«der arbeitsmarkt» 04/2015TEXT: Jana StollerFOTO: Simone Gloor
Erich Fehr

Mein Tag als Bieler Stadtpräsident

«Das Amt als Stadtpräsident und Routine gehören nicht zusammen. Bis auf die Stunde, die ich jeden Morgen für mich alleine habe, um den neuen Tag vorzubereiten und die Zeitung zu lesen. Dieses Ritual brauche ich. Insgesamt vier Zeitungen habe ich abonniert, alle auf Papier, das ist mir wichtig. Anschliessend trinke ich einen Kaffee im Bistro Chez Rüfi. Von da an ist die einsame Ruhe vorbei. Allerdings schätze ich die vielfältigen Gespräche und die Abwechslung an meinem Beruf besonders. Die wenigen Routineaufgaben am Tag gehören einfach dazu.

Als Stadtpräsident leite ich seit 2011 die Präsidialdirektion und den Gemeinderat. An den Gemeinderatssitzungen, die gut und gerne sechs Stunden dauern können, bespreche ich zusammen mit meinen vier Kollegen aktuelle Themen und suche Lösungen. Momentan sind es die Finanzlage und die hohe Sozialhilfequote der Stadt, die der Bevölkerung am meisten Sorge bereiten und um die ich mich besonders kümmern muss. Obwohl ich mich als Sozialdemokrat für eine korrekte Sozialhilfe einsetze, verlange ich von jedem einzelnen Bürger eine gewisse Eigenverantwortung. Ich verteidige niemanden, der nicht alles dafür tut, um einen Ausweg aus der Sozialhilfe zu finden. Generell bin ich kein radikaler Linker. Ich vertrete die Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen, und gehöre daher eher zum rechten Flügel der SP.

Monatlich tagen die sechzig Stadträtinnen und Stadträte. Die Sitzungen sind stets sehr anspruchsvoll, und ohne lückenlose Kenntnisse der unterschiedlichen Dossiers habe ich keine Chance, meine Geschäfte durchzubringen. Die Industriestadt Biel unterscheidet sich beispielsweise von der Verwaltungsstadt Bern darin, dass ich viel mit Wirtschafts- und Investorenvertretern zu tun habe. Wenn ich erfahrenen Geschäftsmännern und -frauen die Stange halten will, muss ich mich gut auf die Treffen vorbereiten. Als Stadtpräsident versuche ich daher, verlässlich, glaubwürdig und engagiert aufzutreten. Vor allem aber muss ich offen gegenüber allen Kreisen sein. Ich bin ein Stadtpräsident für alle und nicht nur für Randgruppen. An der Bieler Bevölkerung schätze ich diese Offenheit besonders. Aufgrund der Zweisprachigkeit leben zwei Kulturen zusammen. Ich bin in der Seestadt Biel aufgewachsen und habe vorwiegend die Erfahrung gemacht, dass sich die Welschschweizer und die Deutschschweizer gut verstehen. Es gibt daher auch keine sprachengetrennten Quartiere oder Vereine.

Neben den diversen internen und externen Sitzungen nehme ich öffentliche Auftritte wahr. Das sind beispielsweise Begrüssungsansprachen oder Empfänge. Als Stadtpräsident werde ich, je länger die Amtsdauer anhält, immer bekannter, und daher häufen sich die repräsentativen Aufgaben zunehmend. Da ich im Vergleich zu meinem Berufskollegen AlexanderTschäppät aus der Bundeshauptstadt Bern nicht nationale und internationale Kontakte zu pflegen habe, finden öffentliche Auftritte meistens nur in und um Biel statt. Dort bietet sich mir die Gelegenheit, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Meistens aber treffe ich die Bieler und Bielerinnen völlig ungezwungen auf der Strasse, in Restaurants oder an den Spielen des Eishockeyclubs Biel-Bienne, die ich mir, so oft ich kann, anschaue. Eine offizielle Bürgersprechstunde, die viele Städte anbieten, führe ich nicht durch. Hat ein Gemeindemitglied ein dringendes Anliegen, darf es sich direkt bei mir melden und einen Termin vereinbaren. Meistens wenden sich ohnehin immer wieder die gleichen Personen an mich, die direkten Einfluss auf die Gestaltung der Stadt nehmen wollen und sich mit mir austauschen möchten.

Um den Kopf von den vielen unterschiedlichen und anspruchsvollen Aufgaben freizukriegen, mache ich Sport. Ich bike und jogge oder spiele Eishockey und Fussball. Theater- oder Museumsbesuche mache ich weniger regelmässig. Ich bin immer auf Achse und verbringe meine knappe Freizeit lieber mit meiner Frau oder guten Freunden bei einem Abendessen oder gönne mir etwas Ruhe. Das Amt als Stadtpräsident lebt von den Begegnungen mit Menschen und täglich neuen Herausforderungen. Das brauche ich als aktiver und kontaktfreudiger Mensch. Deshalb übe ich meinen Beruf sehr gerne aus. Im Gegenzug verzichte ich auf mehr Erholung und Ungestörtheit.»

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