«der arbeitsmarkt» 03/2012

Reden gegen Gewalt

Alexandra Herren begleitet YB-Fans an Fussballspielen. Die Fanarbeiterin meistert ihren Arbeitseinsatz mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen – und lässt sich auch von einem Faustschlag nicht aus der Ruhe bringen.

Sonntagnachmittag im Berner Stade de Suisse. Der Sektor D gleicht einem Bienenhaus. Unzählige mit Schals und YB-Trikots bekleidete Fans laufen umher, diskutieren angeregt und feuern ihre Mannschaft mit Sprechchören an. Hier treffen sich die besonders Heissblütigen. Organisiert in 30 bis 35 Fangruppierungen, besuchen sie praktisch jedes Heim- und Auswärtsspiel und sind das Herz des Vereins BSC Young Boys (YB).

Beim Fanshop steht Alexandra Herren von der Fanarbeit Bern. Die 36-Jährige sticht mit ihrem Parka und den Cowboystiefeln inmitten der gelb-schwarz gekleideten Fans heraus.

Die Fanarbeiterin begrüsst zwei YB-Anhänger, die vor dem Shop anhalten. Ausgerechnet der schmächtige von ihnen hat Stadionverbot. Der muskelbepackte Kollege ist sein «Götti», in dessen Begleitung der Bestrafte auf Bewährung Heimspiele von YB besuchen darf – sofern er sich vor und nach dem Match bei der Fanarbeiterin meldet. Alexandra Herren reicht ihnen ein Blatt Papier. Beide unterschreiben und verschwinden in die YB-Fankurve. Im Jahr 2010 erhielten fünf Personen diese «2. Chance», wie das von der Fanarbeit Bern betreute Projekt heisst. «Die Erfahrungen sind mehrheitlich positiv», sagt die Fanarbeiterin.

Vom YB-Fan zur Fanarbeiterin

YB ist einer von sechs Fussballclubs, die eine sozioprofessionelle Fanarbeit betreiben. Die Initiative für den Aufbau der Fanarbeit in Bern kam von den Fans. Die ersten beiden Fanarbeiter nahmen 2007 die Arbeit auf. Zudem ist bei YB ein Fanverantwortlicher tätig, mit dem sich die Fanarbeiter austauschen. 2010 betrug das Budget 100 000 Franken. Die Hälfte davon zahlte YB, den Rest übernahmen die Stadt und der Kanton.

Alexandra Herren arbeitet zusammen mit ihrem Arbeitskollegen Lukas Meier seit eineinhalb Jahren 40 Prozent als Fanarbeiterin. Dazu ist sie 60 Prozent beim Sozialdienst der Stadt Bern angestellt. «Ich ging früher schon gerne mit Freunden an einen YB-Match und interessiere mich für Fussball», sagt sie. «Deshalb fühle ich mich wohl in einem Stadion.» In der hektischen Atmosphäre des Fansektors strahlt sie Ruhe und Lockerheit aus.

Um ihren Hals hängt an einem Band ihr Fanarbeiterpass, mit dem sie überall im Stadion Zutritt hat. Die Fans können sich beim Fanshop vor und nach dem Spiel oder während der Halbzeitpause mit ihr treffen, wenn sie reden möchten. Viele Gespräche passieren spontan. «Wir sind in erster Linie eine moralische Unterstützung für die Fans», sagt Herren. «Bekommt ein Anhänger beispielsweise ein Stadionverbot, erklären wir ihm, dass er ein Anhörungsrecht hat und sich dagegen wehren kann.»

Die Sozialarbeiterin begleitet YB-Fans an jeden Match. Spielt YB auswärts, ist sie bei der Zugfahrt und dem Marsch zum Stadion dabei. An Heimspielen ist sie jeweils eineinhalb Stunden vor dem Spiel vor Ort. «Jedes Spiel wird von den Sicherheitsverantwortlichen eingestuft», erklärt Herren. «Handelt es sich um ein Hochrisikospiel, gibt es allenfalls mehr zu tun.» Dann ist sie bei der Ankunft der Gästefans anwesend und beobachtet, wie die Stimmung ist. Das heutige Spiel gegen den FC Sion schätzen die Verantwortlichen als normal ein. Nur wenige Walliser haben den Weg nach Bern auf sich genommen.

Akzeptanz bei den Fans ist entscheidend

Mit ihrer aufgeweckten und unkomplizierten Art kommt Alexandra Herren gut an. Immer wieder gehen YB-Anhänger auf sie zu, schütteln ihr die Hand oder umarmen sie. Als Frau in einer von Männern dominierten Umgebung ist das nicht selbstverständlich. «In gewissen Situationen brauche ich Fingerspitzengefühl», sagt Herren. Beispielsweise dürfe sie nach einer YB-Niederlage die Fans nie fragen, wie es ihnen gehe. «Wenn der innig geliebte Verein verliert, geht es einem Fan logischerweise niemals gut.»

Wie wichtig die Akzeptanz innerhalb der Fangruppierungen ist, weiss Thomas Gander, Geschäftsführer von Fanarbeit Schweiz und seit sieben Jahren als Fanarbeiter in Basel tätig.

Der Verein organisiert und koordiniert die Fanarbeit in der Schweiz. In Bern, Basel, Luzern und Zürich ist sie bereits etabliert und seit Anfang 2012 auch in St. Gallen. «Als Fanarbeiter musst du die Anhänger von Beginn an im Boot haben», sagt Gander. «Die Präsenz ist entscheidend. So wird ein Fanarbeiter zur Ansprechperson, kann mit den Fans diskutieren und auch seine Meinung äussern.» Nur so entstehe eine Vertrauensbasis. «Ein guter Fanarbeiter muss gut zuhören und gleichzeitig seinen eigenen Standpunkt einbringen können. Er muss offen gegenüber der Fankultur sein. Und er braucht ein dickes Fell, denn nicht selten wird er von den Fans und den Behörden kritisiert.»

Nach Faustschlag ist Vermittlung gefragt

Ein Anliegen der Fanarbeit ist es, Fans nicht als Risikofaktor zu betrachten, sondern ihre Möglichkeiten zu erkennen. Thomas Gander fasziniert die Eigeninitiative, welche die oft noch jungen Leute zeigen. «Das ist doch genau das, was wir Erwachsene von den Jugendlichen fordern», sagt der Basler. «Eine Fankurve ist das grösste Jugendzentrum einer Stadt. Es gibt ein unglaubliches Potenzial an Kreativität.» Die Fans planen gemeinsam aufwändige Choreographien. Kürzlich organisierten FC-Basel-Fans einen Anlass für Kinder, bei dem sie ihnen halfen, eigene Fahnen zu kreieren. «Nicht nur die Kinder, auch die Eltern waren begeistert!» Vielen bedeute Fan sein mehr als nur ein Fussballspiel besuchen. «Jugendliche werden durch gestiegene Erwartungen und vermehrte Verbote immer mehr in eine Ecke gedrängt. In einer Fankurve können sie sich Freiräume schaffen und anders sein, als es die Gesellschaft von ihnen erwartet», so Gander.

In Bern herrscht plötzlich Aufregung. Ein Sicherheitsmitarbeiter ist sichtlich aufgebracht, fuchtelt mit den Armen. Sofort eilt Alexandra Herren zu ihm. «Ein Fan verpasste mir einen Faustschlag», beschwert er sich. «Drei Fans hielten sich unerlaubterweise auf dem Balkon auf und blockierten den anderen Fans die Sicht aufs Spielfeld. Ich sagte ihnen, sie sollen runterkommen. Dann ist die Situation eskaliert.» Der Fan, der ihm mit der Faust aufs Auge schlug, ist mittlerweile in der Masse abgetaucht.

In dieser hektischen Situation bleibt die Fanarbeiterin ein ruhender Pol. Sie beruhigt zuerst den älteren Mann. Dann spricht Alexandra Herren mit Vertretern der Fangruppen: «Falls es sich so zugetragen hat, ist das nicht in Ordnung.» Ein Fan schildert ihr, was er mitbekommen hat. «Der Stadionmitarbeiter führte sich wie ein Sheriff auf und zerrte den Fan herunter. Daraufhin ist er ausgerastet.» Nach Rücksprache mit einem Sicherheitsverantwortlichen schlägt sie den Fans vor, der Beschuldigte solle sich freiwillig beim Sicherheitspersonal melden und die Situation klären. Die Zuschauer werden während des Spiels von Sicherheitskameras gefilmt, um sie bei solchen Vorfällen identifizieren und allenfalls zur Rechenschaft ziehen zu können.

Deeskalation durch Dialog

Diese vermittelnde Funktion zwischen Fans, Sicherheitspersonal und Polizei zeichnet die Arbeit von Alexandra Herren aus. In emotionalen Momenten, wo die Situation ausser Kontrolle zu geraten droht, trägt sie zur Deeskalation bei. «Durch konsequentes Trennen der Fangruppierungen geraten die Sicherheitskräfte vermehrt in den Fokus der Gewalt», sagt Präventionsexperte Jörg Häfeli. Er ist Präsident der Kommission für Prävention und Fanarbeit der Swiss Football League und Dozent sowie Projektleiter an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. «Fanarbeiter entschärfen durch Dialog mögliche Brennpunkte. Zudem fördern sie die Selbstregulierung innerhalb der Fankurven. Ihr Vorteil ist, dass sie so nahe an den Fangruppen sind wie sonst niemand.»

Der Basler Fanarbeiter Thomas Gander bestätigt dies. «Wir können dazu beitragen, Ausschreitungen gegen Sicherheitspersonal zu verhindern», sagt er. «Diese Eskalationen entstehen oft wegen einer angespannten Situation, in der ungenügend informiert wurde und diffuse Feindbilder vorherrschen.» Einmal habe er beispielsweise gemerkt, dass die Spannungen zwischen einem Sicherheitsunternehmen und den Fans des FC Basel zunahmen. Darauf leitete die Fanarbeit Basel diese Information dem Verein weiter. «Wir arbeiten auch mit unterklassigen Clubs zusammen und geben ihnen Tipps, wie sie Reibungsflächen abbauen können, beispielsweise bei der Eingangskontrolle.»

Die Grenzen der Fanarbeit

Wie viel Fanarbeit zur Bekämpfung von Gewalt im Sport beitragen kann, ist umstritten. Tatsache ist, dass sie Gewalt nicht in jedem Fall verhindern kann. Präventionsexperte Jörg Häfeli hält fest, dass es nicht nur im Sport Gewalt gibt. «Doch beim Fussball kommt die Rivalität zwischen einzelnen Fangruppierungen hinzu. Es gibt eine Unterteilung zwischen Gut und Böse. Die gegnerischen Fans werden zum Feindbild. Auch mit Fanarbeit herrscht in den Stadien nicht plötzlich Sonntagsschulatmosphäre.»

Bei Politik und Medien stehen vermehrt repressive Massnahmen im Fokus. Der Prävention messen sie eine geringe Bedeutung bei wie Roger Schneeberger, Generalsekretär der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren. Er sieht zwar die Fanarbeit als ein nützliches Instrument, um auf die Meinungsbildung innerhalb von Fangruppen Einfluss zu nehmen. «Den gewaltbereiten Teil erreicht man so nicht», sagt er. «Es gab in der Schweiz verschiedene unschöne Vorfälle bei Fussballspielen, die die Grenzen der Fanarbeit deutlich aufzeigen. Diese Leute holen sich durch Gewalt einen Adrenalinkick.» Selbst der Basler Fanarbeiter Thomas Gander gibt zu: «Bei Gewalt unter gewollten Rivalitäten zwischen einzelnen Fangruppierungen können wir nicht viel tun.»

Fans solidarisieren sich

Ausschreitungen zwischen Fans und Sicherheitskräften hat Thomas Gander schon hautnah erlebt. Einmal bekam er eine Gummischrotkugel ins Auge und musste ins Spital. Für ihn war es nicht einfach, das Geschehene aufzuarbeiten. «Ich lehne Gewalt in jeglicher Form ab», sagt er. Die Solidarisierung unter den Fans werde unterschätzt. «Dies zeigt sich nicht nur bei der Stimmung und den Choreographien, sondern auch bei Protest und Gewalt. Je mehr die Fans in eine Ecke gedrängt werden, desto mehr erstarken die radikalen Kräfte.»

Genau dies versuchen die Fanarbeiter durch ihre Dialogbereitschaft zu verhindern. Ihre Kenntnis der Fankultur hilft ihnen dabei.

Inzwischen ist der Match in Bern zu Ende. YB und Sion trennen sich 1:1. Alexandra Herren hat nicht viel vom Spiel mitbekommen. Sie war dauernd unterwegs und sprach mit Fans, Sicherheitsverantwortlichen und Vereinsvertretern. Sie hat sichtlich Spass an ihrer Arbeit und bleibt auch nach dem Spiel noch lange an ihrem Standort im Stadion. Ein älterer YB-Fan kommt auf sie zu. Er ist enttäuscht über die Leistung seiner Mannschaft. Herren hört ihm zu, muntert ihn auf und bietet ihm so ein Ventil, um seinen Frust loszuwerden.

Schliesslich tauchen die beiden YB-Fans vom Projekt «2. Chance» erneut beim Fanshop auf, um sich bei Alexandra Herren abzumelden. Die Fanarbeiterin spricht noch eine Weile mit ihnen, bevor sie das Stadion als eine der Letzten verlässt. Sie läuft an einem Stadionmitarbeiter vorbei, der ungeduldig herumsteht, weil er endlich aufräumen will. Lächelnd entschuldigt sie sich: «Immer musst du auf mich warten, sorry.»

Fanbetreuung in der Schweiz

Für die Fanbetreuung eines Sportvereins sind im Idealfall sowohl ein Fanarbeiter als auch ein Fanverantwortlicher zuständig. Die beiden ergänzen sich in ihren Aufgaben und kümmern sich um unterschiedliche Fangruppierungen.

Fanarbeiter

Funktion: Ein Fanarbeiter verrichtet soziale Arbeit im Umfeld von Sportfans. Er betreut insbesondere die eingefleischten Fans, die meist zwischen 15 und 25 Jahre alt sind. Ein Fanarbeiter motiviert die Fans, sich innerhalb einer Fankurve kreativ zu beteiligen, und schlägt Brücken zu den verschiedenen Interessengruppen wie Verein, Sicherheitspersonal und Polizei. Er unterstützt die Anhänger bei persönlichen Problemen oder in Krisensituationen.

Personalbestand: Sozioprofessionelle Fanarbeit gibt es in Basel, Bern, Luzern, Zürich und seit Anfang 2012 auch in St. Gallen. Aktuell sind ungefähr zwölf Personen als Fanarbeiter tätig, die meisten arbeiten Teilzeit. Ein Fanarbeiter verdient je nach Verantwortung Vollzeit ab 5500 Franken.

Ausbildung: Ein Fanarbeiter braucht in der Regel ein Diplom oder eine Ausbildung im Bereich der sozialen Arbeit. Der Dachverband Fanarbeit Schweiz bietet Weiterbildungen an, beispielsweise einen Lehrgang zum Umgang mit Medien oder einen Workshop zum Begriff Gewalt.

Finanzierung: Sozioprofessionelle Fanarbeit wird durch einen unabhängigen Trägerverein finanziert. In der Regel teilen sich Verein, Kanton und Stadt die Finanzierung. Das Budget umfasst zwischen 100 000 und 240 000 Franken. www.fanarbeit.ch

Fanverantwortlicher

Funktion: Einen Fanverantwortlichen stellt der Club als Ansprechpartner für die Anliegen der Fans zur Verfügung. Umgekehrt dient er als Sprachrohr des Clubs zu den Fans. Die Hauptzielgruppe ist die breite Masse der Fans und weniger der harte Kern. Jeder Club in der ersten und zweiten Liga ist aufgrund der Lizenzbestimmungen dazu verpflichtet, einen Fanverantwortlichen zu beschäftigen. Die Funktion gibt es im Gegensatz zum Fanarbeiter nicht nur im Fussball, sondern auch im Eishockey.

Personalbestand: Auf dem Papier sind in der Schweiz ungefähr 40 Fanverantwortliche tätig. Die Liga prüft und inspiziert diese Position allerdings nicht. So verfügen die meisten nicht über die notwendigen Kompetenzen. Dies will die Liga in Zukunft durch strengere Auflagen bei der Ausbildung ändern.

Ausbildung: Ein Fanverantwortlicher wird vom Schweizerischen Fussballverband ab der Saison 2013/2014 dazu verpflichtet, den Zertifikatslehrgang für Sicherheits- und Fanverantwortliche zu absolvieren. Der von Swiss Olympic durchgeführte Lehrgang umfasst insgesamt acht Tage. Diese Ausbildungspflicht gibt es bisher nur in der Schweiz.

Finanzierung: Der Fanverantwortliche wird vom Verein finanziert. In der Regel ist dieser nicht fest angestellt und übernimmt die Aufgabe ehrenamtlich oder für eine Pauschalentschädigung.

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