«der arbeitsmarkt» 07/2007

«Kunst war schon immer ein Wirtschaftsfaktor»

Neue Museumsbauten stehlen den Exponaten die Show, und das Spektakel
löst das Kunsterlebnis ab. «der arbeitsmarkt» sprach mit Kulturvermittler Peter Killer über das Image des Künstlerberufs und die Tendenz der Kunst, sich durch Überproduktion selbst zu entwerten.

Herr Killer, was bedeutet für Sie der Begriff «Kultur»?
Peter Killer: Schwierige Frage! In meiner Mittelschulzeit hat mir mein Geschichtslehrer eben diese Frage gestellt, wohl um mich zu plagen oder mich zu blamieren; wir mochten uns gegenseitig nicht besonders.

Was haben Sie damals geantwortet?
Meine spontane Antwort war: Kultur ist die Gesamtheit der Aktivitäten, die zivilisationserhaltend sind.

Mit dieser Antwort haben Sie sich bestimmt nicht blamiert.
Nein, und auch heute, 45 Jahre später, stehe ich noch immer hinter dieser Definition. Auf die Vergangenheit bezogen könnte man ergänzend sagen: die Resultate der Aktivitäten, denn um
diese geht es doch letztlich.

Was halten Sie von der Definition von Kultur als Gegenteil der Natur?
Früher ging man vielleicht davon aus, dass das Kulturelle vom Natürlichen abgetrennt sei. Spätestens jedoch seit man erkannt hat, dass der Mensch die Natur zerstören kann, ist zivilisatorische Arbeit auch naturerhaltend. Kultur ist kein Gegensatz zur Natur, wir sind ein Teil der Natur. Es entspricht einer Art von Unkultiviertheit, wenn die Natur oder die Zivilisation bewusst oder unbewusst zerstört werden.
Und was verstehen Sie unter «Kunst»?
Auf diese ebenfalls nicht einfache Frage möchte ich den Dadaisten Hans Richter zitieren: «Was Kunst ist, das sagen die Enkel.» Das Urteil der Gegenwart ist garantiert immer mit Irrtümern verbunden. Ohne genügende zeitliche Distanz kann man daher nie sagen, was Kunst ist und was nicht.

Weil die Kunst sozusagen der Zeit vorauseilt und ihr wahrer Wert erst später verstanden wird?
Ja, die Begriffe Impressionismus, Kubismus und Fauvismus waren einst Schimpfworte. Wir sind heute sicher nicht gebildeter als die Leute damals, aber wir haben die nötige Distanz. Von der Gegenwartskunst können wir heute auch nicht mit Sicherheit sagen, welchen Stellenwert sie einst erlangen wird.

Kunst ist vielfach sehr erklärungsbedürftig. Ohne Wissen über den Künstler oder die Künstlerin betrachtet man ein Werk und es gefällt einem oder eben nicht.
Dies ist kein neues Phänomen. Eine romanische Kirche beispielsweise ist voller Symbole und Geschichten, die wir heute nicht oder nur teilweise begreifen. Aber die damalige Bevölkerung fühlte sich angesprochen. Bildende Kunst ist eigentlich immer erklärungsbedürftig. Abgesehen vielleicht vom Impressionismus, was auch seinen Erfolg plausibel erklären mag.

Ist Kunst also eher etwas für gebildete Leute?
Vor allem für Neugierige. Für solche, die wissen wollen, was «hinter dem Bild» ist. Wenn man eine natürliche Wissbegier mitbringt, kann man in der Regel die Geheimnisse entschlüsseln. Wenn ein Kunstsachverständiger nur etwas von Kunst versteht, dann versteht er eigentlich nicht viel. Mir scheint es ganz wichtig, dass man die Bedingungen mit einbezieht, unter denen ein Kunstwerk entstanden ist. Man kann beispielsweise nicht über den Impressionismus sprechen, wenn man die Veränderungen der Beleuchtungstechnik in der Raum- und Strassenbeleuchtung von damals nicht kennt.

Was ist für Sie der Hauptzweck eines Kunstwerkes?
Hauptsache ist, dass es authentisch ist. Es muss die Art des Künstlers, sein Wesen, seine Absichten ausdrücken. Man kann daher nicht sagen, dass ein Kunstwerk dieses oder jenes soll. Es braucht nicht immer eine grosse Botschaft dahinterzustehen, es kann auch einfach ein Ausdruck einer Gestaltungsfreude und Lebenslust sein.

Von Kunstschaffenden hört man oft, dass sie zunächst einen «anständigen Beruf» erlernt hätten, vielfach auf Druck der Eltern.
Wenn ein junger Mensch mit seinem Sackgeld Materialien kauft, um ein Kunstwerk zu schaffen, und sagt, er sei von nun an Künstler, dann begreife ich, dass die Eltern eher skeptisch reagieren. Das Risiko ist eben schon gross. Die Tatsache, dass man seit etwa anderthalb Jahrzehnten an vielen Hochschulen ein Kunststudium absolvieren kann, hat das Image des Künstlerberufs aber stark verändert. Während eines solchen Studiums erwirbt man Kenntnisse auf verschiedensten Gebieten, die einem auch in einem nicht künstlerischen Beruf helfen. Die Berufsbilder verändern sich ohnehin so schnell, dass keine Ausbildung eine Sicherheit bieten kann.

Kann man «Künstlertum» lernen?
Ich weiss nicht, wie viel man wirklich lernen kann. Als ich die Dozentenstelle für eine Künstlerklasse in Bern annahm, war ich sehr skeptisch. Als ich zwei Jahre später meinen Dienst quittierte, war die Skepsis ungebrochen. Die zwei oder drei Studenten, die sich schon zu Beginn begabt zeigten, taten dies auch am Schluss noch, man hat ihnen ihr Talent nicht ausgeredet. Die übrigen blieben ebenfalls das, was sie schon zu Beginn waren: untalentiert. Eine Schule kann allenfalls helfen, die Welt um einen herum realistischer anzuschauen und die Verhältnisse besser zu durchschauen, sie kann einen vielseitiger machen. Aber das Kreative kann man nicht lernen, höchstens trainieren. Kreativität hat man oder eben nicht.

Viele neue Museumsbauten werden von Stararchitekten wie Herzog und de Meuron, Botta, Piano oder Calatrava erstellt. Allein schon der Architektur wegen sind solche Häuser heute einen Besuch wert. Hat da eine Veränderung stattgefunden?
Ja, sehr stark sogar. Dadurch, dass heute viel breitere Schichten in ein Museum gehen, muss es auch viel spektakulärer werden. Ein Museum muss schon als Gebäude eine besondere Aussage haben und möglichst unverwechselbar sein. Seien wir doch ehrlich: Es gibt wenige Museen, die von der Sammlung her ein so prägnantes Gesicht haben, dass man nach einem Jahr noch genau weiss, wo man beispielsweise einen bestimmten Picasso gesehen hat. Der Architekturrahmen hingegen bleibt häufig unvergesslich.

Tourismusförderung?
Absolut! Denken wir an das Centre Pompidou in Paris. Dieses Museum wurde wirklich zu einer Touristendestination und damit zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Praktisch alle, die nach Paris reisen, besuchen dieses Gebäude. Als Touristenattraktion hat es den Eiffelturm abgelöst.

Ist diese Entwicklung relativ jung?
Nein, Kunst hat immer mit Tourismus und Wirtschaft zu tun gehabt. Kathedralen wurden nie nur als Zeugnis tiefer Gläubigkeit errichtet, es standen immer auch wirtschaftliche Interessen dahinter. Die angereisten Gläubigen und Pilger haben konsumiert und waren damit für das Gewerbe einer Stadt wichtig. Grosse Bauwerke geben einer Stadt ein Gesicht, machen sie attraktiv. Auch Grossprozessionen waren einerseits natürlich Glaubensbekenntnisse, aber eben auch Events. Und die heutige Kultur basiert ganz stark auf dem Event-Denken.

Spielen bei den hohen Eintrittspreisen für Kunst- und andere Kulturhäuser auch elitäre Überlegungen mit?
In Olten kann man für etwa 3 Franken ins Museum gehen. Und es gibt bestimmt weitere kleinere Museen, die man für vergleichbar tiefe Preise besuchen kann. Bei grösseren Museen bezahlt man jedoch schnell 12 Franken und mehr. Ich bedauere, dass der Kunstboom zu einer so gewaltigen Steigerung der Eintrittspreise geführt hat. Ich glaube nicht, dass die Preise eine abschreckende Wirkung haben sollen, damit die Kulturinteressierten unter sich bleiben können. Vielmehr entspricht es einfach nicht dem schweizerischen Demokratieverständnis, dass eine Mehrheit einer Minderheit das Vergnügen finanzieren soll. Und die Kunstinteressierten sind trotz des Booms eine Minderheit.

Was müssten die Museen denn tun, um selbsttragend sein zu können?
Man bräuchte immer Erfolgsausstellungen. Und diese kann man nicht ständig machen, weil die Leihgaben einerseits rar geworden sind und die Leihgeber nicht dauernd auf ihre Meisterwerke verzichten möchten. Zudem kann man den Erfolg auch nicht immer voraussehen. Sobald man in den experimentellen Bereich geht, kann man sich total verrechnen.

Erlebten Sie als Leiter des Kunstmuseums Olten auch solche Flops?
Ja, immer mal wieder. Erfolg kann man zwar bis zu einem gewissen Grad planen, nicht zuletzt mit einer guten Öffentlichkeitsarbeit. Allerdings nützt diese auch nichts, wenn der Künstler oder die Künstlerin noch völlig unbekannt ist. Ein latentes Interesse muss bereits vorhanden sein.

Hat ein Misserfolg Konsequenzen für den Museumsleiter?
In einem grossen Museum, wo es um sehr viel Geld geht, kann das schon dazu führen, dass ein Museumsverantwortlicher seinen Platz verliert. Bei einem kleineren Museum ist die Gefahr nicht so gross.

Was macht eine Ausstellung so teuer?
Ausstellungen zu machen, war schon immer teuer. Und es ist noch sehr viel teurer geworden, seit Kunstwerke zu Spekulationsobjekten geworden sind. Die Versicherungsprämien sind enorm gestiegen. Und auch der Standard bei Transporten hat sich grundlegend verändert. Früher hat man Bilder und Plastiken einfach sorgfältig verpackt und in einem Lastwagen transportiert. Heute braucht es dazu spezialisierte Firmen. Der Kunsttransport ist zu einem Wirtschaftszweig für sich geworden.

Sie haben von Event und Spektakel gesprochen.
Dazu gehört auch, dass beispielsweise die Cafeterias in den Museen wichtiger geworden sind. Auch die Bookshops sind ja nicht mehr blosse Buchläden. Der Hauptteil des Sortiments besteht aus Foulards, kleinen Geschenken und Souvenirs. Cafeteria und Bookshop sind wichtige Wirtschaftsfaktoren für ein Museum.

Welche Bedeutung hat die Kunst als Spekulationsobjekt?
In den Zeitungen kann man immer wieder von horrenden Preisen lesen, die an Auktionen für Bilder erzielt wurden. Solche Meldungen haben eine irreführende Wirkung und können zur Annahme verleiten, dass jedes Kunstwerk mit einer Wertsteigerung verbunden ist. Dies trifft jedoch nicht zu. 99,9 Prozent der verkauften Kunstwerke behalten im besten Fall ihren Wert. Man hört nur von den Superresultaten, dabei wäre es auch ganz interessant zu erfahren, was nicht verkauft werden konnte. Es braucht eine gewisse Naivität, wenn man mit Kunst spekuliert, oder dann ein ausgesprochen gutes Gespür. Ich glaube, mit Kunst verdienen vor allem Galeristen und Auktionshäuser, aber ganz selten die Sammler selber.

Haben Sie dieses Gespür?
Nein. Diese Frage haben mir immer wieder Leute gestellt, in der eigennützigen Absicht, einen Tipp zu erhalten. Ich habe dann jeweils gesagt: «Kauf das Bild, wenn es dir Freude macht – wenn du jeden Tag Freude daran hast, dann hast du einen Gewinn, einen sehr grossen sogar. Aber erwarte keinen Gewinn in Franken und Rappen.» Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Bild wie eine Batterie wirken kann, die einen auflädt und die Lebensqualität vergrössert. Wenn man dadurch weniger Arztkosten hat und sich psychisch besser fühlt, zahlt sich die Investition jedenfalls aus.

Aus finanzieller Sicht sollte man also doch besser mit Aktien spekulieren?
Mit Aktien oder Immobilien ist man garantiert besser versehen. Bei Immobilien zum Beispiel ist es so, dass das Land auf der Erde beschränkt ist. Hingegen werden immer wieder neue Kunstwerke geschaffen. Wir haben heute einen unglaublichen Kunstproduktionsboom. Kunst hat die Tendenz, sich durch Überproduktion selber zu entwerten.

Müsste die Kunstproduktion kontingentiert werden?
Ich habe mal so halb scherzhaft, halb ernsthaft gesagt: Ein guter neuer Industriezweig wäre die pietätvolle Kunstvernichtung. Es müsste in der Kehrichtverbrennung eine Kunstabteilung geben, die mit besonderem Respekt Kunstwerke nicht einfach verbrennt, sondern kremiert.

Betätigen Sie sich selber auch künstlerisch?
Nein, das habe ich nie gemacht. Unter anderem eben gerade wegen der ohnehin schon bestehenden Überproduktion. Es stellt sich allerdings auch hier wieder die Frage, was Kunst ist. Ich kann beispielsweise ziemlich gut kochen. Das verstehe ich auch als kreative Leistung. Ich kann auch Kunst vermitteln. Wenn ich spüre, dass ich Leuten etwas Neues vermitteln kann, macht mich das ein wenig stolz. Aber der Gedanke, selber ein Bild oder sonst etwas zu schaffen, ist mir eigentlich fremd.

Sie leiten Kunst- und Kulturreisen.
Ja, manchmal mit stärkerer Betonung auf Kultur, dann wieder mehr auf Kunst.

Organisieren Sie diese Reisen selber?
Zum Teil bin ich Kleinunternehmer, ein ganz kleiner, und dann arbeite ich aber auch im Auftragsverhältnis.

Welchen Anteil Ihrer Tätigkeit nehmen Ihre Reisen ein?
Das ist unterschiedlich. Vielleicht ein Drittel. Ich mache weiterhin Ausstellungen, schreibe und bin auch für die Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich tätig. Kunst- und Kulturreisen sind aber zum stärksten dieser vier Standbeine geworden. Doch das kann sich auch wieder ändern.

Wie setzt sich das Publikum in Ihren Gruppen zusammen?
Die meisten sind Leute im AHV-Alter. Das hat den naheliegenden Grund, dass diese Bevölkerungsgruppe mehr Zeit hat. Und ich muss auch sagen, dass sie aufnahmewilliger ist. Leute, die im Erwerbsstress stehen und ständig gefordert werden, möchten in ihrer Freizeit endlich mal in Ruhe gelassen werden. Aufregende Dinge sind dann gar nicht gewünscht. Ich kann das nachvollziehen, mir ging es früher ganz ähnlich.
Auf Ihre Frage nach der Definition von Kultur zurückkommend, könnte man auch sagen, Kultur sei Energieüberschuss. Erst als die Steinzeitmenschen ihre primären Bedürfnisse befriedigt und ein bisschen freie Energie hatten, begannen sie, etwas an die Wände ihrer Höhlen zu zeichnen. Vorher lag das einfach nicht drin. Auch die Beschäftigung mit Kunst und Kultur ist an einen solchen Energieüberschuss gebunden. Wer sämtliche Kräfte für die Arbeit oder die Familie hergeben muss, der will und kann sich nicht mit etwas scheinbar Überflüssigem beschäftigen.

Auf Ihrer Visitenkarte findet sich keine Berufsbezeichnung. Warum?
Ich nannte mich eine Weile «Kulturvermittler». Eines Tages wurde ich von einem Herrn gebeten, ihm zu einem bestimmten Bild zu verhelfen. Als ich ihm erklärte, dass dies eigentlich nicht so mein Gebiet sei, meinte er erstaunt: Aber Sie sind doch Kunstvermittler. Da habe ich erst realisiert, wie dieses Vermitteln eben auch verstanden werden kann.

Und eine andere Bezeichnung?
Als Bub habe ich ein Buch von einem Grosswildjäger gelesen. Es hatte den Titel «Gefahr ist mein Beruf». Der Begriff «Gefahr» hat mich irgendwie schon geprägt, im Sinne aber von Gefährdetsein. Wenn man sich mit Kunst beschäftigt, vor allem mit der Gegenwartskunst, so ist man immer gefährdet, permanent verunsichert. Kunst ist ja immer etwas Neues. Wenn man in ein Atelier kommt, in dem ein Künstler an der Arbeit ist, so sieht man etwas, was man noch nie zuvor gesehen hat. Ich empfinde bis heute grosse Lust und Freude, wenn ich solchen «Gefährdungen» ausgesetzt bin, etwas Unerwartetes entdecken kann. Rein spasseshalber habe ich dann mal gesagt, mein Beruf sei «Gefahr». Aber ich verwende eigentlich keine Berufsbezeichnung mehr.

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