«der arbeitsmarkt» 06/2015FOTO UND TEXT: Ines Schöne
Reiseleiterin

Mit leichtem Gepäck

Mit Menschen Verbindung aufnehmen und in Verbindung bleiben, darin ist die Berner Reiseleiterin Christine Jäggi eine Meisterin. Durch ihren Beruf hat sie gelernt, mit Abschied umzugehen.

«Ich habe gehört, dass du wieder da bist ...» Auf diese Zeilen freut sich Christine Jäggi am meisten, wenn sie in Delhi landet und ihr Mobiltelefon einschaltet. Seit 2003 arbeitet die 54-jährige Bernerin als Reiseleiterin für Globotrek (siehe Kasten). Zwei bis drei Mal im Jahr führt sie Gruppen von etwa 15 Personen bis in die hintersten Winkel der Welt. Bei der Arbeit trifft sie viele Menschen, und ihr Beruf besteht aus Kennenlernen, Abschiednehmen und manchmal auch Wiedersehen. Das vielfache «I’ve heard you are here ...» zaubert ein Lächeln der Vorfreude auf ihr Gesicht. Die Nachricht von ihrer Ankunft hat bei Fahrern und Tourguides die Runde gemacht. Als Reiseleiterin war sie schon oft mit ihren Gruppen in Delhi und startete von dort aus ihre Touren in die indischen Bundesstaaten, Territorien mit vielen lokalen Sprachen.

Christine Jäggi arbeitet gern mit ortskundigen Führern zusammen. Sie bauen ihr die Brücken zu den Menschen auf dem Land und bringen diese zum Erzählen. Das Schönste an ihrem Beruf ist für sie, Lebensgeschichten zu sammeln. Oft sind es Einzelschicksale, die sich vor dem Hintergrund von Armut abspielen, auch bei den Führern. «In Indien war ich mal mit zwei Guides unterwegs, die statt für sich selbst für die Familie gearbeitet haben», erzählt sie. Sie mussten die Hochzeit der Schwester abbezahlen, die vor ein paar Jahren stattgefunden hatte.

Der Abschied von lokalen Führern fällt ihr nicht immer leicht – dies gilt auch für ihre Reisen nach China. Beim Gedanken an ihre dortigen Begleiter gerät sie ins Schwärmen. Neben der guten Zusammenarbeit habe sie einige sehr persönliche Geschichten erfahren und sich den Guides nah gefühlt. Mit ihnen in direktem Kontakt zu bleiben, sei aber nahezu unmöglich. «Du verabschiedest dich von ihnen, und weisst, du siehst sie nie wieder. Das ist schwer.»

Mit einer Reise von drei Wochen ist die Bernerin rund zwei Monate beschäftigt. Als ausgebildete Journalistin kann sie effizient recherchieren und Informationen gut sortieren. Sobald sie das Reiseziel kennt, beginnt sie mit «Kreuz-und-quer»-Lesen. Romane hält sie für die unterhaltsameren Geschichtsbücher. Dabei macht sie sich gezielt Notizen und serviert ihr Wissen unterwegs «in dosierten Häppchen». Je nachdem, wie viel geistigen Appetit eine Gruppe hat, entscheidet sie sich für leichte Kost in der geselligen Runde oder für einen reichhaltigen Vortrag. Auch tagsüber gesammelte Eindrücke wollen verdaut werden. Daher sei es wichtig, dass sich ein Reisender bewusst Zeit für sich nehme und auch mal gedankenverloren aus dem Busfenster schaue. 

Wenig Ballast mitnehmen

Ein Stück Heimat hat die Weltenbummlerin immer dabei, in Form von Fotos und Schweizer Schokolade. Sie erzählt, dass Nomaden in der Mongolei sie neugierig umringten und beim Anblick ihrer erwachsenen Kinder, ihres Partners und der Alpen über das ganze Gesicht strahlten. Der Lebensmittelpunkt vieler Menschen unterwegs sei die Familie, und über die Fotos entstehe eine Verbindung. Dunkle Schweizer Schoggi sei nicht nur ein begehrtes Souvenir, sondern helfe sowohl bei Durchfall als auch dabei, sich in der Höhe besser zu fühlen. Christine Jäggi nimmt keine schweren Souvenirs mit, wenn sie unterwegs ist, und auch ihr geistiges Gepäck ist leicht. Mancher Mitreisender scheint sich dagegen psychisch belastet auf den Weg zu machen. «Ich stelle fest, dass viele Menschen Angst haben vor dem Reisen, besonders vor Indien.» Ihnen sei dieses Land zu unbekannt. Das richtige Mass sei wichtig beim Fernsehen und Zeitunglesen, und die vieldiskutierten Fälle von sexuellen Angriffen auf Frauen, auch Touristinnen, seien nicht allgemein gültig. «Es gibt 1,3 Milliarden Inder. Natürlich sind da auch ein paar Vollidioten dabei», bringt sie ihre Meinung auf den Punkt. Bei Kritik an Hotels und Essen bleibt sie ruhig: «Menschen, die auf Reisen anstrengend sind, sind auch in der Schweiz anstrengend. Sie sind einsam, suchen Aufmerksamkeit und finden keinen Anschluss.» Christine Jäggi hat aber viel Mitgefühl und lässt niemanden allein. «Geht es jemandem nicht gut, bin ich für ihn da.» Sie hört zu, bietet Tee an oder wartet geduldig in der Lobby. «Ich weiss manchmal genau, dass eine Person wieder zurückkommt und ein neues Zimmer will.» Sie kann später die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen und völlig abschalten, notfalls mit Ohropax.

Gewohnheiten, die im Zelt am Fusse des Himalaya keinen Platz haben, entfernt ein echter Weltenbummler am besten aus seinem Gepäck. Denn Reisen mit offenen Augen kann ein Leben verändern. Das hat Christine Jäggi selbst erlebt, als sie 2003 in der Mongolei zusammen mit drei anderen Frauen eine wichtige Entscheidung fällte. Sie gründete das Kinderhilfswerk «Bayasgalant», mongolisch für «glücklich», und ist heute dessen Geschäftsführerin. Mit 13 Jahren hatte sie eine Sendung über Kindersterblichkeit in Peru gesehen und dies in ihr Tagebuch geschrieben. «Mir ist es nicht gleich, wie es Menschen in anderen Ländern geht, mich beschäftigt das.» Ein Abschied von der Mongolei verlaufe nie ohne Tränen, erzählt sie und erklärt: «Ich weiss, sie sind in meinem Herzen, und ich bin in ihren Herzen. Die Verbundenheit ist gegenseitig, und dieses Gefühl ist so schön.»

Fliessende Übergänge

Schwierige Abschiede sind für die Bernerin aber die Ausnahme, denn als Profi kennt sie alle Tricks. «Ich switche sehr schnell», das merke sie, wenn es darauf ankommt. Aus Südamerika zurückkehren, eine Woche daheim sein, dann zu einer Trekkingreise nach Indien aufbrechen – kein Problem. «Ich bin einfach da, wo ich bin.» Sie habe selten Jetlag, schlafe im Flieger und habe vor jeder Reise das Vertrauen, dass alles gutgehen wird. «Viele Sorgen mache ich mir einfach nicht.» Christine Jäggi benutzt es gern, das Wort «einfach».

Nahtlose Übergänge in andere Kulturen gelingen ihr mühelos. Aus exotisch macht sie vertraut. Dem Schweizer, der nicht einsieht, warum er eine Buddhafigur nicht ablichten darf, sagt sie: «Stell dir vor, du bist an einer Beerdigung, und dann strömen lauter Touristen in die Kirche und blitzen drauflos mit ihren Kameras.» Dass Menschen im Herzen überall gleich sind, davon scheint sie überzeugt. So bringt sie ihren Gästen die Fremde näher.

In der schwierigsten Gruppe, die sie einmal hatte, fühlten sich ein paar Teilnehmer als echte Eidgenossen und sprachen von Einwanderern in die Schweiz als Gesindel. Ausgrenzung und Mobbing waren auf dieser Fahrt an der Tagesordnung. Ihr ist anzusehen, wie sie unter der Situation litt. Rassismus findet sie sehr anstrengend, aber als Reiseleiterin vermeide sie einen Konflikt. «Ich gebe nur Denkanstösse», sagt sie. Sie sei froh gewesen, die Gruppe nach drei Wochen los zu sein, und habe sich sehr gern von ihr verabschiedet. Dagegen hält sie zu Mitreisenden, mit denen sie sich gut verstanden hat, gern Kontakt, auch wenn dieser mit der Zeit abnimmt. Mit vielen ist sie mehrmals unterwegs. «Das ist eine schöne Bestätigung meiner Arbeit», findet sie. 

Gelassen und souverän

Ihre Lieblingsgruppe besteht aus zehn Personen, die alle zwei Jahre eine Tour machen – und sie dafür buchen. «Es ist wie mit Freunden reisen, so lustig», freut sie sich über ihr treues Gefolge. Die Teilnehmer lassen ihr freie Hand – sie wählt Land und Route aus. Sogar nach Nordindien kamen sie mit. Trotz anfänglicher Skepsis konnte Christine Jäggi sie überzeugen.

Was macht sie als Reiseleiterin in den Augen ihrer Kunden aus? «Ich bin gelassen und souverän», stellt sie fest. Natürlich sei auch sie über Pannen im ersten Moment nicht erfreut. Dann aber akzeptiere sie die Situation, gewinne dadurch Abstand und nutze die Situation positiv, etwa indem sie vorschlägt: «Wir sind jetzt drei Stunden hier. Gehen wir ein bisschen wandern, oder soll ich euch die Einführung in den Buddhismus jetzt geben statt morgen früh?» Einen Ausgang aus der Situation zu finden, mache eigentlich Spass.

Sie erinnert sich, wie sie einmal mit zwölf Teilnehmern im nordindischen Varanasi spontan einer bunten Prozession gefolgt war. Am Ende waren alle übervoll mit Eindrücken, aber in dem Menschengetümmel scheinbar ohne jede Chance auf ein Tuc-Tuc, das in Asien verbreitete offene Taxi mit drei Rädern. Doch die Weltreisende überzeugte sich selbst mit den Worten: «Ich bin in Indien. Es gibt immer eine Lösung.» So bekam sie den Kopf frei. Beim Gedanken an die zwei Tuc-Tuc, in denen jeweils sechs Schweizer Touristen zusammengepfercht durch Varanasi fuhren, schüttelt sie lachend den Kopf. Für die Gruppe war das Erlebnis ein echtes Highlight, das in den Reiseberichten fortlebt.

Über solche Erinnerungen bleibt Christine Jäggi mit Ehemaligen und befreundeten Guides in aller Welt in Verbindung, wenn sie wie dieses Jahr den Frühling in Bern verbringt. Sie geniesst die Zeit mit ihrer Familie und pflegt das Bewusstsein dafür, «wie gut wir es hier haben». Daneben hält «Bayasgalant» sie auf Trab; sie sammelt Spenden, fällt Entscheidungen und leitet Mitarbeitende an. Ihre nächsten Reisen im Juni, Oktober und Januar stehen schon fest, und so hat das Fernweh bei ihr wenig Chancen.

Globotrek
Angebot Globotrek ist ein Touroperator des Schweizer Unternehmens Globetrotter Tours und bietet weltweit über 50 Routen als Kleingruppenreisen an. Weitere Touroperators sind Globotrain, Globoship und Backgroundtours.
Gründung Globetrotter wurde 1976 in Bern gegründet.
Mitarbeitende 270 (Stand Februar 2015)

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