«der arbeitsmarkt» 05/2005

Konzertflyer verteilen statt Orangentörtchen backen

Jessica Graf ist 23 Jahre alt. Seit dem Abschluss ihrer Lehre als Konditorin hangelt sie sich von einem Aushilfsjob zum nächsten, denn keinesfalls will sie untätig zuhause sitzen. Dennoch verliert sie ihr Ziel nicht aus den Augen: Irgendwann will sie wieder einen Arbeitsvertrag für ihren erlernten Job unterzeichnen.

Im Moment ist Jessica Graf wieder arbeitslos. Seit drei Jahren findet sich die aufgestellte junge Frau in unregelmässigen Abständen auf dem RAV wieder. Immer dann, wenn einer ihrer Temporärjobs beendet ist, mit denen sie sich über Wasser hält. «Mein letzter Job ist im Februar ausgelaufen. Danach konnte ich an der Uhrenmesse jobben, aber jetzt bin ich wieder gleich weit wie vorher», erzählt die 23-Jährige, während sie im Café seit einer Stunde an ihrer Cola light nippt. In manchen Monaten musste sie schon mit knapp 900 Franken auskommen, davon gehen allein 680 Franken für die Miete in ihrer Dreier-WG weg. In solchen Momenten musste sie die Grosseltern um einen Zustupf bitten, obwohl sie unbedingt auf eigenen Beinen stehen will. Seit sie vor drei Jahren ihre Lehre an Basels erster Konditorei-Adresse, der Confiserie Schiesser, beendet hat, konnte sie nirgends fest Fuss fassen. «Natürlich habe ich meinen Chef bekniet, mich zu behalten, als die Lehre zu Ende ging. Aber dort werden prinzipiell keine Lehrlinge übernommen.»
Tatenlos zuhause sitzen wollte und konnte sie nicht. Also hütete sie in Graubünden das Kind von Freunden. «Sogar die Massagepraxis meines Onkels habe ich geputzt. Hauptsache, ich konnte mich sinnvoll beschäftigen.» Schliesslich fand sie eine Anstellung in einer kleinen Bäckerei. Das ging jedoch nicht lange gut. Ihr einziger Kollege war seit 18 Jahren in der Backstube angestellt und opponierte von Anfang an gegen Jessica, «vielleicht weil ich eine Frau bin, genau weiss ich das bis heute nicht», grübelt sie.
Ihr Chef hatte sie auch wegen ihres in der Gegend sehr renommierten Lehrbetriebes eingestellt. «Er hat immer gesagt: Mach doch mal was, was du beim Schiesser gelernt hast.» Also buk sie Orangentörtchen – und fand am nächsten Morgen die komplette Produktion im Abfallkübel. «Natürlich fragte ich meinen Kollegen, was das solle. Seine Antwort: Die stünden nicht auf der Liste.
Also habe er sie weggeworfen. Damit fing es an», erinnert sich Jessica. Sie suchte das Gespräch mit ihrem Chef, schliesslich setzten sich alle drei an einen Tisch, um zu reden. Der Kollege allerdings war an einem Gespräch nicht interessiert. Er sagte nur: «Entweder geht sie oder ich gehe.» Natürlich durfte der langjährige Mitarbeiter bleiben, Jessica befand sich nach nur drei Monaten wieder auf Jobsuche. Bis zu zwölf Bewerbungen schrieb – und schreibt – sie pro Monat. Meist bewirbt sie sich auf Konditorei- oder Bäckereistellen, aber auch als Verkäuferin oder Serviererin.
Dass sie einmal Konditor lernen würde, hätte Jessica sich nie träumen lassen. In der Berufswahlklasse wusste sie anfangs überhaupt nicht, was sie werden wollte. Eine dreiwöchige Schnupperlehre in der Konditorei warf sie vor der Zeit hin. Jessica: «Das frühe Aufstehen war nichts für mich. Zudem war da ein welscher Kollege, der immer wieder Spässe auf meine Kosten gemacht hat. Bestimmt einmal am Tag hat er mich zum Metzger gegenüber geschickt, irgendeinen Blödsinn holen wie ‹trois kilos de l’air›. Ich bin immer brav losgegangen, denn mein Französisch war viel zu schlecht, als dass ich verstanden hätte, was er mir auftrug.» Als sie ihren Traumjob in einer Boutique, in der sie ebenfalls eine Schnupperlehre absolviert hatte, nicht bekam, bewarb sie sich doch wieder in der Konditorei, Hauptsache eine Lehrstelle, war ihr Gedanke. «Ich war sicher, die nehmen mich eh nicht, schliesslich hatte ich ja das Praktikum hingeworfen. Aber der Chef sagte, er habe mich als jemanden erlebt, der will. Und ein Sonnenstrahl sei ich sowieso», erinnert sie sich mit einem Lächeln. Allerdings konnte er erst ein Jahr später einen Lehrling respektive eine Lehrfrau einstellen. Jessica nutzte die Zeit und machte ein Welschlandjahr. «Danach verstand ich auch den welschen Kollegen und liess mich nicht mehr veralbern. Während der Lehre wurde Konditorin mein absoluter Traumberuf. Ich will unbedingt wieder auf meinem Beruf arbeiten.» Nur eben: «Wenn ich nicht bald eine Stelle als Konditorin finde, verliere ich immer mehr Wissen. Zwar mache ich auch viel zuhause, bis hin zur Hochzeitstorte für meinen Onkel, aber das ist nicht das Gleiche. Langsam glaube ich: Wenn man irgendetwas wirklich will, findet man sicher nie etwas.»
Als Zwischenlösung meldete sie sich schliess-lich bei der temporären Arbeitsvermittlung Adecco an. Zuhause Däumchen drehen hält sie nicht lange aus. «Ein Kollege von mir macht seit zwei Jahren nichts. Der lebt vom Staat, und erst noch gemütlich. Das regt mich auf. Wer wirklich will und nichts findet, kriegt Stress mit dem RAV und andere gamen gemütlich zuhause auf dem Sofa.» Von temporärem Jobben wolle der Kollege nichts wissen. Jessica findet: besser das als gar nichts. In ihrer positiven Art zieht sie für sich auch Nutzen aus einfachen Jobs: «Ich kann in vieles reinschauen. So hätte ich nie gedacht, dass ich mal eine Kasse bedienen kann. Man lernt auch, mit schwierigen Leuten umzugehen und dabei locker zu bleiben.» Dank Adecco konnte sie drei Monate bei Nestlé am Buffet arbeiten, dann eine Woche in der Migros-Gourmessa. Ein Jahr lang tat sich dann gar nichts. Ab und zu jobbte sie in einer Kneipe oder verteilte Konzertflyer.
Sie versuchte, nicht zuhause zu versauern. «Aber es ist noch schwierig: Zum Ausgang fehlt das Geld, zum Lädelen auch. Wenn Freunde auf ein Konzert gingen, konnte ich nie mit. Wie hätte ich das bezahlen sollen?», erinnert sie sich. Klar hätten ihre Kollegen angeboten, sie einzuladen. Aber das sei ja auch keine Lösung.
Gerne habe sie zugegriffen, als ihr Adecco eine auf ein Jahr befristete Mutterschaftsvertretung im Bistro der Unibliothek Basel anbot. Endlich wieder etwas zu tun. Sie sass  an der Kasse und füllte das Buffet auf. Da sie wusste, dass sie Mitte Februar wieder arbeitslos sein würde, begann sie erneut zu suchen. Und hatte Glück: «Eine Woche nach Vertragsende hätte ich in einem Hotel als Patisseuse anfangen können. Ich sollte einen langjährigen Angestellten ersetzen, der ins Ausland wollte.» Der Vertrag war schon unterschrieben. Eine Woche vor Arbeitsbeginn erklärte ihr künftiger Chef, der Patisseur, den sie ersetzen sollte, habe es sich anders überlegt – und natürlich wolle man einen langjährigen Mitarbeiter nicht im Regen stehen lassen. Jessica konnte es nicht glauben: «Jetzt stehe ich wieder ohne Job da und war doch so nahe dran.»
Wie ihre Zukunft aussieht, weiss sie nicht: «Langsam ist mir egal, was ich mache, Hauptsache, es ist eine feste Stelle. Von dort aus könnte ich dann ohne Stress weitersuchen.» Natürlich will sie wenn möglich wieder in ihren Beruf zurück, aber die Chancen werden immer geringer, sie war lange nicht mehr darin tätig. Sie hofft: «Vielleicht finde ich für den Winter wenigstens eine Saisonstelle. Kurzfristig weg aus Basel kann ich aber kaum. Denn dann müsste ich ja meine WG-Kollegen hängen lassen. Das muss alles organisiert sein, ich muss ja einen Zwischenmieter finden.» Auch wenn der Frust manchmal gross ist, ihre Energie, etwas tun zu wollen, lässt nicht nach, nicht zuletzt dank ihrer Freundin Selina. Zurzeit jobbt Jessica wieder in der Kneipe, wenn dort Not an der Frau ist, oder verteilt Flyer. Ihre Freunde sagen: «Das chunnt scho.» Jessica ist nicht der Typ, der resigniert, aber es braucht langen Schnauf. Ihren Traum jedenfalls gibt sie nicht auf: «Irgendwann will ich als Konditorin ins Ausland. Aber momentan habe ich zu wenig Berufserfahrung. Ich habe ja gerade nur die Lehre gemacht.»

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