige Gral der Produktion scheint also endlich entdeckt. Nichts, und sei es noch so abwegig, ist mehr unmöglich. So können etwa werdende Eltern in Japan bereits jetzt ihr ungeborenes Kind als 3-D-Modell ausdrucken. Die Bilder der Ultraschalluntersuchungen dienen dabei als Vorlage zur Herstellung der Fötusskulptur.

Wissenschaftler wie Neil Gershenfeld vom MIT erwarten tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen, wie beispielsweise die Rückverlagerung von Produktionsprozessen in die Nähe des Konsumenten. Unternehmen müssen komplexe Ersatzteile für Waschmaschinen, Fernsehgeräte oder Autos nicht mehr Tage oder Wochen vorher beim Hauptlager des Herstellers anfordern. Der Servicemonteur kann diese direkt vor Ort, beim Kunden zu Hause, mit Hilfe des im Lieferwagen installierten 3-D-Druckers herstellen. Unter Umständen wird gar der Konsument selbst zum Produzenten, indem er nicht mehr das Produkt selbst, sondern nur noch die Designvorlage einkauft und dieses zu Hause ausdruckt.

Der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen industriellen Revolution – ausgelöst durch die Technologie des 3-D-Drucks. Auch der amerikanische Präsident ist davon überzeugt. In seiner Rede «zur Lage der Nation» vom vergangenen Februar bezeichnete Barack Obama den 3-D-Druck als «revolutionäre Technologie», sieht in ihm einen Schlüssel für neues Wachstum und will eine Milliarde US-Dollar investieren, um die Technologie weiter voranzutreiben.

Fortschritt in Siebenmeilenstiefeln

Ob nun revolutionär oder nicht – Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft werden die Technologie absorbieren und permanent weiterentwickeln. So ist etwa im Bereich der Medizin die bereits existierende Unterkieferprothese aus dem 3-D-Drucker nur einer von vielen Meilensteinen; Forscher arbeiten beispielsweise an der Möglichkeit, auch Knochen und Organe auszudrucken. Und ein Team am Kinderspital Zürich entwickelt eine druckbare und transplantierbare Haut aus patienteneigenen Zellen, wie Recherchen der «NZZ am Sonntag» ergaben.

Die Automobilindustrie, die das 3-D-Druckverfahren schon seit Jahren einsetzt, arbeitet weiter daran, bald komplette Autos so zu fabrizieren. Im neusten James-Bond-Streifen «Skyfall» fährt 007 einen Aston Martin DB5. Grosse Teile des im Film verwendeten Modells stammen aus einem 3-D-Drucker.

Noch weiter geht oder genauer: fliegt die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA. Sie will in der Raumstation ISS einen 3-D-Drucker installieren, damit sie Ersatzteile nicht mehr für teures Geld mit Raketen ins Weltall schiessen muss. Sogar das Essen der Astronauten soll künftig aus dem 3-D-Drucker kommen: Die NASA ist daran, einen Drucker zu entwickeln, der die in pulverisierter Form vorhandenen Lebensmittel, nach Rezepten aus dem Computer, in der Raumstation servierfertig herstellen kann – «Star Trek» lässt grüssen. Vom Hörgerätedrucker, der an eine Spätzlimaschine erinnert, bis hin zur Molekularküche für Astronauten scheint der Weg also nicht mehr allzu weit zu sein.

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