«der arbeitsmarkt» 03/2006

Kranker Kurort

Jahr für Jahr sonnt sich Davos im Glanz des WEF. Doch dem traditionsreichen Kurort geht es schlecht. Nun soll ein Turm wieder für Aufschwung sorgen.

Ein Turm, so hoch, wie die Schatzalp lang ist. 105 Meter Stahl, Beton und Glas auf einer Matte mitten in den Alpen, wo einst die Hirten im Sommer ihre Kühe weideten. Kostenpunkt: 200 Millionen Franken. Am 31. Oktober 2004 hat die Davoser Bevölkerung einer Umzonung des ehemaligen Kurgebiets zugestimmt. Am 8. Februar 2006 wies die Bündner Regierung zwei Beschwerden ab, die sich gegen das Projekt stellten. Der ehrgeizige Plan des weltberühmten Basler Architekturbüros Herzog & de Meuron stösst vor Ort nicht nur auf Gegenliebe.
Ein Turm, so hoch, wie die Schatzalp alt ist. Die grosse Mehrheit sehnt ihn herbei. Das Davoser Kurwesen schwächelt. Der letzte Schlag kam vor einem Jahr, als innert dreier Wochen drei von sieben Kliniken ihre Schliessung bekannt gaben. 370 Personen wurden auf einen Schlag arbeitslos, Gemeinde und Kanton sahen sich zum Handeln gezwungen. Der Turm soll wieder für Aufschwung sorgen, ein futuristischer Bau mit hohen Ambitionen.

Aufstieg und Niedergang eines Luftkurorts

Es geschah vor 105 Jahren auf einer Wiese, 1864 Meter über Meer. Ein künstliches Plateau wurde angelegt, das präzis nach Süden ausgerichtet war, um die Sonnenstrahlen besser auffangen zu können. Darauf bauten zwei Zürcher Architekten ein Stahlbetongebäude – eine damals neuartige Bauweise.
Sie handelten dabei im Auftrag eines gewissen Willem Jan Holsboer, eines Holländers, der schon die Rhätische Bahn initiiert hatte.
Am 21. Dezember 1900 wurde das Luxussanatorium im Jugendstil eröffnet. Geleitet wurde die Heilanstalt von Luzius Spengler, Sohn eines deutschen Flüchtlings, der hier als Landarzt eine grosse Karriere machte.
Sein Vater Alexander war 1848 wegen seines Engagements während der Badischen Revolution zum Tode verurteilt worden und nach Davos geflohen. Heute erinnert nur noch der Spengler-Cup an ihn. Er erkannte als einer der ersten Wissenschafter die gesunde Wirkung des hiesigen Klimas und baute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Kuranstalten im Tal. Hotels, Pensionen, Sanatorien und Villen schossen daraufhin wie Pilze aus dem Boden. Als die Schatzalp eröffnet wurde, gab es in Davos bereits 2100 Fremdenbetten. Bis 1930 erhöhte sich deren Anzahl auf 6879. Die Nazis kamen – und erholten sich hier genauso wie die Frau von Thomas Mann, der nach einem Besuch in Davos den weltweit erfolgreichen Roman «Der Zauberberg» schrieb.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam das Penicillin und brachte eine alternative Heilungsmethode für die Tuberkulose mit sich. Die Zahl der Klinikaufenthalte halbierte sich innert zehn Jahren. Seitdem schwinden die Logiernächte des Gesundheitssektors zusehends. Dann kam der November 2004 und mit ihm die Schliessung der Thurgauer-Schaffhauser Höhenklinik (TSH), des Alexanderhauses und der Deutschen Militärklinik Valbella. Geblieben sind nur noch die Zürcher Höhenklinik Clavadel und die vielen Forschungsinstitute. Die Niederländische zog zur Deutschen Höhenklinik im Wolfgang und die Kinderklinik wurde nur knapp und auf zwei Jahre begrenzt gerettet.

Angestellte und Patienten müssen sich neu orientieren

Erwin Gansner, Leiter des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) in Davos, erzählt: «Wir waren alle schockiert. Wir erhielten am Freitag die Meldung, dass das Alexanderhaus am Dienstag geschlossen werde. In Zusammenarbeit mit dem KIGA schufen wir Anfang Februar ein Arbeitsmarktzentrum in den ehemaligen Räumlichkeiten des Niederländischen Asthmazentrums, wo wir hauptsächlich die qualifizierten Arbeitnehmenden betreuten und – auch über die Region hinaus – vermittelten. Im Juni zogen wir in ein neues Zentrum zur Interinstitutionellen Zusammenarbeit (IIZ-Zentrum) um, das unabhängig von den Klinikschliessungen bereits in Planung war.»
Gansner führt weiter aus: «Inzwischen haben etwa achtzig Prozent der Betroffenen eine Arbeit in Davos gefunden. Bis auf zehn haben überhaupt alle eine Stelle gefunden oder erzielen mittlerweile einen Zwischenverdienst. Allerdings meldeten sich anfangs etwa achtzig Personen gar nicht erst beim Arbeitsamt. Wir erfuhren eine grosse Solidarität seitens der Bevölkerung. Viele Davoser Firmen meldeten Stellen mit dem Hinweis, sie wollten nur Leute aus den ehemaligen Kliniken beschäftigen.»
Das neue IIZ-Zentrum liegt am See, etwas nördlich von Davos, und teilt sich das alte Von-Sprecher-Haus mit dem herkömmlichen Lager- und Gastrobetrieb, der neuerdings im Sommer von Arbeitslosen im Beschäftigungsprogramm betreut wird. Dort treffen wir Patricia Halter, IIZ-Leiterin und schon am Aufbau des Arbeitsmarktzentrums beteiligt. Sie bestätigt unsere Vermutung: «Wir vermittelten vor allem das qualifizierte Personal des Pflege- und medizinischen Bereichs in die ganze Schweiz, zum Teil ins Ausland. Für die Region ist das ein grosser Know-how-Verlust.»
Patricia Halter führt durch die Räumlichkeiten. Neben dem Hauswirtschafts- und dem Gastrobereich, die mit dem normalen Betrieb des Hauses zusammenhängen, haben stellensuchende Personen aus verschiedenen Institutionen wie RAV, IV und Sozialdiensten die Möglichkeit, sich im handwerklich-technischen, im kreativ-textilen sowie im kaufmännischen Bereich neue Kenntnisse anzueignen oder bestehende zu vertiefen. Zurzeit machen siebzehn Personen, die allerdings allesamt vom Arbeitsamt kommen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch. In Graubünden zögern die Gemeinden und die IV noch in Sachen Präventivmassnahmen.
Einige Stellenlose treffen wir in der Kreativ-Werkstatt. Eine Teilnehmerin, die in der Thurgauer-Schaffhauser Höhenklinik arbeitete, erzählt: «Auch meine damalige Chefin ist heute noch arbeitslos. Doch sie hat es vorgezogen, nicht stempeln zu gehen.» Auch eine Co-Abteilungsleiterin des Ateliers kommt von der TSH. Sie konnte nach deren Schliessung mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde einen Kurs aufbauen, der nun ins IIZ-Zentrum integriert wurde.
Was ist aus all den Patienten geworden, die fast über Nacht ihre lieb gewonnene Kliniken verlassen mussten? Siska Koppmann war 25 Mal in der TSH und schildert: «Ich habe versucht, einen Platz in Davos zu finden, doch in der Zürcher Höhenklinik Clavadel werden Knochenbrüche und psychische Probleme behandelt. Nach über zwei Wochen Wartezeit erlaubte mir die Krankenkasse nun einen Aufenthalt in der Zürcher Höhenklinik in Wald, auf 1400 Metern, in der Nähe von Zürich. Es ist schon seltsam, dass die Zürcher ihre Patienten mit Knochenbrüchen in den Schnee und solche mit Lungenprobleme in der Nähe der Grossstadt einweisen.»
Verena Sala, ebenfalls mehrere Jahre in der TSH zu Gast, erzählt: «Ich habe ein Zimmer in einem schönen Bauernhof mit reichlichem Frühstück gemietet und lasse mich vom ehemaligen Co-Chefarzt der TSH ambulant behandeln. Natürlich wird das nicht von der Krankenkasse übernommen. Doch was soll ich tun? Warten bis sie mich in den Schwarzwald schicken?»

Die eigene Zukunft in die Hand nehmen

Tatsächlich haben mehrere Krankenkassen, darunter die Helsana, Verträge mit Rehabilitationskliniken im Schwarzwald abgeschlossen, obwohl dies laut Krankenversicherungsgesetz gar nicht erlaubt wäre. So steht Davos nun vor der krassen Situation, dass vor allem dank der Höhenklinik im Wolfgang Kurgäste aus dem süddeutschen Raum nach Davos fahren, während ehemalige Davoser Patienten aus der Schweiz nach Süddeutschland geschickt werden.
Der Schock der Klinikschliessungen sitzt tief. Wohl auch deshalb arbeitet man in Davos zurzeit an einem neuen Leitbild. Mittels Hearings, Interviews, Fragebogen und einer internen Bestandesaufnahme will der Kleine Landrat dem Parlament bis im Sommer ein Papier zur mittel- und langfristigen Zukunftsplanung vorlegen, das über die Legislaturperiode hinaus grundsätzliche Führungsziele und Umsetzungsvorschläge aufzeigen soll (siehe Interview auf Seite 10/11). Landammann Hans-Peter Michel sagt dazu: «Wir haben zwar einen Haufen Probleme, insbesondere einen riesigen Investitionsbedarf, aber auch ein grosses Entwicklungspotenzial. Wenn wir die Strategie der nachhaltigen Nutzung weiterverfolgen, können wir bei den Kliniken eine gute Lösung finden, die einen Haufen zusätzliche Arbeitsplätze generieren kann.»

Mit Optimismus gegen Sorgen und offene Rechnungen

Gesamtwirtschaftlich wirkten die Kliniken für Zulieferer antizyklisch zum Saisontourismus. Erwin Gansner vom RAV Davos bestätigt, dass letztes Jahr einige Anmeldungen von Arbeitnehmenden der Zulieferbetriebe beim RAV eingingen: «Allerdings können wir diese Auswirkungen nicht genau beziffern.» Noch scheinen Sport, Kongresse, Forschung und Bildung die Folgen der Klinikschliessungen in Davos auffangen zu können. Michel bestätigt: «Verglichen mit reinen Tourismusorten verfügen wir über eine ganze Menge weiterer Standbeine, die das wirtschaftliche Risiko besser verteilen.»
Die Frage ist nur, wie lange. Die Logiernächte gingen in den letzten zehn Jahren von 2,6 auf 2,1 Millionen zurück. Der Kongressbetrieb schreibt vor allem wegen der jährlichen Sicherheitskosten für das WEF negative Zahlen und bedarf einer gründlichen Erneuerung. Auch der legendäre Hockey-Club Davos und sein Spengler-Cup bereiten der Gemeinde Sorgen. Unlängst musste sie die Eishalle übernehmen und
12 Millionen Franken investieren.
Die Abwärtsspirale dreht sich weiter. Wie heuer bekannt wurde, hinterliess Pro-Health AG, Zwischennutzerin der ehemaligen Militärklinik Valbella, offene Rechnungen von knapp einer halben Million Franken.
So greift nun Davos mit dem Turmprojekt auf der Schatzalp nach den Sternen, um nicht ganz in Vergessenheit zu geraten. Mit den Worten seines Landammanns: «Wenn man im Voraus sagt, das lohnt sich nicht, hat man sicher verloren. Wenn man es riskiert, nur vielleicht.»

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