«der arbeitsmarkt» 11/2006

Leichter gefressen als verdaut

In Firmenkäufe und Fusionen sind mittlerweile auch Schweizer Traditionsunternehmen involviert.
Ob freundlich oder feindlich: Die Übernahmen stellen für die betroffenen Mitarbeitenden eine grosse Belastung dar.

Das Zeitalter der Räuber ist angebrochen, wenn selbst betont nüchterne Wirtschaftsblätter zu Bildern aus der Welt von Fressen und Gefressenwerden Zuflucht nehmen: «Gewisse Haiarten», schrieb «Finanz und Wirtschaft» im August, «müssen ununterbrochen schwimmen, um nicht zu ersticken.» Und schwimmen heisst aktiv sein, heisst fressen. Der Vergleich gilt den Unternehmen der Private-Equity-Industrie (Beteiligungsgesellschaften). Aber es könnten durchaus auch Hedge-Fonds gemeint sein.

Je mehr Geld diese Finanzgesellschaften ansammeln, desto mehr Firmen müssen sie übernehmen, um ihre stattlichen Verwaltungsgebühren zu rechtfertigen. Der Konkurrenzkampf ist hart und die bezahlten Preise für geschluckte Firmen steigen. Im rsten Halbjahr 2006 setzten diese Finanzgesellschaften und andere Käufer wie Grosskonzerne 1950 Milliarden Dollar für Übernahmen und Fusionen ein. Damit wurde er aus dem ersten Halbjahr 2000 stammende Rekord von 1890 Milliarden Dollar übertroffen. eben den Haien schwimmen ganze Schwärme von kleineren Fischen – sie gehören zur Gattung der cleveren Aktionäre. Denn eines scheint gewiss: Bei einer umkämpften Übernahme steigen auch die Aktienkurse. Was jedoch oft als blanke Naturgesetzlichkeit hingenommen wird: Es gibt auch Opfer von Übernahmen. Geschluckte Gesellschaften werden nicht einfach nur «fit getrimmt», sondern oft auch ausgenommen, zerstückelt und neu zusammengesetzt.
Die betroffenen Mitarbeitenden stehen vor quälenden Unsicherheiten bezüglich ihrer beruflichen Zukunft.

Gut vernetzte Schweizer Firmen sind begehrt

Lange konnten sich viele Schweizer Firmen vor Übernahmeattacken sicher wähnen. Nun rücken auch mittelgrosse Unternehmen ins Visier der Finanzgesellschaften, die sich gerne mit einer übernahmewilligen Konkurrenzfirma verbünden. Beim Kampf um Schweizer Firmen wie Saurer und SIG waren und sind internationale Finanzakteure beteiligt. Schweizer «Mid Caps» (börsenkotierte Unternehmen mittlerer Grösse) gelten in den USA und anderswo als lohnendes Ziel für Investoren – denn sie sind international hochgradig vernetzt.  

Mit den Gerüchten kommt uch die Unsicherheit

Markus Zenhäusern, Finanzchef des Schweizer Sika-Konzerns mit weltweit über 10000 Angestellten, beobachtet diese Entwicklung mit Sorge: «Für Akteure der Finanzindustrie sind solche attraktiven Firmen oft nur ein Handelsobjekt. Sie haben kein längerfristiges Interesse an der Firma.» Der ehemalige Ciba-Manager bekundet seinen Unmut darüber, dass dabei Firmen nur als Cashflow-Produzenten wahrgenommen werden: Da fehle jedes Gespür für die Know-how-Träger in den Forschungslabors und in der Produktion: «Wer nicht merkt, wie wichtig ihr Beitrag zu Innovation und Wertschöpfung ist, kann sehr viel kaputtschlagen.»

Hedge-Fonds und Beteiligungsgesellschaften nutzen oft juristisches Niemandsland zu ihrem Vorteil aus. Internationale Regelungen, zum Beispiel über Offenlegungs- und Informationspflichten – wie sie bei börsenkotierten Firmen gelten –, könnten hier gleich lange Spiesse schaffen, meint Zenhäusern.

Sika gehört weltweit zu den führenden Produzenten von Kleb- und Dichtstoffen. Dank einem starken Mehrheitsaktionär ist das Unternehmen weitgehend vor Übernahmeversuchen geschützt.

So mag es pikant erscheinen, dass auch Sika zurzeit eine grössere Übernahme verdauen muss. Im Herbst 2005 verlor die Sarna-Gruppe mit weltweit rund 1000 Angestellten ihre Selbständigkeit. In den Sarner Gaststätten und Bars war in den Monaten nach der Übernahme der lokalen Paradefirma durch die Baarer Weltfirma Sika viel Grummeln und Schimpfen zu hören. «Wir wissen nicht, was läuft, und hängen völlig in der Luft», beklagten sich Sarna-Angestellte. Und Bedenken wurden laut, ob die Geschäftsmodelle der Firmen überhaupt zusammenpassten. Etliche Sarner Angestellte konnten nicht verstehen, dass die Auswechslung des Sarna-Logos durch das Sika-Logo als festlicher Anlass angekündigt wurde. Allen Kritikern war jedoch klar, dass eine freundliche Übernahme durch Sika einer feindlichen bei weitem vorzuziehen war. So dienten viele Sarna-Angestellte ihre Aktien der Sika an, um ihre Firma vor einer Investmentgesellschaft zu bewahren.  
Im Baarer Sika-Hauptsitz blieb man gelassen. Zenhäusern wollte nicht zuerst hüst und später hott rufen: «Wir sagten, die meisten Leute könnten an ihrer Position bleiben, einem Teil würden andere Positionen angeboten – aber Stellengarantien wollten und konnten wir keine abgeben.» In diesem unbeabsichtigten Informationsvakuum gediehen Gerüchte und Vermutungen, und die Unsicherheit wuchs mit.

Unterschiedliche Geschäftsmodelle zusammenführen

Zenhäusern weiss um die Gefahren der Unsicherheit: «Konkurrenten können davon profitieren, indem sie Angestellte abwerben und Gerüchte bei Lieferanten und Kunden säen.» Doch die Zahl der Abgänge blieb niedrig. Schmerzhafte Eingriffe gab es nur in er inzwischen organisatorisch aufgelösten Sarna-Holding. Vom CEO der Holding hat man sich getrennt, anderen Mitarbeitenden wurden Positionen bei Sarnafil oder Sika
angeboten.

Die strategische Ausrichtung der Sarna-Holding und das ursprüngliche Kerngeschäft Sarnafil, Spezialistin für Dachabdichtungen, passten kulturell nicht recht zusammen. «Die Leute der Sarnafil nahmen sich als Cash-Cow der Holding wahr, die die erwirtschafteten Erträge für eine verfehlte Strategie abliefern musste», sagt Zenhäusern. Die Sarna-Gruppe erlitt schwere Verluste, als man Mitte der 90er-Jahre daranging, in
die Automobilsparte zu diversifizieren und Firmen im Kunststoffbereich zu kaufen. Krisenanzeichen zeigten sich schon um die Jahrtausendwende, doch der Gruppe gelang es nicht, sich schnell von unrentablen Firmen zu trennen. Als Sika ans Ruder kam, wollte sie Sarnafil und sonst nichts – einfach wird’s dennoch nicht mit der Integration.

Sika steht vor der Herausforderung, eine Firma mit unterschiedlichem Geschäftsmodell zu integrieren. «Wir von Sika bieten mit Sikaplan hauptsächlich Abdichtungsbahnen für den Massenmarkt wie zum
Beispiel Tunnelabdichtungen an, während Sarnafil mit komplexen Lösungen am Markt ist. Sie stellen nicht nur Abdichtungsbahnen her, sondern haben ein ganzes Accessoire von Nebenartikeln, die man für Dachabdichtungen braucht, und viel Beratungskompetenz.» Sarnafil ist als Total Solution Provider auf dem Markt – und soll es auch bleiben. Sika stellt in kleinerem Ausmass ebenfalls Dachabdichtungen her, sie verkauft diese aber ohne besondere Zusatzleistungen.

Nun sollen die beiden Marken getrennt am Markt auftreten. Eine anspruchsvolle Doppelstrategie, wie Zenhäusern bestätigt. Wer heute beim Firmengebäude in Sarnen vorbeifährt, sieht das rote Sika-Dreieck, einträchtig kombiniert mit dem blauen Schriftzug für die Produktlinie Sarnafil. Die Sarner Tochterfirma ist in Sika Sarnafil umbenannt worden und der Name Sarna soll ganz
verschwinden.

Entfremdung von Managern und normalen Angestellten

Einen Donnerhall rief im Juni in Winter-thur die Nachricht vom Verkauf der Winterthur-Versicherung an die französische Axa hervor. Die globale Versicherungsbranche ist schon lange in Bewegung, und eine Studie der Beratungsfirma A.T.Kearney rechnet nur die Swiss Re und die «Zürich» zu den fitten schweizerischen Versicherern. In der Eulachstadt gab man sich zuerst ganz cool. Ein Erdrutsch bei den Stellen schien gebannt. Doch der Schock sitzt vor allem bei älteren Mitarbeitenden tief. Die Lebensplanung ist in Frage gestellt.
Peter Spälti gilt als der Mann, der die «Winterthur» gross gemacht hat. Und jetzt soll auch der 131 Jahre alte Name verschwinden, so vermutet man. Der ehemalige Verwaltungsratspräsident, FDP-Nationalrat und Regimentskommandant brodelt vor Grimm, gibt sich aber zurückhaltend in seinen
Äusserungen. Er appelliert in allgemeinen Worten an die Verantwortung der Manager und verlangt, dass sie eine Vorbildfunktion wahrnehmen.

Peter Spälti hatte die Winterthur in die Arme der Credit Suisse geführt, um sie vor dem Raider Martin Ebner zu schützen. Doch die Selbständigkeit war dahin. Mit den Bankern wurden die Versicherungsspezialisten nie recht warm. Die Versicherer vermissten bei der CS das Gespür fürs Assekuranz-geschäft. Doch die Risse gehen tiefer: In Gesprächen mit betroffenen Mitarbeitenden offenbart sich Entfremdung zwischen Managerklasse und normalen Angestellten. Dass man im Korridor grusslos aneinander vorbeirauscht, ist noch das mindeste Anzeichen. Die «Winterthur» als selbständige Firma sei langfristig nicht überlebensfähig, hatte Walter Kielholz, Verwaltungsratspräsident der Credit Suisse, behauptet. Das könne nicht stimmen, meinen viele. Die «Winterthur» ist über dreimal so gross wie die Bâloise und etwa zwölf Mal grösser als die Mobiliar. Sicher ist indes: Die Offerte von Axa war so gut, dass die Credit Suisse das Angebot nicht ausschlagen konnte. Mit 12,3 Milliarden Franken lag der Verkaufserlös zwei Milliarden über den Erwartungen. «Die CS-Exponenten werden dieses Jahr icher von zusätzlichen Boni profitieren», zürnte ein mittlerer Angestellter
Nicht immer ist klar, was die Firmenkultur ausmacht

Drei Monate nach der Verkaufsmeldung kündigte die Winterthur-Versicherung den Abbau von 350 Stellen in der Schweiz an. Die Begründung lautete: Doppelspurigkeiten beseitigen. Der  Konzernsitz in Winterthur ist am stärksten betroffen.

ber 50 Angestellte hätten bereits gekündigt, meldete die Winterthurer Zeitung «Landbote» unter Berufung auf Insider. Viele Mitarbeitende verliessen das Unternehmen aus Enttäuschung über den schlechten internen Kommunikations- und Führungsstil. Auch von drastischen Lohneinbussen in manchen Abteilungen war die Rede.

Die Firmenspitze will von den Frustkündigungen offiziell nichts wissen. Bisher gebe es keine Hinweise auf eine aussergewöhnliche Zahl von Abgängen. Keinen Kommentar gab Pressesprecher Christian Pfister zu Insiderinformationen, wonach das Topmanagement in den Genuss einer «Verkaufsprämie» in zweistelliger Millionenhöhe kommen soll. Es geht um einen Bonus, der ursprünglich als Belohnung für den inzwischen abgeblasenen Börsengang gedacht war. Die Spitzenleute der «Winterthur» hatten es jedoch auch nicht leicht. Vom Verkauf der Gesellschaft wurden sie erst kurz vor der öffentlichen Bekanntgabe unterrichtet. Sie konnten keine Aktienoptionen ausüben, weil der geplante Börsengang wegfiel.

elbst bei Mitgliedern der Konzernspitze herrscht Ungewissheit über ihre berufliche Zukunft. Freie Posten in Verwaltungsräten stehen nicht zur Verfügung. Die Axa will mit der Übernahme jährlich 440 Millionen Franken Kosten sparen. Viele Mitarbeitende fürchten die harte Hand der Franzosen, denen der Ruf von Zentralisten anhaftet.  «Solche Behauptungen sind Unsinn», wehrt Christian Pfister ab – bisher hätten die Axa-Leute sich durch eine geschickte Integrationsstrategie ausgezeichnet. Stufe um Stufe, von oben nach unten, werden die Strukturen neu organisiert. In Absprache mit Arbeitnehmervertretungen bemüht man sich
um sozialverträgliche Lösungen und Unterstützung für Betroffene: «Selbst bei gekündigten Top-Profis kann es vorkommen, dass sie Hilfe bei Bewerbungen brauchen», sagt Christian Pfister.

Ob Firmenkulturen zusammenpassen, stellt sich meist erst eine gute Weile nach dem Zusammenschluss heraus. Oft fehlen am Anfang sogar genaue Vorstellungen, was eine Firmenkultur ausmacht. Der gut gemeinten Begriffe sind viele: Psychologen sprechen von positiver Beziehungskultur, Sozialkompetenz, Respekt, Transparenz und Vertrauen. In Tagungen und Seminaren versuchen Firmen, ihre Kader auf gemeinsame Führungsprinzipien und Werte einzuschwören.  Um im Konkurrenzkampf zu überleben, sollen alle am gleichen Strick iehen. Bei manchen Unternehmen liegt die Betonung stärker auf Sozialkompetenz, bei anderen auf Hochleistungskultur. Letztlich ist Firmenkultur ein höchst individuelles Produkt, das zu Strukturen und Marktorientierung einer Firma passen muss.

Lieber von «Guten» gefressen werden als untergehen

Noch ist offen, ob etwas von der «Winterthurer» Firmenkultur unter dem Dach der Axa überlebt – falls es diese eigenständige Kultur überhaupt noch gibt. «In unserer Gesellschaft gibt es unterschiedliche Firmenkulturen, je nachdem, wie international das Geschäft ausgerichtet ist», analysiert Christian Pfister. Veränderungen haben sich schon lange abgezeichnet. Auf der Teppichetage spricht man vornehmlich Hochdeutsch, Englisch und neu wohl auch Französisch. Die Internationalisierung des Versicherungswesens schreitet voran. Dennoch gibt es kulturelle Haltegriffe. Pfister betont unter anderem das Bemühen um Transparenz, das die Integration der «Winterthur» in die Axa kennzeichnet.
Die 1958 gegründete Sarna Kunststoff AG erhielt viel Lob für ihre kooperative Firmenkultur. Gründer Viktor Girtanner suchte nach einer Synthese zwischen Rentabilität und Menschlichkeit. Reines Gewinnstreben war ihm suspekt. Girtanner rief ein Solidaritätsprogramm für Krisenzeiten ins Leben. Sarna-Angestellte konnten vergünstigte Aktien kaufen. Mitarbeiterrat und eine Vertretung im Verwaltungsrat sicherten die
Mitsprache der Angestellten. Im Lauf der 90er-Jahre und im Zuge der Internationalisierung begann diese Kultur zu erodieren.

Trotz des Verlusts der direkten Mitsprache hat sich bei Sarna, der heutigen Sika Sarnafil, ein bodenständiges eidgenössisches Grundelement erhalten. Der ehemalige Firmenchef Peter Schildknecht nennt Einbezug der Mitarbeitenden, Zuverlässigkeit und klare Kommunikation als Grundtugenden des Führungsverhaltens. «Da sich die Selbständigkeit nicht erhalten liess, erschien uns eine Übernahme durch die Sika als bestmögliche Alternative – dies umso mehr, als Sarna und Sika über eine ähnliche Unternehmenskultur verfügen.»
Markus Zenhäusern betrachtet den Sika-Spirit» als Erfolgsrezept: «Wir sind kein grosser, schwerfälliger Tanker auf dem Ozean, sondern manövrieren mit vielen kleinen Schiffen beweglich am Markt.» Rasch werden Lösungen für neu erfasste Kundenbedürfnisse präsentiert. Mitreden gilt als selbstverständlich und die Mitarbeitenden haben per Intranet und Hauszeitung Zugriff auf die wichtigen Informationen – ohne von einer Informationslawine überrollt zu werden. Bei Zenhäuserns früherem Arbeitgeber, dem Chemiekonzern Ciba, sprach man praktisch nur von Prozessen und selten von Menschen.  

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