«der arbeitsmarkt» 10/2011

Pendeln und Mobilität: Immer mehr, immer weiter

In den letzten Jahren haben sich Tempo und Frequenz des Pendelns intensiviert. Am immer grösseren Verkehrsaufkommen sind aber nicht allein die Pendler schuld.

Zwei von drei Personen, die heute zur Arbeit fahren, verlassen ihre Wohngemeinde: sie pendeln. Das sind so viele wie noch nie. Angefangen habe die «Pendlerisierung der Erwerbstätigen» in den 50er-Jahren, als sich Unternehmen in Industriezonen ausserhalb der Städte ansiedelten, sagt Vincent Kaufmann, Professor für urbane Soziologie und Mobilität am Polytechnikum Lausanne. Der Bau der Autobahnen in den 70er- und die Förderung des öffentlichen Verkehrs in den 80er-Jahren trieben sie weiter voran. Eigentlich wollte der Bund damit die Wegzeiten verkürzen. «Doch die Menschen nutzten die gesparte Zeit, um grössere Strecken zwischen Wohn- und Arbeitsort zurückzulegen.»

In der Tat sind Erwerbstätige heutzutage nicht länger unterwegs als vor vierzig Jahren, auch wenn sie über immer grössere Distanzen pendeln: Mehr als 3600 Kilometer waren es laut den neusten Zahlen des Bundesamts für Statistik (BfS) durchschnittlich im Jahr 2005; heuer dürften es nochmals deutlich mehr sein. Markant gestiegen ist die Zahl der Langstreckenpendler ab den 90er-Jahren. In den Jahren der wirtschaftlichen Stagnation bis 1997 begannen Arbeitnehmende, den Radius ihrer Stellensuche stark auszuweiten – neu, ohne den Wohnort zu wechseln. «Bis vor zwanzig Jahren ist man umgezogen, wenn man als Lausanner eine Stelle in Bern antrat. Heute ist man sesshaft und steigt stattdessen zweimal pro Tag in den Zug», sagt Kaufmann. Von Firmenseite gelte der Imperativ: «Sei mobil, wenn du Karriere machen willst!» Kaderleute sind denn auch überdurchschnittlich mobil, wie aus einer aktuellen Studie des BfS hervorgeht.

Polyzentrischer Lebensstil

Der gewichtige Dienstleistungssektor hat laut dem Verkehrsexperten und ETH-Dozenten Peter de Haan entscheidend zur Mobilität der Erwerbstätigen beigetragen. Die Entwicklung von einer landwirtschaftlich geprägten Schweiz hin zur Dienstleistungsgesellschaft habe eine Spezialisierung der Arbeitskräfte bewirkt. Und das wiederum führte und führe zu mehr Mobilität. Damit einher ging in den letzten 15 Jahren eine Konzentration der Arbeitsplätze im städtischen Raum: Dienstleistungsaktivitäten entwickeln sich bevorzugt an zentralen Orten, primär in Kernstädten grösserer Agglomerationen, wie Studien des Bundesamts für Raumentwicklung (are) zeigen. Wer im dritten Sektor arbeitet, pendelt vor allem in die drei Metropolräume Zürich, Genf–Lausanne und Basel sowie in die Hauptstadtregion Bern.

Arbeitsweg kann Genuss oder Strapaze sein

Schmerzgrenze Wo liegt bei Berufstätigen die «Pendel-Schmerzgrenze»? «Bis zu einer Stunde für den einfachen Weg ist zumutbar», sagt die Psychologin Simone Grebner. Sie beschäftigt sich im «Institut Mensch in komplexen Systemen» an der Fachhochschule Nordwestschweiz mit Themen wie Work-Life-Balance und Stress am Arbeitsplatz. «Allerdings sieht das bei Leuten mit kleinen Kindern oder anderen Betreuungspflichten etwas anders aus. Die Absenz von Freizeit und Familie kann ihren Tribut fordern.» Es komme auch auf die Umstände des Pendelns an. «Wenn ausserhalb der Hauptverkehrszeiten gependelt oder die Pendelzeit als Arbeitszeit genutzt werden kann, dann ist mehr zumutbar», sagt Grebner. Der Mensch benötige Erholungsphasen, um psychisch und physisch gesund zu bleiben.

Glücksforschung Macht Pendeln grundsätzlich unglücklich? Die Meinungen gehen auseinander. Nein, sagt eine im Juni von der Zürcher Kalaidos Fachhochschule veröffentlichte Studie zum Befinden der Pendlerinnen und Pendler in der Schweiz. Ob Arbeitnehmende glücklich sind oder nicht, hänge von anderen Faktoren ab: von der Arbeitsstelle, der Wohnsituation, vom Sozial- und Familienleben und von der Gesundheit. Der Einfluss des Pendelns auf das Glück sei sehr klein und statistisch kaum bedeutsam. Die Studie bewertet auch die Verkehrsmittel: Am glücklichsten sind jene Arbeitnehmenden, die mit dem Velo zur Arbeit gelangen. An zweiter Stelle kommen die Autofahrer; sie sind wesentlich glücklicher als die ÖV-Pendler. Äusserungen der ÖV-Benutzer lassen vermuten, dass sie die «gefühlte Kontrolle» über ihr Verkehrsmittel vermissen. Im Gegensatz zur Kalaidos-Studie wird in älteren Untersuchungen das Fazit gezogen, dass Pendeln für die Beteiligten tendenziell ein unangenehmes Erlebnis ist, egal, ob sie mit Zug oder Privatfahrzeug unterwegs sind. Eine der Studien stammt von der Universität Zürich. Der Stress des Pendelns lohne sich nicht, schrieben die Ökonomen Bruno Stutzer und Bruno S. Frey 2004. Eine gut bezahlte Arbeit oder eine besonders schöne Wohnung könnten den Aufwand zwar aufwiegen. Befragungen deutscher Haushalte hätten aber gezeigt, dass Pendler nachweislich unzufriedener mit ihren Lebensumständen sind als Personen mit kurzem Arbeitsweg. Pendeln koste nicht nur Zeit und Geld, sondern belaste auch das Zusammenspiel von Familie und Beruf, die Gesundheit und die Zufriedenheit.

Der polyzentrische Lebensstil, bei dem man Stelle und Arbeitsort wechselt und am selben Ort wohnen bleibt, setzt sich immer stärker durch. Das kann so aussehen: Eine international tätige Firma mit Sitz in Zürich sucht einen Software-Ingenieur, der fliessend Arabisch spricht. Der beste Kandidat stammt aus Frankreich, wohnt in Süddeutschland und entschliesst sich, mit seiner Familie über die Grenze in den Kanton Thurgau zu ziehen. Eineinhalb Stunden wird er täglich brauchen, um von der Haus- zur Bürotür zu gelangen. Der Bauer, der in der gleichen Gemeinde wie der Ingenieur sesshaft ist, auf dem eigenen Grund wohnt und arbeitet und nicht pendelt, gehört als Produzent zu einer Minderheit. Wie der Software-Ingenieur haben immer mehr Menschen in der Schweiz mehr als einen geografischen Lebensmittelpunkt.

Mehrheitlich Autopendler

Jahrzehntelang wurde das Auto als Verkehrsmittel kontinuierlich beliebter; im Jahr 2000 waren fast 55 Prozent Autopendler, allen voran benutzen Selbständigerwerbende das Privatfahrzeug. Jetzt scheint sich eine Wende anzudeuten: «Für lange Strecken bevorzugen Pendler stärker den Zug», sagt Vincent Kaufmann. Das gehe auf das massiv ausgebaute Angebot mit dem Projekt Bahn 2000 zurück.

Die höheren Geschwindigkeiten respektive die Tatsache, dass bei gleichem Zeitaufwand mehr Personen transportiert werden können, führen laut Peter de Haan zu Mehrverkehr auf der Schiene. Und die höhere Kapazität, wie bei der Steigerung vom Halbstunden- zum Viertelstundentakt in der S-Bahn, fördere die Verlagerung weg von der Strasse. Die Bahn werde in den nächsten Jahren zwar weiter an Bedeutung gewinnen, schätzt das are in einer Studie über die Perspektiven des Personenverkehrs bis 2030. Die grössten Zuwachsraten habe sie aber bereits mit der ersten Etappe der Bahn 2000 vollzogen. Und das Bundesamt relativiert: An der Dominanz des Privatfahrzeugs werde sich in den nächsten Jahren nicht viel ändern.

Teures Schienennetz, teurere Strasse

Da sich die Pendlerströme immer stärker um die vier Grossagglomerationen konzentrieren, kommt es hier zu Engpässen: auf der Strasse, weil sich rund jeder vierte Arbeitsplatz ausserhalb des Stadtzentrums befindet und mit dem Auto rascher erreichbar ist. Und auf der Schiene: Das grösste Einzugsgebiet, Zürich, prognostizierte unlängst für seinen Wirtschaftsraum ein Wachstum des öffentlichen Verkehrs von 23 Prozent von 1995 bis 2025 – im S-Bahn-Bereich soll die Nachfrage gar um 30 Prozent ansteigen. Zur Debatte steht, wie weit das Rollmaterial noch ausgelastet werden kann. Zu Spitzenzeiten sind S-Bahn-Linien wie die von Zürich nach Winterthur zu 80 Prozent und mehr ausgelastet. Auf einigen Streckenabschnitten gibt es zu Stosszeiten keine freien Sitzplätze.

Weil immer mehr Züge fahren, erhöhen sich die Unterhalts- und Erneuerungskosten der Schienen. Ende August gab der Bundesrat bekannt, dass die Bahnen ab 2013 mehr bezahlen sollen, um das Schienennetz zu nutzen. Das wird sich auf die Preise der Billette auswirken, die um bis zu neun Prozent teurer werden sollen. Bereits für 2017 ist die nächste Erhöhung der Trassenpreise geplant. Offen ist, wie sich die Mehrkosten auf die einzelnen Billettkategorien niederschlagen. Stark betroffen dürften die Pendler sein, denn der Bund erhöht die Trassenpreise unter anderem je nach Tageszeiten. Damit wolle er Anreize setzen, damit die Bahninfrastruktur besser ausgelastet werde, hiess es in einer Medienmitteilung. Anfang Jahr hatte Verkehrsministerin Doris Leuthard angekündigt, dass Zug- wie Autopendler nur noch die Fahrspesen innerhalb der Wohnregion von den Steuern abziehen dürfen. Auch sollen Benzin und Autobahnvignette teurer werden. Letzteres wurde zumindest für 2012 bereits wieder verworfen.

Allgemeinheit trägt die Kosten

Doch inwieweit sorgen Arbeitspendler tatsächlich für das Verkehrsaufkommen? Mit ihren 71 000 Kilometern Strasse und 5100 Bahnkilometern verfügt die Schweiz über eines der dichtesten Strassen- und Schienennetze weltweit. Heute sind die Menschen hierzulande täglich fast 100 Minuten unterwegs. Die dreissig Minuten, die sie länger mobil sind verglichen mit 1984, gehen an die Freizeitgestaltung. Und dafür nutzen sie vor allem das Auto. Fast die Hälfte – und damit den grössten Teil des Personenverkehrs in den Agglomerationen – macht der Freizeitverkehr aus. Erst an zweiter Stelle stehen die Arbeitswege mit 27 Prozent, an dritter die Einkaufswege.

Ihre Mobilität kommt die Schweizerinnen und Schweizer teuer zu stehen: Die volkswirtschaftlichen Kosten des Verkehrs, also die von den Verursachern, der öffentlichen Hand oder Drittpersonen bezahlten Beträge sowie die nichtmonetären Kosten wie Umwelt- und Lärmbelastungen, beliefen sich im Jahr 2005 laut BfS auf fast 82 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandprodukt betrug im gleichen Jahr 463 Milliarden Franken. Die Mobilität kostet mehr als etwa das Gesundheitswesen oder das öffentliche Bildungssystem. Der Schienenverkehr verursacht jedoch nur ein Sechstel der Verkehrskosten, den Rest verschuldet der Strassenverkehr, davon mehr als die Hälfte der private Personenverkehr. Autos verursachen im Vergleich zum Personenverkehr auf Schienen auch dreimal so hohe externe Kosten, die nicht der Verursacher, sondern die Allgemeinheit trägt.

Ein externer Kostenfaktor ist die Umweltbelastung. Der Strassenverkehr verbraucht ein Vielfaches an Energie und Fläche – ganz zu schweigen von den Immissionen. Nur 0,2 Prozent der CO2-Emissionen im Verkehr entfallen laut BfS auf die Bahn. Die Elektromotoren der Lokomotiven sind zudem rund dreieinhalb Mal effizienter als Verbrennungsmotoren. «Entsprechend konsumieren Züge lediglich vier Prozent der Energie, die der Verkehr jährlich verbraucht», sagt Franziska Teuscher, Zentralpräsidentin des Verkehrs-Clubs der Schweiz. «Die Bahn verbraucht zudem neun Mal weniger Boden, um dieselbe Anzahl Fahrgäste zu befördern.»

Home Office: Pendeln eliminiert

Aktionstag «Der kürzeste Weg zu mehr Zeit» ist der Slogan des Home Office Day. Am 19. Mai arbeiteten während dieses nationalen Aktionstages 40 790 Menschen zu Hause und erzielten dadurch einen Zeitgewinn von 908 Arbeitstagen. Dieser Erfolg zeigt: Das Büro in den eigenen vier Wänden hat Zukunft und könnte Pendlerprobleme wie überfüllte Züge oder lange Arbeitswege entschärfen. Das gilt zumindest für Branchen wie IT und Software, in denen autonomes und dezentralisiertes Arbeiten möglich ist. Für die Industrie oder Dienstleistungsfirmen, bei denen die Kundenberatung am Firmensitz einen hohen Stellenwert hat, wird der flexible Arbeitsplatz mittelfristig nicht möglich sein.

Vernetzung Der Home Office Day wird von namhaften Trägern wie Microsoft Schweiz, SBB und Swisscom gefördert. Diese und andere Unternehmen bieten einem Teil ihrer Mitarbeitenden an, zu Hause zu arbeiten. Beim Computer- und Softwarehersteller IBM ist das Home-Office-Modell schon weit fortgeschritten. «98 Prozent der Mitarbeitenden haben flexible Arbeitsplätze. Home Office ist Teil der Arbeitskultur und wurde in Schritten über eine Dauer von zehn Jahren eingeführt», erklärt Susan Orozco, Pressesprecherin von IBM Schweiz. Ermöglicht wurde der flexible Arbeitsplatz durch moderne Vernetzung, mobile Geräte und Prozesse. Zu Hause arbeiten sei beliebt: «Mehr als 50 Prozent der Angestellten arbeiten zwei oder mehr Tage nicht am IBM-Arbeitsplatz.» Das Unternehmen habe so unter anderem seine Arbeitsplatzkosten reduzieren können, weil mehrere Mitarbeitende einen Desk nutzen können. Verloren gehe dagegen ein gewisser «Geborgenheitsfaktor», so Orozco. Um auch häufig zu Hause arbeitenden Angestellten die Zugehörigkeit zum Unternehmen zu signalisieren, finden regelmässige Teamevents statt. 

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