«der arbeitsmarkt» 05/2005

Kämpferische Parolen, melancholisch vorgetragen

Globalisierung, Arbeitslose, Sozialabbau – der Welt geht es schlecht und damit auch der Schweiz. Doch der Widerstand beginnt sich zu organisieren.

Marco Feistmann ist ein unauffälliger, zurückhaltender Mann von 43 Jahren. Nur dass er Hochdeutsch spricht und zum Espresso ein Glas Wasser bestellt, könnte auf seine Tessiner Wurzeln hindeuten. An diesem sonnigen Märzmorgen sitzt er im Restaurant des Volkshauses am Helvetiaplatz in Zürich. Er will darüber reden, wie es heute in der Schweiz mit dem sozialen Widerstand bestellt ist.
Marco Feistmann ist Sekretär der Bewegung für den Sozialismus (BFS) der Sektion Zürich. In der französischen Schweiz nennt sich die Organisation Mouvement pour le socialisme (MPS) und im Tessin Movimento per il socialismo (MPS). Die gesamtschweizerische Begründung und Vernetzung hat erst 2002 stattgefunden. Bis dahin waren kleine kantonale Gruppierungen unabhängig voneinander am Werk. Die Schweizerische Bewegung für den Sozialismus umfasst etwa zwei- bis dreihundert aktive Mitglieder, die sich regelmässig treffen. Während sich die Westschweizer und Tessiner bereits zuvor organisiert hatten, musste die Bewegung in der Deutschschweiz vor drei Jahren von Grund auf aufgebaut werden. Heute umfasst die Sektion Zürich fünfzehn aktive Mitglieder, Frauen und Männer, Studenten und Studentinnen.
Marco Feistmann ist der Einzige, der vollamtlich für die Organisation tätig ist. Einen Teil seiner Zeit verbringt er mit Aufbauarbeiten der Deutschschweizer Sektion, den anderen Teil mit der Koordination der verschiedenen Landesgruppierungen und mit der internationalen Vernetzung. Regelmässige Kontakte bestehen zur Rifondazione Communista in Italien, zur Ligue Communiste Révolutionaire (LCR) und zur Lutte Ouvrière (LO), die in Frankreich zusammenspannen, zum Linksruck und zum Revolutionären Sozialistischen Bund in Deutschland und zur Socialist Worker Party (SWP) in England.
Die Schweizer Strukturen sind im Vergleich zu den anderen Ländern noch rudimentär. Alle Organisationen streben eine globale Vernetzung der revolutionären Kräfte an.
Marco Feistmanns Weg des sozialen Engagements hat früh angefangen. In Lugano geboren, in Locarno aufgewachsen, beschäftigte er sich bereits als 15-Jähriger mit gesellschaftspolitischen Fragen, die besonders durch einen Lehrer und eine Lehrerin angeregt wurden. Mit 17 war er Teil der Bewegung, die einen ersten Streik an der Schule durchführte. Es ging um das Recht der Schüler, in der Schule eine Vollversammlung abhalten zu dürfen, was ihnen zwar auf dem Papier, nicht aber von der Schulleitung zugestanden wurde. Während der Mittelschulzeit setzte sich Feistmann vor allem bei Schulproblemen ein und für die Vernetzung der Schüler und Studenten untereinander zwecks Verbesserung ihrer Situation, zum Beispiel bei der Vergabe von Stipendien.
Als er an die Universität Zürich kam, um Wirtschaft, Wirtschaftsgeschichte und Geschichte zu studieren,
eignete sich Feistmann die ganze marxistische Literatur an. Er war stark von der sozialen Bewegung in Italien
beeinflusst. In Zürich gab es zu jener Zeit die Revolutionäre Marxistische Liga (RML), die Anfang der Achtzigerjahre in die Sozialistische ArbeiterInnen Partei (SAP) umbenannt wurde. Sie war praxisorientiert und vor allem in Betrieben verankert. Sie arbeitete zwar mit den Gewerkschaften zusammen, aber die gewerkschaftlichen Bemühungen schienen ihr in der Regel zu zaghaft und zahm. Feistmann bemängelt, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Gewerkschaften kaum als ihre wirklichen Interessenvertreter wahrnehmen. Die Folge davon sei der seit Jahren steigende Mitgliederverlust bei den Gewerkschaften. Im Gegensatz dazu habe die RML seit 1969 einen ständigen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen gehabt.

Allgemeine Orientierungslosigkeit, Angst und Ohnmacht

In den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts ging es allerdings auch mit der SAP nicht mehr so flott voran, es wurden keine neuen Mitglieder dazugewonnen, Anfang der Neunzigerjahre fiel die Gruppe auseinander und der nationale Zusammenhang wurde aufgelöst.
So gab es von Anfang der Neunzigerjahre bis 2002 in der Deutschschweiz keine eigentliche organisierte
Widerstandsbewegung mehr. Wenn ich Feistmann nach seinen Gefühlen beim Auseinanderfallen der Bewegung frage, gibt er zu, frustriert gewesen zu sein. Heute nimmt er es gelassener. Die sozialen Bewegungen fänden
ohnehin zyklisch statt, immer dann nämlich, wenn der gesellschaftliche Druck zu gross werde. Das allein reiche aber nicht. Heute, da sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt zugespitzt hat, sei im Prinzip genügend Druck vorhanden, nur hätten die Leute keine Tradition, auf die sie zurückgreifen könnten. Im internationalen Vergleich seien die sozialen Bewegungen in der Schweiz schon immer schwach gewesen. Die Leute wüssten
deshalb jetzt auch nicht, wie sie sich organisieren sollen, um sich zu wehren. Viele glaubten, sagt Feistmann, dass es in der Schweiz ein Streikverbot gebe. Es herrsche allgemeine Orientierungslosigkeit, Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber den immer schwieriger werdenden Lebensumständen. Zudem finde seit den Neunzigerjahren eine Offensive der Wirtschaftsvertreter und Arbeitgeber statt. In den beiden Weissbüchern
Mitte der Neunzigerjahre sei die neue Wirtschaftsordnung schwarz auf weiss festgeschrieben worden.
Die neoliberale Ideologie gebe sich mit diesem Handbuch zum Kapitalismus gleichsam eine Carte blanche für ihr weiteres Vorgehen. Auch seien die linken Begriffe wie «Reform» oder «Modernisierung» von den
Wirtschaftskräften besetzt worden, um so ihre Strategie zu legitimieren.
Feistmann ist überzeugt, dass seit den Neunzigerjahren die globale Wirtschaft am Vernetzen ist. In den USA überlege man sich heute bereits, wie die Welt in 50 Jahren aussehen werde, wenn China zur Wirtschaftsmacht angewachsen sein wird. Und sorge vor.
Dagegen seien die weltweit verstreuten Oppositionsbewegungen erst im Aufbau begriffen. Sie hätten bisher weder einen Konsens noch eine Koordination gefunden. Es bräuchte so etwas wie ein Schwarzbuch, das die
verschiedenen Anliegen unter einen Hut bringen und vereinen könnte, glaubt er. Oder «Das Kapital» von Karl Marx müsste den heutigen Gegebenheiten angepasst werden. Dessen Voraussagen aus dem 19. Jahrhundert fänden jetzt im 21. Jahrhundert ihre erschreckende Bestätigung.
Was an Feistmanns Ausführungen irritiert, ist die Verwendung traditionell kämpferischer Parolen in einer unemotionalen, ruhigen, fast melancholischen Art. Vielleicht trifft das jedoch genau das Bild eines heutigen Revolutionärs. Die revolutionäre Arbeit unterscheidet sich heute nicht von der ihres politischen Gegners, der kapitalistisch orientierten Wirtschaft: Sie besteht darin, sich zu vernetzen. Als Netz wird das Internet benutzt, wie von allen anderen Kräften auch. Die Arbeit findet nicht wie früher im Verdeckten statt, sondern sie ist transparent. Über www.bfs-zh.ch sind Standpunkt und Aktivitäten der Bewegung für den Sozialismus für alle
ersichtlich. Die BFS organisiert Veranstaltungen oder Referendumskampagnen. Neben ihrer Website bietet sie verschiedene Schriften, Zeitungen und Flugblätter an. Beim aktuellsten Papier steht auf dem Titelblatt mit roten Buchstaben über dem Foto einer Demonstration der Unia: «Nein zu Lohn- und Sozialdumping!», «Unterschreibt das Referendum!» und einiges mehr. Unwillkürlich denke ich, dass der Bewegung für den Sozialismus eine PR-Beratung gut täte.

Individualisierungsdruck schadet dem Klassenkampf

Derweil holt Feistmann zu einer weiteren Gesellschaftsanalyse aus: Das Bürgertum und der Neoliberalismus hätten in den letzten 30 Jahren eine innere Kohärenz entwickelt, in deren Kern das Individuum steht, die Marktwirtschaft und das Unternehmen – im Gegensatz zur Familie, wie das früher der Fall war. Damit sei die
Arbeitssituation geschaffen worden, wie wir sie heute vorfinden. Die meisten Menschen glaubten nun, so Feistmann, dass es so sein müsse, wie es ist, und dass sie dieser Situation machtlos ausgeliefert seien. Wenn in der Schweiz eine Tradition des Widerstandes bestünde, würde man sich das nicht einfach gefallen lassen. Man wüsste, dass man gemeinsam stark ist und etwas verändern kann. Dieses Bewusstsein sei nicht vorhanden.
Wie könnten Leute neu politisch aktiviert werden? Die Erfahrung, dass es den Leuten schlechter geht, genüge in der Regel nicht, glaubt der neue Klassenkämpfer. Der Individualisierungsdruck, der Rückzug in die eigenen vier Wände seien einfach zu gross. Dann gebe es auch eine Reihe von Pseudolösungen oder die Flucht in die Krankheit, wie die steigende Zahl der IV-Bezüger mit psychischen Leiden beweise. Diejenigen, denen es am dreckigsten gehe, könnten sich nicht mehr selbst aktivieren. Sie könnten höchstens mitgerissen werden, wenn eine neue Politisierungswelle kommt und wenn sie ihre persönlichen Probleme mit reinbringen könnten.
Es brauche dazu immer einen Anlass, einen Skandal, der aufzeige, dass das Mass voll sei.
Dazu muss aber auch die Idee kollektiv vorhanden sein, dass man sich zusammentun und organisieren muss. Die BFS versucht unter anderem, diese Idee zu verbreiten. Aber Strukturen, wie beispielsweise eine
Gewerkschaft, müssen schon vorhanden sein, damit die Idee auch auf fruchtbaren Boden fällt. Das Organisieren, Koordinieren, Aufarbeiten von Themen, die politische Arbeit ganz allgemein, nimmt viel Zeit in Anspruch.
Obwohl ältere Mitstreiter der BFS dazu durchaus imstande wären, kommen sie nicht einmal dazu, ein theoretisches Werkzeug auszuarbeiten, sagt Feistmann. Vor allem gilt es aber, eine Kontinuität der Arbeit und
eine Stabilität der Organisation herzustellen, da soziale Bewegungen immer grossen Schwankungen unterworfen sind. Daher konnte zum Beispiel die Anti-Kriegs-Demo 2003 zwar verschiedene Forderungen vereinen und eine gesellschaftliche Diskussion auslösen, schaffte es aber letztlich nicht, ihre Anliegen weiterzuverfolgen.
Trotz aller Schwierigkeiten sieht Feistmann durchaus Grund zur Hoffnung: 1995 hat die Gegenbewegung in Frankreich angefangen, als bei der Diskussion um den Service public erstmals der ganze öffentliche Verkehr lahm gelegt wurde. Das war seit vielen Jahren die erste soziale Bewegung in Europa gegen den Neoliberalismus. 1997 und 1998 formierte sich dann «Attac» als eine erste Antiglobalisierungsbewegung. Seit 1999 in Seattle und dann 2001 in Genua spricht man von Globalisierungsgegnern. Die Globalisierung sei aber nicht das wirkliche Problem, glaubt Feistmann. Das Problem ist für ihn die Konzentration des Kapitals, für das die Globalisierung steht. Das wirtschaftliche Problem der Globalisierung sei im Grunde das gesellschaftliche der Umverteilung.

Warten, bis die Stunde der Klassenkämpfer schlägt

2001 gab es eine erste grosse Veranstaltung, «Das andere Davos» im Volkshaus Zürich, bei der etwa tausend Leute anwesend waren. Die Impulse dazu waren vom Weltsozialforum (World Social Forum) gekommen, welches einen Gegenentwurf zum Weltwirtschaftsforum (WEF) bildete. Bei dieser Gelegenheit konnten sich Leute aus der Deutschschweiz wieder vernetzen. Am 1.12.2001 kam es zur ersten Vorversammlung, die dann 2002 zur Gründung der BFS führte. Seither gibt es eine Reihe gesamtschweizerischer Treffen. Die BFS bereitet sich vor, sammelt Erfahrungen, macht, was jetzt gemacht werden kann. Sie ist bei Demos präsent und versucht ein Gedächtnis des Widerstandes zu sein, damit nicht immer wieder bei null angefangen werden muss. Die neuen Klassenkämpfer warten, bis ihre Stunde schlägt.

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