«der arbeitsmarkt» 01/2007

Neue deutsche Welle

Schweizerinnen und Schweizer in höheren Positionen erhalten Konkurrenz: Die neuen Einwanderer kommen aus dem nördlichen Nachbarland, sind mehrheitlich jung, gut ausgebildet – und ordentlich zielstrebig.

Das Dankeschön an die Schweiz kam aus Berlin-Nord. «Einer der wesentlichsten Gründe bei der Senkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland ist die hohe Anzahl derer, die eine Arbeit im Ausland aufnehmen», schrieb die Arbeitsvermittlerin Cordula Volkland dem «arbeitsmarkt»: «Sehr viele temporäre Mitarbeiter haben bereits binnen kurzer Zeit Festverträge, wohnen schon mit ihren Familien in der Schweiz und bauen sich dort eine neue Existenz auf. Das finde ich super und toll.»

Jeder dritte Professor aus Deutschland

Super, toll? Deutschen Politikern und Wirtschaftsexperten gibt das Thema eher Anlass zu Sorge. Denn immer mehr gut qualifizierte Deutsche verlassen ihre Heimat, um anderswo ihr Glück zu suchen. 144815 Bürgerinnen und Bürger, so viele wie noch nie seit 1954, wanderten im Jahr 2005 aus – in der Mehrzahl Leute unter 35 Jahren aus dem Westen des Landes. Ihre Traumdestination: nicht etwa die USA, wo Deutsche in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich ihr Glück suchten, sondern die Schweiz. 14409 deutsche Staatsbürger liessen sich innert Jahresfrist bei uns nieder. Ende 2005 lebten hierzulande bereits 158651 Menschen mit deutschem Pass.
Arbeit finden sie traditionell im Handwerk, im Gastgewerbe, in Lehrberufen sowie im Gesundheits- und Versicherungswesen. Neu dagegen ist, dass Zuwanderer aus Deutschland immer öfter direkt in Kaderpositionen gelangen. Besonders zahlreich sind sie mittlerweile auch im akademischen Milieu.
• Deutsche stellen knapp die Hälfte aller Dozenten an der Hochschule St.Gallen (250 von 513 Professoren), an der ETH Zürich immerhin ein Viertel der Professoren (104 von 394). An der
Basler Universität waren letztes Jahr 151 Schweizer und 95 deutsche Professoren beschäftigt. Insgesamt stammt an Deutschschweizer Unis heute jeder dritte Professor aus dem nördlichen Nachbarland.
• Von den 1069 Ärzten und Assistenzärzten am Zürcher Universitätsspital sind ein knappes Viertel deutsche Staatsbürger (244).
• Auch der Bund holt immer mehr Leute aus dem Ausland, vorzugsweise aus Deutschland. Der Anteil deutscher Arbeitnehmer in Kaderpositionen des Bundes ist in den letzten fünf Jahren stark gewachsen. Insgesamt arbeiteten Ende Oktober 2006 in den sieben Departements, den Parlamentsdiensten, der Bundeskanzlei und an den Bundesgerichten 303 Deutsche (2001 waren es noch 167). 90 gehören dem mittleren Kader an, 19 arbeiten im höheren Kader.

Nur noch vereinzelt grosse Lohnunterschiede

Die Gründe für den Entscheid, die Koffer zu packen und in die Schweiz zu reisen, sind vielfältig. Längst nicht alle deutschen Emigranten sind arbeitslos. Gerade unter hoch qualifizierten und hoch motivierten Menschen ist jedoch die Meinung weit verbreitet, dass es im Heimatland an beruflichen Perspektiven fehle. Die wirksamste Motivationsspritze für den Aufbruch ins «gelobte Land» ist allerdings die Aussicht auf das Geld, das sich dort verdienen lässt.
Zwar nimmt das traditionell grosse Lohngefälle zwischen der Schweiz und Deutschland langsam ab – nicht zuletzt eine Folge der verstärkten Einwanderung ausländischer Arbeitnehmer in die Schweiz. Im Durchschnitt verdienten Angestellte in der Schweiz im vergangenen Jahr knapp 63000 Franken, in Deutschland waren es umgerechnet 58500 Franken. In einzelnen Sparten sind die Unterschiede jedoch nach wie vor eklatant. In medizinischen Berufen etwa erhalten Angestellte in der Schweiz durchschnittlich 37 Prozent mehr als ihre Kollegen in Deutschland; in der Verwaltung sind es 27 Prozent, in der Aus- und Weiterbildung gut 20 Prozent. Ein ordentlicher Professor wiederum verdient an der Universität Zürich zwischen 148000 und 232000 Franken, an deutschen Unis erhält er in derselben Position höchstens umgerechnet 95000 Franken plus Zulagen. Was die Buchhaltungsspezialisten betrifft, so liegt deren Einkommen in Deutschland bei rund 77700 Franken, in der Schweiz jedoch bei 171900 Franken. Das sind eklatante Unterschiede, auch wenn man berücksichtigt, dass in der Schweiz länger gearbeitet wird, weniger Ferien bezogen werden und die Lebenskosten generell höher sind.

Auffällige Integrationsbemühungen

So werden sich Schweizerinnen und Schweizer allmählich gewahr, dass die hiesige multikulturelle Gesellschaft noch bunter geworden ist. Man spricht jetzt auch deutsch auf den Baustellen, im Operationssaal oder am Schalter, und immer öfter erfolgen die Durchsagen auf den Bahnhöfen oder in Trams in kristallklarem «Hochdeutsch», was den Vorteil hat, dass auch unsereins die Mitteilungen jetzt versteht. Umgekehrt geben sich etliche Zuwanderer aus dem Norden redlich Mühe mit dem «Schwyzertütsch»; speziell auf Deutsche zugeschnittene Dialektkurse boomen und sind meist ausgebucht.
Die grosse Mehrheit der deutschen Bürger, die sich hier niedergelassen hat, zeigt den Willen, sich einzuleben, und übt sich nicht nur tapfer in der Phonetik, sondern auch im Beherrschen der Kommunikationsrituale, die sich – für viele Einwanderer überraschend – teilweise wesentlich von denjenigen in der Heimat unterscheiden. In den Bars um den Zürcher Hauptbahnhof, wo deutsche Bürger gerne ihr Weissbier trinken, erlebt man immer wieder beinahe rührende Szenen eines mit ernsthaftem Eifer nachgelebten helvetischen Brauchtums. Diskret, ausgesucht höflich und sparsam – in der Öffentlichkeit wirken Deutsche hierzulande nicht selten fast schon überangepasst.

Einwanderungswelle kein Stammtischthema

Etwas anders erleben manche Schweizer die neuen Einwanderer im Berufsalltag, vor allem dann, wenn ausgeprägtes deutsches Selbstbewusstsein auf den notorischen Schweizer Minderwertigkeitskomplex trifft. Nicht selten punkten deutsche Bewerber auf dem Arbeitsmarkt mit ihrer Eloquenz, forschem Auftreten und formidablen Zertifikaten, ohne danach die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen zu können. Augenscheinlich ist dies etwa in der hiesigen Kommunikationsbranche, wo in den vergangenen Jahren immer mal wieder Deutsche «eingekauft» wurden, die es in der eigenen Heimat kaum weit gebracht hätten. Ungern gesehen sind auch jene Berufskollegen aus dem Nachbarland, die bis zur Selbstausbeutung Dumpingpolitik betreiben, indem sie etwa renommierten Schweizer Zeitungen das Angebot machen, die ersten paar Beiträge gratis zu liefern.
So sorgen die neuen Einwanderer aus dem Norden gelegentlich für Irritation oder Missmut und schüren die Angst um den eigenen Arbeitsplatz. Doch darüber wird in den Teppichetagen der Unternehmen, in Ärztevereinigungen oder akademischen Zirkeln diskutiert. Am berühmt-berüchtigten helvetischen Stammtisch ist die neue «deutsche Welle» kaum ein Thema.
Anderen Einwanderern erging es anders – etwa den Italienern. Als Folge der von der prosperierenden Schweizer Wirtschaft ausgelösten Einwanderungswelle – die Zahl der Ausländer war von knapp 300000 im Jahr 1950 auf eine Million im Jahr 1970 gestiegen – avancierte die Debatte um die sogenannte Überfremdung in den Sechzigerjahren zum alles bestimmenden gesellschaftspolitischen Thema. Höhepunkt der Auseinandersetzung bildete die zweite «Überfremdungsinitiative», nach dem am rechten Rand politisierenden Einzelgänger James Schwarzenbach auch «Schwarzenbach-Initiative» genannt, die eine Beschränkung der ausländischen Wohnbevölkerung auf höchstens einen Zehntel der gesamten Wohnbevölkerung forderte. Das Parlament hatte das Begehren praktisch einstimmig verworfen, dennoch wurde der darauf folgende Abstimmungskampf für hiesige Verhältnisse ungeheuer emotional geführt. Die Initiative wurde 1970 mit 54 gegen 46 Prozent zwar abgelehnt, doch es folgten noch vier weitere «Überfremdungsinitiativen», ehe das Thema mit der Rezession von 1974 und dem schwindenden Bedarf an ausländischen Arbeitskräften an Brisanz verlor.
Auch deutsche Einwanderer dienten hierzulande schon als «Feindbild». Vor hundert Jahren betrug der Anteil der ausländischen an der gesamten Wohnbevölkerung 15 Prozent, wobei die Deutschen die grösste Gruppe stellten. Prompt warnten heimliche und unheimliche Patrioten vor einer verhängnisvollen Germanisierung der Schweiz.

Schweizer Superstar aus Deutschland

Davor fürchtet man sich heute nicht sehr. Das zeigte sich etwa bei der Wahl zum «Superstar» auf dem TV-Kanal 3+, an welcher auch der deutsche Sänger Michael Janz teilnahm. In der Schlussabstimmung hatte sich die Fachjury noch explizit gegen Janz ausgesprochen. (Der Bündner Rapper Gimma: «Ich bin für Antonio, er ist Schweizer.») Doch bei den Fernsehzuschauern, die den endgültigen Entscheid fällen durften, verfing das chauvinistische Argument nicht. Deshalb ist der derzeitige Schweizer Superstar Deutscher.

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