«der arbeitsmarkt» 01/2006

Notlösung Privatschule

Hochbegabte Kinder sollten speziell gefördert werden. Darin sind sich hierzulande alle einig. Doch wie das im Speziellen geschehen soll, ist umstritten.

Private Schulen für hochbegabte Kinder sind bei den Verantwortlichen des öffentlichen Bildungswesens nicht sehr beliebt. Das hat vor allem einen Grund. So erklärt Hans Ulrich Stöckling, Präsident der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) und St. Galler Regierungsrat: «Kinder laufen in solchen Institutionen Gefahr, isoliert zu werden. Bezüglich der sozialen Integration liegen die Vorteile eher bei der
gut durchmischten öffentlichen Volksschule.» Jedoch räumt Hans Ulrich Stöckling ein, dass in Einzelfällen eine spezielle Förderung notwendig sei. Die Schulgemeinden bezahlen in diesen Fällen einen Beitrag an die Privatschulen. «Es kann sich jedoch nur um eine Notlösung handeln, da eine abgesonderte Elite mit unserem Demokratieverständnis schlecht verträglich ist», so der Regierungsrat.
Laut einer an der Universität Zürich durchgeführten Untersuchung könnten viele Erstklässler im Kanton Zürich bereits nach ein paar Wochen in die zweite Klasse wechseln. Fast vier Fünftel der Kinder beherrschen den mathematischen Lehrstoff der ersten Klasse mindestens teilweise. Fast zwei Drittel der Kinder können den vorgegebenen Lernstoff im Lesen bewältigen. Ein Drittel der Erstklässler verfügt über einen sehr guten Wortschatz. Und das alles bereits fünf Wochen nach Schulanfang.
Die Tatsache, dass viele Schüler unterfordert sind, ist auch Stöckling klar. Er weist allerdings darauf hin, dass im Kanton St.Gallen das Überspringen von Klassen seit Jahren angewandt wird. Die vorzeitige Einschulung hochbegabter Kinder ist eine weitere Beschleunigungsmassnahme. Auch die Lancierung einer Grund- oder Basisstufe trägt dazu bei, dass den unterschiedlichen Begabungen der Kinder besser Rechnung getragen wird. So kann der Lernstoff entsprechend den Bedürfnissen der Kinder in kürzerer oder längerer Zeit vermittelt werden.
Ein Grund, weshalb viele Eltern eine intensivere Förderung ihres Kindes verlangen, ist der Vorwurf, Lehrpersonen seien häufig überfordert. Doch davon will Stöckling nichts wissen: «Viele Lehrpersonen werden den Anforderungen gerecht. Begabungs- und Begabtenförderung wird in der Lehrerweiterbildung und neu auch in der Ausbildung thematisiert.» Klar verbessert werden muss der kantonale Austausch im Bildungswesen. Die Kantone haben den festen Willen, in vielen Bereichen zusammenzuarbeiten und verbindliche Standards festzulegen. Zusammen mit dem Bund wird eine nationale Bildungskontrolle aufgebaut. Die EDK will die obligatorische Schule landesweit weiter harmonisieren, indem sie in einer neuen interkantonalen Vereinbarung verbindliche Bildungsstandards festlegt und diese regelmässig überprüfen lässt.
Wie wird entschieden, ob das Kind in eine Schule für Hochbegabte kommt? Melanie Grigoleit, Leiterin des Schulpsychologischen Beratungsdienstes in Meilen, erörtert die Vorgehensweise. In den meisten Fällen bringen die Eltern den Stein ins Rollen. Wenn sie davon überzeugt sind, dass ihr Kind in der öffentlichen Schule unterfordert ist, müssen sie die betreffende Lehrperson kontaktieren. Nur sie kann eine Anmeldung für eine Abklärung im Beratungsdienst vornehmen. In einem gemeinsamen Gespräch mit der Lehrperson und den Eltern versucht der Schulpsychologe herauszufinden, ob die Voraussetzungen für eine Abklärung des Kindes vorhanden sind. Ist dies der Fall, werden standardisierte Tests vorgenommen, um ein genaues Bild des Kindes zu erhalten. Neben der Durchführung eines IQ-Tests werden unter anderem das Erinnerungsvermögen, die Ausdrucksweise, das Sozialverhalten und das Selbstwertgefühl geprüft. In einem weiteren Gespräch mit den Eltern wird entschieden, wie mit dem Kind weiter verfahren wird. Melanie Grigoleit: «Bei einer nachgewiesenen Hochbegabung raten wir in den meisten Fällen, dass das Kind an der aktuellen Volksschule gefördert wird oder eine Klasse überspringt.»
Auch aus schulpsychologischer Sicht sei es in den allermeisten Fällen nicht tragbar, das Kind aus dem vorhandenen sozialen Beziehungsnetz herauszunehmen. Denn nur schon beim Überspringen müsse das Kind eine entsprechende Sozialkompetenz aufweisen. Das örtliche Angebot an Fördermassnahmen hat sich laut Grigoleit an vielen Schulen massiv verbessert.
Interessant ist die Art und Weise, wie Eltern mit ihrem hochbegabten Kind umgehen. Viele Eltern aus oberen Schichten wollen ihren Nachwuchs sehr intensiv fördern. Dabei wird nicht selten grosser Druck auf das Kind ausgeübt. Der Wunsch nach einer Förderung in der Privatschule ist in diesem Milieu grösser als bei Eltern der unteren Bevölkerungsschichten. Eltern des Mittelstands und der Arbeiterklasse ist es meistens wichtiger, dass sich ihr Kind unabhängig von der Hochbegabung in seinem sozialen Umfeld wohl fühlt. Mit den Fördermassnahmen der Volksschule sind sie in der Regel zufrieden. Diese unterschiedliche Auffassung ist – neben den finanziellen Möglichkeiten – mit ein Grund, weshalb hochbegabte Kinder aus wohlhabendem Haus eher in privaten Förderschulen unterrichtet werden.

 

Ganz normale Kinder – nur begabt

Xaver Heer, Leiter der Hochbegabtenschule «Talenta», spricht mit dem «arbeitsmarkt» über elitäre
Schulen, Ausbildungskosten, unterforderte Schüler und überforderte Lehrer.

«der arbeitsmarkt»: Herr Heer, was hat die «Talenta» den öffentlichen Schulen voraus?
Xaver Heer: Häufig werden hochbegabte Kinder in Volksschulen gehänselt oder sogar gemobbt. Auch werden diese Kinder nicht immer als hochbegabt erkannt und sind dann unterfordert. An unserer Schule sind sie unter ihresgleichen und fühlen sich wohl. Es geht ja nicht nur um die Förderung ihrer Begabungen, sondern auch darum, dass sie sich entfalten können und sich selbst sein dürfen.

Ist die «Talenta» elitär?
Nein. Die Schule ist zwar für hochbegabte Kinder da, und ementsprechend haben wir eine bestimmte Zielgruppe. Aber nur weil wir den Bedarf an der Förderung von solchen Kindern erfüllen, sind wir noch lange nicht elitär.

Die «Talenta» kostet die Eltern monatlich 1800 Franken. Das können sich Familien aus dem Mittelstand oder der unteren Schicht gar nicht leisten.
Natürlich kommen die meisten «Talenta»-Schüler aus der oberen Schicht. Doch unterscheiden wir uns in diesem Punkt kaum von einem Gymnasium. Als private Schule werden wir vom Kanton nicht unterstützt. Für betroffene Eltern lohnt es sich aber, mit der Schulgemeinde, in der das Kind unterrichtet wurde, über eine Unterstützung zu reden. In absoluten Härtefällen versuchen wir ausnahmsweise, ein Elternpaar auch finanziell zu unterstützen. Dank Rückstellungen können wir Engpässe überbrücken. Ausserdem würde auch eine öffentliche Schule zwischen 1000 und 1400 Franken kosten. Es wäre nicht mehr als fair, wenn die Schulgemeinde sich mit diesem Betrag an den Kosten beteiligen würde. Die Kosten unserer Schule sind also durchaus gerechtfertigt, auch weil wir weniger als halb so grosse Klassen führen. Zudem verzichten wir auf Büros und Lehrerzimmer.

Wird auch bei den Lehrern gespart?
Nein. Unsere fünf Lehrpersonen verdienen genau gleich viel wie ihre Kolleginnen und Kollegen an einer öffentlichen Primarschule.

Wie sind die «Talenta»-Lehrer ausgebildet?
Seit Beginn stellt die «Talenta» mindestens zwei Lehrkräfte, die einen Hochschulabschluss und Erfahrung als Gymnasiallehrer in Naturwissenschaften oder Sprachen aufweisen. Auf Weiterbildung wird grosser Wert gelegt. Dabei achten wir auf regen Informationsaustausch zwischen den Lehrpersonen. Zudem unterrichtet gegenwärtig keine der fünf Lehrpersonen mehr als 60 Prozent, denn für die Vorbereitung der Stunden wird unverhältnismässig viel Zeit gebraucht.

Wie werden Eltern über die Schule und ihr Kind informiert?
Der Kontakt mit den Eltern ist sehr intensiv. Wir bemühen uns, möglichst allen Wünschen seitens der Eltern sehr rasch gerecht zu werden. Es gibt auch einen Elternrat, der regelmässig mit und ohne die Schulleitung tagt. Im Schnitt haben wir zwei bis drei Elterngespräche und ebenso viele Telefonate pro Woche.

Sind die Kinder der «Talenta» Genies, Wunderkinder, oder lernen sie einfach schneller?
Im Grunde genommen sind es ganz normale Kinder. Bei vielen wurde eine erhöhte Fähigkeit für schnelles Lernen erkannt. Andere sind auf einem bestimmten Gebiet, beispielsweise in der Mathematik oder bei naturwissenschaftlichen Themen, besonders begabt. Auffällig ist, dass viele hochbegabte Kinder häufiger an Grenzen gehen wollen, diese dann aber klarer akzeptieren. Diesbezüglich gibt es manchmal Konflikte.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Nicht selten sind schon die Eltern überfordert. Ein Kind, egal ob normal- oder hochbegabt, braucht klare Grenzen. Ein weiterer Punkt sind die sozialen Verhältnisse in der Primarschule. Es gibt hochbegabte Kinder, die sehr viel Aufmerksamkeit benötigen. Das geht so weit, dass sie den Unterricht stören. Andere sind
introvertiert und manchmal in Gedanken abwesend. In diesen Fällen braucht es von allen Seiten – Lehrern, Eltern, Mitschülerinnen und Mitschülern – viel Verständnis.

Aus welcher Klasse oder in welchem Alter kommen die Kinder zur «Talenta»?
Das ist unterschiedlich. Es kommt vor, dass Kinder nach ein paar Wochen von der ersten Volksschulklasse zu uns wechseln. An der «Talenta» liegt das Alter der Kinder zwischen 7 und 13 Jahren. Durchschnittlich sind die Kinder zwei bis drei Jahre hier.

Macht das öffentliche Schulsystem bei der Förderung von Hochbegabten etwas falsch?
In den letzten Jahren wurden öffentliche Schulen aufmerksamer, was die Erkennung und Förderung von hochbegabten Kindern angeht. Neben dem Überspringen der Klasse bieten immer mehr Schulen individuelle Förderkurse und Programme an. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass hochbegabte Kinder in Gruppen am besten lernen. Ausserdem könnte man den Stoff der ersten drei Primarschuljahre in einer wesentlich kürzeren Zeit bewältigen. Somit gäbe es weniger unterforderte Schüler. Auch sollte die Klassengrösse auf nicht über 20 Schüler ansteigen, so dass die Lehrpersonen nicht so überfordert sind.

Die «Talenta» engagiert sich im nationalen und internationalen Austausch im Bereich der Hochbegabung. Was sind die angestrebten Ziele dieser Zusammenarbeit?
Einerseits wollen wir auf breiter Front die Öffentlichkeit auf die Arbeit und die Wichtigkeit der Hochbegabtenförderung aufmerksam machen. Andererseits treffen wir uns mit Forschern und anderen Schulen aus aller Welt, um Erfahrungen auszutauschen.

Wo kann sich die «Talenta» noch verbessern?
Ich sehe kleine Verbesserungen im Unterricht. Wir könnten diesen noch zielgerichteter gestalten. 

 

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