«der arbeitsmarkt» 07/2005

Pendeln schadet Ihrer Gesundheit

Neue Untersuchungen wollen beweisen, dass die tägliche Fahrt zur Arbeit die Gesundheit gefährdet. Was sagen die Betroffenen selbst dazu? «der arbeitsmarkt» hat sich unter Pendlern umgehört.

«Pendeln macht krank, einsam und unproduktiv», titelte vor kurzem die Wirtschaftszeitung «Cash» und zitierte Norbert Schneider, Professor am Institut für Soziologie der Universität Mainz: «Pendler, die rund eine Stunde oder mehr pro Weg brauchen, sind weniger gut in ein soziales Umfeld integriert.» Aber auch Schweizer Forscher schlagen Alarm. Die Ökonomen Alois Stutzer und Bruno S.Frey analysierten Befragungen deutscher
Haushalte, die über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren durchgeführt wurden. Dabei stellten sie einen
Zusammenhang zwischen dem Zufriedenheitsgrad und der Dauer des Arbeitsweges fest. Je länger jemand unterwegs sei, desto grösser sei die Wahrscheinlichkeit, negativ darauf zu reagieren. Die Liste der Beschwerden reicht von Bluthochdruck über Magen-Darm-Probleme bis hin zu Schlafstörungen.
Wenn es um den Entscheid für den Arbeitsort gehe, denken Leute hauptsächlich in der Kategorie «materielle Werte», so Alois Stutzer gegenüber dem «arbeitsmarkt». Mehr Lohn oder die Möglichkeit, die Fahrtkosten von
der Steuer abzusetzen, würden als Vorteile betrachtet. Andere Aspekte wie mangelnde Zeit für Freunde oder
die Familie würden dagegen ausgeblendet.

Doppelter Espresso und prall gefüllte Einkaufstaschen

Barbara Fässler hat rund 15 Pendlerjahre hinter sich. Die 47-jährige Bibliothekarin arbeitet in Zürich im Sozialarchiv und lebt in Frauenfeld. Dort ist sie aufgewachsen, in Zürich hat sie studiert. Täglich ist sie zwei Stunden unterwegs. Einsam? «Ich habe durch das Pendeln sehr viele Menschen kennen gelernt», erzählt sie. Bei ihr erfülle die abendliche Fahrt nach der Arbeit eine Feierabendbier-Funktion. Man sehe oft die gleichen
Gesichter und komme automatisch ins Gespräch. Barbara Fässler hat dadurch so manche Bekanntschaft geschlossen, die sie auf keinen Fall missen möchte. Sie schätzt es, dass Wohn- und Arbeitsort getrennt sind. Früher habe sie einmal als Lehrerin in Frauenfeld selbst gearbeitet, das Schulhaus war zu Fuss in fünf Minuten zu erreichen. Als tendenzielle «Workaholic» sei sie oftmals am Abend wieder an ihren Arbeitsort zurückgekehrt, um irgendetwas zu erledigen. Wenn sie jetzt nach Feierabend auf den Zug geht, bringt sie «einen Weg hinter sich». In Frauenfeld angekommen, liegt Zürich auch innerlich weit hinter ihr. So könne sie besser abschalten. Der allmorgendliche Zeitverlust, die eine Stunde, die sie früher aufstehen muss, stört sie nicht. Sie brauche sowieso eine Stunde, um zu sich zu kommen. Der Morgenkaffee und die Zeitung – das gehöre dazu, anstatt zu Hause halt im Zug. Apropos Kaffee: Fässler erzählt, dass sie immer einen doppelten Espresso trinke. Eines Abends vergass sie zwei prall gefüllte Einkaufstaschen im Speisewagen. Am nächsten Morgen überreichte ihr der Kellner – ein anderer als am Abend zuvor – strahlend die Einkaufstüten, auf denen in fetten Lettern «doppelter Espresso» geschrieben stand. Da ihr Standardgetränk über die Jahre den Kellnern geläufig wurde, reichte der Vermerk, damit sie ihren vermeintlich verlorenen Wocheneinkauf zurückerhielt. Wenn die Bibliothekarin allerdings in Frauenfeld ankommt und die anderen Pendler sieht, die nochmals eine Dreiviertelstunde weiter nach Romanshorn fahren, kommen auch bei ihr Zweifel auf, ob sie sich das antun würde.

Kuhglockengebimmel als Antistressmittel

Michael Bommeli tut sich das an. Er fährt zwar nicht nach Romanshorn, aber jeden Abend von Zürich nach Wylen bei Herdern, so der Name des Weilers auf dem Thurgauer Seerücken, wo öffentliche Verkehrsmittel rar sind. Bommeli ist Teamleader in einer Inkassofirma, Arbeitsort Zürich. Pro Tag ist er zweieinhalb Stunden mit dem Auto unterwegs, zwischen 6.30 und 7.00 Uhr morgens fährt er jeweils los. Der 38-Jährige pendelt seit fünf Jahren. In Zürich gebe es nun mal die besseren Jobs, und klar, er verdiene mehr als auf dem Land. Belastet ihn der lange Arbeitsweg? Hat er sich zum Beispiel schon Gedanken darüber gemacht, nach Zürich zu ziehen?
Eigentlich nicht, meint Bommeli. Er hätte Angst, dass er in solch einem Falle der klassische «Heimweh-Thurgauer» wäre. Er schätzt die Stadt, geht auch oft noch am Wochenende nach Zürich in den Ausgang. Bommeli liebt Techno. Ab und zu legt er in Zürcher Clubs Platten auf. Für ihn ist Zürich Hektik, Dampf ablassen – sei es bei der Arbeit oder in seiner Freizeit. Das gefällt ihm, aber ebenso schätzt er die Lebensqualität, die ihm sein geliebter Seerücken bietet. «Gute Nachbarn, Ruhe, frische Luft, kein Stress, kein Lärm.» Wenn er nach einem stressigen Arbeitstag nach Hause kommt, öffnet er die Fenster, wirft sich aufs Sofa und hört Kuhglocken.
«Was will ich mehr. Ich brauche das, besser kann ich nicht abschalten.» O.k., er müsse früh aufstehen, aber das sei Gewöhnungssache. Und wie steht es um die allmorgendliche Fahrt auf der Autobahn nach Zürich hinein und dem Kampf um einen Parkplatz? Er habe einen in seinem Geschäft, das sei schon mal kein Problem.
Die Rushhour sei wirklich die Hölle, aber die umgehe er, indem er früh losfahre. Er sei auch jahrelang mit
der Bahn gependelt, aber das bedeutete für ihn mehr Stress. Erst müsste er mit dem Velo ins nächste Dorf
fahren und von dort den Bus nach Frauenfeld und in Zürich das Tram nehmen – dann wäre er mindestens drei Stunden unterwegs.
Für Bommeli ist das Auto seine «private Oase», er kann Musik hören und ist nach den Radionachrichten bereits früh am Morgen informiert. Abgesehen davon werde er als Raucher förmlich ins Auto gedrängt. Es gebe immer weniger Raucherabteile in den Zügen, vielleicht bald überhaupt keine mehr. Dann kämen für ihn die öffentlichen Verkehrsmittel überhaupt nicht mehr in Frage. Und zu guter Letzt komme ihn das Auto nur wenig teurer zu stehen als ein GA. Er schätzt definitiv die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsort, zwischen Hektik und Landidylle. Der Frieden, den er an seinem Wohnort findet, ist ihm das Wichtigste. Das Pendeln – was solls, das sei halt so.

Feierabendbierchen auf dem Heimweg

Wo sind sie nun, die kranken Pendler? Sven Rosemann, 38-jähriger Pendler mit Arbeitsort Zürich, schüttelt lächelnd den Kopf. «Tut mir leid, aber damit kann ich nicht dienen.» Sein Wohnort ist Bettswil bei Bäretswil im Zürcher Oberland. Öffentliche Verkehrsmittel gibts dort nicht. Ein Ort, den auch die boomende Kommunikationsbranche bisher ignoriert und den PR-Redaktor Rosemann somit unweigerlich nach Zürich getrieben hat. Er arbeitet dort beim Migros-Magazin. Täglich ist er rund zwei Stunden unterwegs. Das einzig Nervende sei, dass er bis nach Wetzikon das Auto nehmen müsse. Er hat genug vom Autofahren. Wenn er Pech habe, schleiche irgendein Heuwagen vor ihm her und er laufe Gefahr, die S-Bahn zu verpassen. Aber das sei ja kein wirkliches Problem. Rosemann lebt mit seiner Freundin in einem alten Bauernhaus mit grossem Garten. Katzen tollen herum, Hasen hoppeln aus dem Stall. «Ab und zu landet einer in der Pfanne.» Auch für Rosemann ist die Trennung von Wohn- und Arbeitsort positiv. Er bringe mit jeder Heimfahrt auch eine innerliche Distanz zur Arbeitshektik hinter sich. Wenn er heimkommt, geht er oft zuerst mal in den Garten. Dort baut er Salat, Kräuter, Beeren, Tee, Zwiebeln, Kürbisse und weiss Gott was alles an. «Bin ich in meinem Garten, vergesse ich den ganzen Stress sofort!» Und das eigentliche Pendeln? Er erlebe das positiv, meint er. Am Morgen liest er immer den «Spiegel» oder «Geo» und fährt entspannt Richtung Zürich. So fange für ihn der Tag stressfrei an, was enorm wichtig sei. Er braucht sowieso eine Stunde, um wach zu werden. Am Arbeitsplatz angekommen, sei er sofort startbereit und könne loslegen. Oftmals begleitet ihn eine Arbeitskollegin und sie können den üblichen Büroklatsch bereits hinter sich bringen, meint er schmunzelnd. Auf der Heimfahrt gönnt er sich ein Bierchen und lässt oftmals kurz den Arbeitstag Revue passieren oder schwelgt in Tagträumen. Für ihn ist das eine «konstruktive Zeit», die er sich – ohne zu pendeln – wahrscheinlich selbst «nicht geben würde». In Wetzikon angekommen, hat er dann wirklich Feierabend. Der Stadtrummel liegt weit hinter ihm.

Vollgestopfte Züge, laute Kids, schlechte Luft und böse Blicke

Von den befragten Pendlern weiss allein Kathrin Hohermuth, Jahrgang 1960, auch Negatives zu berichten. Sie ist Geschäftsführerin in einer sozialen Immobilienverwaltung, hatte jahrelang in Zürich gelebt. Hohermuth besitzt ein Pferd und ist nicht zuletzt deshalb vor knapp drei Jahren aufs Land gezogen. Vollgestopfte Züge, laute Kids, schlechte Luft – Hohermuth ist zudem mit ihrem Hund unterwegs und erntet dabei so manch bösen Blick. Es gibt Tage, da atmet sie tief aus, wenn sie aus dem Zug steigt. «Wunderbar sind allerdings die sozialen Kontakte.» Auf der Heimfahrt vergehe die Zeit oft wie im Flug. Sie habe gute Gespräche und das wiege den Ärger meistens wieder auf.
Also mehr oder weniger alles eitel Sonnenschein in der Pendlerwelt? Alois Stutzer, Verfasser der Studie
über Pendler, hält fest, dass die Motivation eine grosse Rolle spielen mag. Lockt ein spannender Job oder ist es die schiere Existenzangst, die einen auf die alltägliche Berufsreise bringt? Es liegt auf der Hand, dass diese
Faktoren unterschiedliche Wirkungen auf den Pendler haben. Zudem existiere in der Schweiz keine konkrete Studie über gesundheitliche Auswirkungen des Pendelns, hält Alois Stutzer fest.
Tatsache ist, dass allein in die Stadt Zürich gemäss Bundesamt für Statistik jeden Tag gegen 194000
Menschen pendeln. Rund 60000 von ihnen sind pro Tag mehr als eineinhalb Stunden unterwegs. Die Zahl der Pendler ist in 30 Jahren um rund 41 Prozent gestiegen, Tendenz weiterhin steigend. Allein dieser Umstand
verlangt in Zukunft genaue Untersuchungen über die Massen mobiler Arbeitnehmer, die sich tagtäglich in
die Pendlerströme einreihen.

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