«der arbeitsmarkt» 01/2005

Prognosen sind auch ein Willensentscheid

Alle Jahre wieder veröffentlichen die Schweizer Konjunkturforscher ihre zum Teil widersprüchlichen Prognosen. Im Gespräch mit dem «arbeitsmarkt» äussert sich CS-Analyst Martin Neff zur Kunst, in die Zukunft zu blicken, und über das Ende des Sonderfalls Schweiz.

«der arbeitsmarkt»: Herr Neff, warum wurden Sie Prognostiker?
Martin Neff: Ich bin ja nicht unbedingt Prognostiker, sondern ausgebildeter National-ökonom oder Volkswirtschafter, wie man so schön sagt. So habe ich breite Kenntnisse über gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge. Bei Credit Suisse, der ich immerhin schon mehr als zehn Jahre treu bin, finde
ich ein Arbeitsfeld vor, das mir die Möglichkeit gibt, mein Wissen breit anzuwenden und dennoch in spezifischen Gebieten, in denen wir als Bank ausgewiesenes Know-how haben, vertieft einzusetzen.

Es gibt eine ganze Reihe von Konjunkturprognosen, die zum Teil auch widersprüchlich sind. Wieso ist das so?
M.N.: Konjunkturprognosen sind anspruchsvoller, als es für manche auf den ersten Blick erscheint. Der Grund dafür ist, dass sehr verschiedene Modellansätze eingesetzt werden und diese wiederum mit verschiedenen Annahmen verbunden sind. Ein Beispiel: Wenn Sie das Wachstum der Schweiz prognostizieren möchten, müssen Sie wissen, wie sich die Weltwirtschaft entwickelt. Sie müssen unter anderem über Informationen über die Kapitalmärkte und Zinsen verfügen. Wenn die Abweichungen dieser Angaben bereits gross sind, resultieren daraus logischerweise verschiedene Konjunkturbilder. Das wiederum schlägt sich in unterschiedlichen Prognosezahlen der einzelnen Prognoseinstitute nieder. Die Unterschiede sind jedoch zum Teil signifikant.
M.N.: Nun, es gibt derzeit Leute, die etwa im Bereich der Finanzmärkte wenig Bewegung voraussehen. Daneben gibt es einerseits die traditionellen Optimisten, die zumindest mittel- und langfristig auf steigende Kurse setzen, und andererseits diejenigen, die glauben, dass wir vor einer etwas grauen Periode stehen. Es ist klar, dass aus solchen stark abweichenden Meinungen sehr konträre Prognosen resultieren.
 
Auf welche Prognosen kann man sich denn verlassen?
M.N.: Natürlich auf jene der Credit Suisse. (Lacht.) Ich glaube, dass für jeden Prognostiker irgendwann der Moment kommt, wo er sich sagen muss: «Ich habe mir ein Bild von der Konjunkturlage gemacht, und dieses vertrete ich nun gegen aussen.» Dass man zu diesem Bild gelangt, ist zum Teil innerhalb eines Betriebes wie einer Bank ein langwieriger Entscheidungsprozess. Viele Leute sind involviert, dadurch wird die Entscheidungsfindung auch komplexer. Schlussendlich ist man festgelegt, und dieses Bild trägt man dann auch auf den Markt.

Die Daten, die Prognostiker uns zur Verfügung stellen, basieren auf Vergangenheitswerten. Wie kann man von diesen  auf die Zukunft schliessen?
M.N.: Es kommt immer darauf an, was man prognostiziert – und heute neigt man dazu, eigentlich fast alles zu prognostizieren. In meinem Bereich beschränken wir uns auf die wichtigsten Wirtschaftsindikatoren. Das sind Wachstum, Inflation, zum Teil auch der Arbeitsmarkt. Natürlich kann man innerhalb dieser drei Kategorien noch tiefer schürfen. Doch es gibt gewisse Dinge, die schlichtweg nicht vorhersehbar sind, wie zum Beispiel das Verhalten der Menschen.

Kann es sein, dass die Prognosen früher zuverlässiger waren?
M.N.: Ich glaube, die Qualität der Prognosen hat sich in den letzten Jahren weder enorm verbessert noch verschlechtert. In gewissen Zyklen prognostiziert man etwas besser, in anderen etwas schlechter. Prognosen sind auch ein Willensentscheid und nicht nur ein rationaler Prozess. Wir sind alle nur Menschen, deshalb spielen individuelle Argumente ebenfalls eine Rolle.

Wie steht es wirtschaftlich um die Schweiz?
M.N.: Wir befinden uns in der Schweiz in einer Zeit schwächerer Wachstumsraten, höherer Arbeitslosenzahlen und tiefer Teuerungsraten. Wenn Sie diese Zeit mit den klassischen Konjunkturzyklen der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre vergleichen, heisst das, dass die Konjunkturausschläge absolut gesehen nicht mehr so extrem sind. Wir verzeichnen also weder massive Einbrüche noch enorme Boomperioden. Die heutigen Zyklen sind einmal schwach minus oder einmal schwach plus. Das Ganze plätschert etwas friedlicher vor sich hin, als dies noch vor zehn, fünfzehn Jahren der Fall war.

Wie lässt sich das Wachstum steigern?
M.N.: Die Schweiz ist auf einem derart hohen Wohlstandsniveau angelangt, dass es schwierig ist, noch weiter zu wachsen, vor allem in dem Ausmass zu wachsen, wie das in früheren Perioden der Fall war. Mit der Sättigung in Deutschland und dem Wegfall des Motors «Wirtschaftswunder Deutschland» ist einer der wichtigsten Impulse für die Schweizer Volkswirtschaft weggefallen. Deshalb befinden wir uns auch in
einer Phase der Umorientierung. Bereits in den Neunzigerjahren haben wir sehr viel stärker in Richtung USA exportiert als beispielsweise in traditionelle Märkte wie Europa, und es würde mich nicht wundern, wenn in zehn bis fünfzehn Jahren der grösste Anteil unserer Exporte nicht mehr nach Europa, sondern nach Übersee, in die USA und vor allem in Länder wie China und Indien, fliessen würde.

Apropos USA: Wie wird sich die zukünftige Wirtschaftspolitik von Präsident George W.Bush auswirken?
M.N.: 2004 war ein Jahr, in dem die Unsicherheiten stetig zunahmen. Mit dem Datum der Präsidentenwahl sind diese vom Tisch. Die erste Amtsperiode von Präsident  Bush stand sehr viel stärker im Zeichen
internationaler Aktivitäten als binnenwirtschaftlicher und vor allem auch wirtschaftspolitischer Massnahmen. Um diese wird er künftig nicht mehr herumkommen. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass jeder amerikanische Präsident einen wirtschaftspolitischen Erfolgsnachweis erbringen muss. Wird es somit positive Impulse seitens der US-Wirtschaftspolitik geben?
M.N.: Ich würde sagen, die «bad news» der vergangenen Amtsperiode Bushs, die in Europa auf Skepsis stiessen, sind tendenziell vorbei.

Wie schätzen Sie die Prognosen für das Jahr 2005 in der Schweiz ein?
M.N.: Das eigentlich Spannende ist, dass es Abweichungen bezüglich des Konjunkturverlaufs gibt. Wir haben beispielsweise für 2005 ein schwächeres Wachstum prognostiziert als für 2004. Doch es gibt noch einige, die das etwas anders sehen. Die Gründe liegen darin, dass wir im Gegensatz zu anderen Prognoseinstituten von einer weltweiten Konjunkturabschwächung ausgehen, von einer Konsolidierung in den USA, die aber dann wieder auf einen höheren Wachstumspfad zurückfinden dürfte, und von der Tatsache, dass Europa doch etwas länger braucht, um auf ein nachhaltiges Wachstum einzuschwenken.

Man ist davon ausgegangen, dass die Arbeitslosenrate im Jahr 2004 zurückgehen wird. Sie bewegt sich aber auf gleich bleibendem, wenn nicht sogar leicht höherem Niveau. Wieso schlägt sich die Konjunkturbelebung nicht wirklich in sinkenden Arbeitslosenzahlen nieder?
M.N.: Dazu braucht es schon ein bisschen mehr als ein einziges Jahr mit Wachstum. Zudem ist ein höheres und vor allem auch ein nachhaltigeres Wachstum nötig. Wenn sich gewisse graue Wolken am Horizont
abzeichnen und man damit rechnen muss, dass daraus im Folgejahr eine Wachstumsabschwächung resultiert, ist man natürlich zurückhaltend mit der Einstellung neuer Arbeitskräfte. Diese Entwicklung sehen wir vor allem seit der Jahrtausendwende relativ deutlich. Wir haben keine Perioden mit drei bis fünf Jahren anständigen Wachstums mehr zu verzeichnen. Die ganzen Pufferfunktionen früherer Zyklen fallen allmählich weg. Das führt dazu, dass die Kosten im Fokus der Unternehmungen stehen. Und die Lohnkosten sind dabei ein relevanter Teil.

Sie haben Anfang Oktober ein Referat zum Thema «Arbeitsmarkt Schweiz – Ende des Sonderfalls» gehalten. Dabei haben Sie sich auch zur erhöhten Erwerbstätigkeit der Frauen geäussert.
M.N.: Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen – übrigens kein Schweizer Phänomen – ist mit ein Grund, dass es an Arbeitsplätzen fehlt. Wenn ich von Sonderfall spreche, rede ich auch von der Rolle der ausländischen Arbeitskräfte. Sie waren früher die Manövriermasse des Arbeitsmarkts. Mit ihrer zunehmenden Integration nicht nur in den Arbeitsmarkt, sondern in das ganze soziale und politische Leben der Schweiz fällt dieser Puffer weg. Man kann dies am Bau- oder Gastgewerbe wunderbar veranschaulichen. Diese Branchen haben früher vor allem Saisoniers beschäftigt. Die grossen Rezessionen konnten sie so ohne jeglichen Stellenabbau überstehen. Der zweite Puffer, und das haben wir vor allem zu Anfang der Neunzigerjahre erlebt, ist die Kurzarbeit, die ebenfalls wegfällt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden während der Kurzarbeit zwar knapp gehalten, aber sie wurden zumindest gehalten. Nun stellt sich heraus, dass die Zyklen immer kürzer werden. Kleinere Einbrüche werden zwar schnell durch leichte Expansionsphasen abgelöst, diese sind jedoch weder vehement noch nachhaltig. Das hat dazu geführt, dass die Kurzarbeit keine Pufferfunktion mehr erfüllen kann. Rationalisierungs- und Kostenüberlegungen wie auch ein höheres Anforderungsprofil der
Arbeitgeber an ihre Arbeitnehmer spielen ebenfalls eine Rolle.

Was heisst das konkret für jemanden, der eine Arbeit suchen muss? Wie lautet das beste Rezept für eine erfolgreiche Stellensuche?
M.N.: Die Ökonomie gibt da ziemlich einfache Antworten. Wenn das Angebot überdurchschnittlich steigt und die Nachfrage stagniert, muss in der Regel der Preis sinken. Der Preis auf dem Arbeitsmarkt sind die Löhne. Die Löhne in der Schweiz sind hoch. Das lässt sich zweifellos konstatieren, gerade im internationalen Vergleich. Allerdings sind Lohnsenkungen generell sehr unattraktiv, und ein gesamtschweizerisches Lohnniveau zu senken, ist ohnehin ein riesiges Politikum. Bezogen auf den einzelnen Arbeitslosen oder Erwerbstätigen stellt sich, so hart es auch tönt, natürlich schon die Frage, ob es auf die Länge klug ist, das aktuelle Lohnniveau als sakrosankt zu betrachten. Der zweite Punkt ist Bildung. Man kommt nicht darum herum, die Halbwertszeit des Wissens aufzufangen. Sie profitieren vielleicht noch in 20 Jahren von etwa knapp der Hälfte Ihres Schulwissens. Ihre Fachausbildung haben Sie in der Regel nach drei bis höchstens zehn Jahren mindestens zur Hälfte vergessen. Denken Sie an Berufe der Informatik oder an wirklich schnelllebige, innovative Branchen. Da heisst es «learning by doing».

Die Credit Suisse prognostiziert für das Jahr 2005 eine Arbeitslosenrate von 3,6 Prozent.
M.N.: Ja. Das heisst einen ganz leichten Rückgang gegenüber den heutigen durchschnittlichen 3,8 Prozent. Aber es geht nicht um 0,2 Prozent mehr oder weniger Arbeitslosenrate. Die Botschaft, die wir irgendwo implantieren, ist, dass die Sockelarbeitslosigkeit in Zukunft deutlich höher sein wird, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wenn wir von Sockelarbeitslosigkeit sprechen, meinen wir die so genannte strukturelle und friktionale Arbeitslosigkeit. Der Strukturwandel führt dazu, dass vorübergehend Arbeitskräfte freigesetzt werden, die nach einer gewissen Zeit wieder einen Job finden – allenfalls in einer anderen Branche. Friktional bedeutet, dass im Zuge des Wandels oder einer vorübergehenden Anpassung von Kapazitäten so genannte Friktionen entstehen, die dann auch beim Arbeitsmarkt Auswirkungen haben. Gemessen an früheren Relationen muss man sich vielleicht an die Drei vor dem Komma gewöhnen. Wobei dies im Vergleich zum
umliegenden Ausland nach wie vor ein Sonderfall ist.

Sonderfall im Sinn, dass die Arbeitslosenrate nach wie vor niedrig ist?
M.N.: Ja, niedrig, sehr niedrig.

Was halten Sie davon, dass Arbeitgeber die Arbeitszeit verlängern, um die Produktivität zu steigern?
M.N.: Ich habe schon so viele Leute gehört, die über dieses Thema diskutieren. Man muss leider sagen, dass sehr viele Leute das einfach mal so «rausproleten», ohne sich Gedanken darüber zu machen, was das eigentlich bedeutet. Wichtig ist nicht, ob man die Arbeitszeit erhöht. Wichtig ist, ob man die Arbeitszeit erhöht bei gleichzeitigem Reallohnplus oder die Löhne gleich lässt. Wenn Sie die Arbeitszeiten erhöhen und den Lohn gleich lassen, senken Sie konkret den Reallohn, was theoretisch eine gewisse Entspannung bedeuten kann. Aber wir reden hier nicht von Lohneinbussen von 1 bis 2 Prozent. Das hilft der Wirtschaft nicht auf die Sprünge.

Was dann?
M.N.: Wenn, dann müsste man sich mit einer tiefer gehenden Arbeitsmarktreform auseinander setzen, und diese gelingt nicht allein über die Verlängerung der Arbeitszeit. Es braucht mehr. Es geht um den Einsatz
von optimalen Produktionsfaktoren. Nehmen wir einmal das klassische Beispiel Landwirtschaft. Die Schweizer Landwirtschaft ist technologisch derart hochgerüstet, und trotzdem erhält der Bauer für die Produkte nichts. Das ist ein Wettlauf, ein Kampf gegen Windmühlen. Der Bauer kann noch so viel rationalisieren – das,
was er an Produktivität zusätzlich hereinholt, muss er eins zu eins weitergeben und kann nicht irgendwelche Margen einbauen.
 
Wie steht es nun konkret mit den Lohnsenkungen?
M.N.: Die Lohnsenkung ist vermeintlich ein tolles Rezept. Wenn die Löhne sinken, müssen auch die Preise mittelfristig sinken. Wenn die Löhne sinken, sinkt die Kaufkraft. Und wenn die Kaufkraft sinkt, heisst das konkret, dass alle Geschäfte in der Schweiz weniger Umsätze realisieren. Alle Produzenten, Importeure, Händler dieser Geschäfte können weniger ausliefern. Dies löst eine Kette aus. Die Frage lautet also: Wie halte
ich die Umsätze? Die Menge muss steigen, aber das schaffe ich nicht, wenn die Leute weniger Geld zur Verfügung haben. Ich muss also mit den Preisen herunter und hoffe, dadurch mehr Menge abzusetzen, um somit die Umsätze halten zu können. Diese Rechnung geht auf Dauer aber nicht auf. Das heisst zusammengefasst, es muss in irgendeiner Form eine Reaktion auf der Preisseite geben, wenn lohnmässig etwas passiert. Und das wiederum bedeutet, dass auch wohlstandsmässig etwas geschieht.

Das bedeutet einen niedrigeren Wohlstand.
M.N.: Das würde heissen, der niedrige Wohlstand ist erkauft. Es sei denn, man gewinnt über die Produktivität Weltmarktanteile oder geht in eine höhere Wertschöpfungsstufe und generiert damit höheres Wachstum, wovon schlussendlich die gesamte Wirtschaft profitiert. Aber diese Rechnung ist sehr komplex.
 
Leben Sie manchmal nicht in einem «gefährlichen» Job? Man stützt sich auf Ihre Worte und Prognosen.
M.N.: Ich würde es mit der Medizin vergleichen. Wenn ein Chefchirurg eine Herztransplantation durchführt und somit enorme Auswirkungen auf menschliches Leben ausübt, versagt, dann ist dieses Versagen wahrscheinlich absolut tödlich für seine Karriere. Die Bedeutung von Prognosen mit einer Herztransplantation zu vergleichen, ist offensichtlich übertrieben. Mein Berufsrisiko ist etwa so gross wie das eines Allgemeinmediziners. Man braucht ihn, man fragt ihn um Rat. Hin und wieder therapiert man sich aber auch selbst. 

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