«der arbeitsmarkt» 12/2007

Recycling und Reintegration

Die Stiftung für Arbeit in St.Gallen macht Langzeitarbeitslose fit für den ersten Arbeitsmarkt. In Bern betrachtet man das Modell an der Schnittstelle zwischen zweitem Arbeitsmarkt und freier Wirtschaft skeptisch.

Lange Zeit stand das Fabrikgebäude der alten Färberei im St.Galler Sittertal leer. Seit fünf Jahren herrscht dort wieder Betrieb, frei nach dem Motto: Zerstören, um Neues zu schaffen. Rund 300 Männer und Frauen arbeiten in der grossen Fabrikhalle. Von Hand zerlegen sie Computer, Fernseher, Monitore und Kopiergeräte in ihre Einzelteile und bilden daraus zwei Schrotthaufen. Einen mit wiederverwertbaren Einzelteilen, die chemisch oder mechanisch weiterver­arbeitet werden. Auf dem anderen liegen
die nicht verwertbaren Elektroteile, die fachgerecht entsorgt werden. Elektrorecycling nennt sich dieser an und für sich nicht aussergewöhnliche Vorgang. Eine vom Bundesrat verabschiedete Verordnung regelt die fachgerechte und umweltverträgliche Entsorgung von Elektroschrott.
Aussergewöhnlich hingegen ist die Entstehungsgeschichte der Firma im Sittertal. Was als Beschäftigungsprogramm für aus­gesteuerte Langzeitarbeitslose begann, entwickelte sich zu einer betriebswirtschaftlich organisierten Sozialfirma. 1997 gründete die Stadt St.Gallen die Stiftung für Arbeit, um der wachsenden Anzahl Langzeitarbeitsloser eine Tagesstruktur zu geben. Doch aller Anfang ist schwer. Dies spürte auch die Stiftung für Arbeit, bis zwei Veränderungen 2002 das Projekt prägten. Einerseits der ­Umzug ins Fabrikgebäude im Sittertal, wo es genügend Platz gab und das Recycling die grossen Hallen beziehen konnte. Andererseits der Einzug von Daniela Merz, der Schwiegertochter von Bundesrat Merz. Sie übernahm im Herbst 2002 die Geschäfts­leitung der Stiftung für Arbeit.
Daniela Merz erkannte das Potenzial, das in der privatwirtschaftlich organisierten Stiftung lag, und erreichte in fünf Jahren eine Versechsfachung von anfänglich 50 auf heute 300 Arbeitsplätze. Ihr Prinzip ist simpel: Wer arbeiten will, kann arbeiten. Ihre Angestellten erhalten alle einen Vertrag und Lohn. Die Löhne variieren zwischen 1000 Franken für ein 50-Prozent-Pensum und ­maximal 3400 Franken bei einer 100-Prozent-Anstellung. Das Sozialamt stockt die Teillöhne bis zum Existenzminimum auf.
Recycling ist nur eines der Geschäfte der Sozialfirma. Andere Aufträge erhält die Stiftung für Arbeit von Druckgussfirmen, die sonst ihre gesamte Produktion in Billiglohnländer in Osteuropa auslagern würden. ­«Unsere Flexibilität und die einfache Nachbearbeitung grosser Stückzahlen sind ausschlaggebend für unsere Auftraggeber. Der soziale Gedanke spielt nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger sind die Qualität un­serer Arbeit und die Einhaltung der vorgegebenen Termine», ist sich Lynn Blattmann, Verantwortliche für Integration und Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung für Arbeit, bewusst. Und das sei auch gut so. «Schliesslich wollen wir so marktnah und betriebswirtschaftlich wie möglich arbeiten. Nur so finden unsere Mitarbeitenden den Weg ­zurück in den ersten Arbeitsmarkt.» 200 von diesen haben 2006 eine Stelle im ersten ­Arbeitsmarkt gefunden. 40 Prozent sind es jährlich. Bei dieser Reintegrationsrate erstaunt es wenig, dass andere Kantone auch auf den Geschmack der marktwirtschaftlich organisierten Sozialfirma gekommen sind.
«Neben unserer Tochterfirma in Arbon betreiben wir nun auch in Zürich eine weitere Sozialfirma mit 50 Angestellten», bestätigt Lynn Blattmann. Dabei hätten sie kaum für Werbung gesorgt, ausser einer Präsentation ihrer Idee vor den kommunalen Sozial­ämtern. Auch in Bern hat man vom St.Galler Modell Wind bekommen. Das Sozialprojekt stösst in der Hauptstadt aber eher auf Skepsis denn auf Begeisterung. Beim Kompetenzzentrum für Arbeit der Stadt Bern gibt man sich allerdings diplomatisch. Überlegungen zum St.Galler Modell, zu den Themen Sozial­firma und Teillohn allgemein, seien im ­Gange. Im Moment könne aber noch nichts Konkretes gesagt werden.
Urs Schenker vom Verein für Arbeits­beschaffung arbeitet im Bereich der Sozialfirmen eng mit der Stadt Bern zusammen. Er hat Kenntnis davon, dass Stadt und Kanton sich derzeit mit dem St.Galler Modell auseinandersetzen, sieht jedoch keinen Anlass, diesen Ansatz zu forcieren. «Wir haben in Bern bereits viele Programme, die dem Prinzip einer Sozialfirma folgen und gute Integrationsraten aufweisen, auch wenn dies über die Medien nicht gleich intensiv verbreitet wird», erklärt Schenker. Er sieht die vordringlichen Aufgaben andernorts: «Es fehlen zum Beispiel umfassende Bestandesaufnahmen an den Schnittstellen zur Wirtschaft, welche eine solide Planung und gezielte Entwicklung ermöglichen würden. Grundsätzlich sollte eine Sozialfirma – ob nach dem St.Galler Modell oder einem an­deren – erst dann im Vordergrund stehen, wenn griffigere Möglichkeiten, wie zum Beispiel Teillohnmodelle nach dem System der Stadt Zürich, ausgeschöpft sind. Dies ist nach unserer Überzeugung in Stadt und Kanton Bern aber noch nicht der Fall.»
Zudem sieht Schenker Probleme beim St.Galler Modell: «Die Konkurrenz­situation zum lokalen Gewerbe ist brisant. Eine Sozial­firma finanziert sich zu 50 Prozent am Markt und zu 50 Prozent aus staatlichen oder privaten Quellen. Da diese So­zialfirma aber auch am ersten Arbeitsmarkt teilnimmt, herrschen automatisch ungleiche Bedingungen. Dies kann zu unfairem Wettbewerb führen und das lokale Gewerbe beeinträchtigen.» Der Sozialfirma in St.Gal­len habe in den Anfängen lange die Akzeptanz gefehlt. Heute funktioniere es, weil die ­Firma Nischen belege. «In Bern steht dieses Modell definitiv nicht an erster Stelle. Wenn überhaupt, ist es für uns die allerletzte
Variante, die wir in Betracht ziehen», äussert sich Schenker.
Was sagt man in St.Gallen zur Kritik aus Bern? «Es ist richtig, der Anfang war schwierig. Wir mussten viel Vertrauensarbeit leisten, um dorthin zu kommen, wo wir heute stehen», sagt Lynn Blattmann. Zur Kritik, das lokale Gewerbe zu konkurrenzieren, meint sie: «Wir beziehen unsere Aufträge fast ausschliesslich aus der Industrie, nicht aus dem lokalen Gewerbe. Das sind Aufträge, die sonst in Billiglohnländer abwandern. Wenn wir jemanden konkurrenzieren, dann sind es Firmen auf Märkten in Osteuropa.»
Lynn Blattmann spricht jedoch eine andere Konkurrenzsituation an, die nur einer Sozialfirma drohen kann. «Wir spüren die gute Wirtschaftslage in der Schweiz. Dank der Konjunktur finden deutlich mehr Arbeitskäfte wieder Stellen. Heute werden auch wieder Hilfsarbeiten angeboten. Dennoch: Wir haben immer noch genügend ­Mitarbeitende, um unsere Aufträge termingerecht und einwandfrei zu erledigen», erklärt sie und fügt an: «Da wir seit Juli 2007 ISO-zertifiziert sind, haben wir nun auch den schriftlichen Beweis, dass wir qualitativ mit dem ersten Arbeitsmarkt mithalten ­können.» ❚

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