«der arbeitsmarkt» 01/2005

Junge: Null Bock aufs RAV

In der Schweiz sind weit mehr junge Menschen auf Stellensuche, als es die Arbeitslosenstatistik zum Ausdruck bringt. Denn eine grosse Zahl erwerbsloser Jugendlicher meldet sich nicht beim Arbeitsamt.

Im Oktober 2004 waren 6,1 Prozent der 15- bis 25-Jährigen arbeitslos. Diese hohe Zahl beeindruckt, entspricht aber nur der halben Wahrheit. Es gibt in der Schweiz fast doppelt so viele junge Erwachsene ohne Stelle. Die Hälfte der Jugendlichen ist nicht beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gemeldet und erscheint deshalb nicht in der Arbeitslosenstatistik. Dies belegt eine Studie vom Herbst 2004 der Arbeitsmarktbeobachtung Ostschweiz, Aargau, Zug (AMOSA).
Als arbeitslos gelten nur jene Stellensuchende, die beim RAV gemeldet sind. Zu den Erwerbslosen wird gezählt, wer auf Stellensuche, aber nicht beim RAV gemeldet ist. Jugendliche, die an Beschäftigungsprogrammen und Motivationssemestern teilnehmen oder sich in einem Berufspraktikum befinden, sind ebenfalls nicht in der Arbeitslosenstatistik aufgeführt.

Teilzeitjobs und Berufspraktika

Warum melden sich junge Menschen nicht beim Arbeitsamt? «Wir vermuten, dass sich viele Jugendliche nicht bei den Arbeitsämtern melden, weil sie von ihren Eltern finanziell unterstützt werden», sagt Erika Meins, Projektleiterin AMOSA. Auch müssten Schulabgängerinnen und Schulabgänger nach Anmeldung beim Arbeitsamt vier Monate auf finanzielle Arbeitslosenunterstützung verzichten (Einstelltage). Dies mache das Beziehen von Arbeitslosengeldern weniger attraktiv. Nach der Anmeldung beim RAV erhielten Schul- und Lehrabgänger höchstens während zwölf Monaten Unterstützung vom Arbeitsamt. Viele jugendliche Stellensuchende melden sich laut Erika Meins auch deshalb nicht beim Arbeitsamt, weil sie eine weiterführende Schule besuchen und sich mit Teilzeitjobs über Wasser halten. Andere junge Leute würden nach Zwischenlösungen suchen und Brückenangebote wie das zehnte Schuljahr absolvieren oder ein Berufspraktikum besuchen.
Brückenangebote oder Zwischenlösun-gen dauern meistens ein Jahr. Doch auch danach bleiben viele junge Menschen stellen-los. «In St.Gallen befinden sich rund 15 Prozent der Jugendlichen in einem Zwischen-jahr», berichtet etwa Jutta Röösli, Leiterin Berufsberatung des Kantons St.Gallen. Diese Zahl sei in den letzten Jahren stabil geblieben. In anderen Kantonen aber hätten sich bis zu 25 Prozent der Jugendlichen mit einer Überbrückung zufrieden geben müssen. «Es gibt nicht wenige, die zwei bis drei Jahre benötigen, um den Einstieg in die Berufswelt zu schaffen», weiss Jutta Röösli. Erfolgreicher bei der Stellensuche seien
Jugendliche, die ein Motivationssemester besuchten. Fachpersonen sind der Ansicht, dass der starke Praxisbezug dieser Massnahme den Einstieg in die Berufswelt erleichtere.
Loredana Pachioli, Sozialarbeiterin im Jugendsekretariat St.Gallen, ist in ihrer Arbeit hauptsächlich mit jungen Menschen konfrontiert, die sich in schwierigeren Situ-ationen befinden. Auch unter ihren Schützlingen haben sich einige nicht beim RAV gemeldet. «Die Gründe sind so vielfältig wie die Jugendlichen selbst», meint sie. Jugendliche aus gutem Elternhaus besuchten vielfach eine Privatschule. Somit komme es bei ihnen vorerst nicht zur Arbeitslosigkeit. Wie Jutta Röösli stellt auch Loredana Pachioli fest, dass Jugendliche ausländischer Herkunft oft mehr Schwierigkeiten in der Stellensuche haben als ihre Kolleginnen und Kollegen mit dem Schweizerpass. «Die Arbeits- und Erwerbslosigkeit trifft am stärksten ausländische Frauen mit knapp genügenden Schulnoten», sagt sie. Ein Familienname, der auf «-ic» ende, erschwere die Stellensuche zusätzlich. Loredana Pachioli beobachtet, dass viele ausländische Jugendliche eher ein bis zwei Jahre jobben, anstatt das RAV aufzusuchen. Sie spürt bei deren Eltern eine grössere Hemmschwelle, die Kinder beim Arbeitsamt anzumelden. Die Familien wollten sich in der Schweiz selber durchbringen, und viele schämten sich für die Arbeitslosigkeit ihrer Töchter und Söhne. «Nach zweijährigem Jobben wird es jedoch für die Jugendlichen immer schwieriger, eine Lehrstelle zu finden», sagt Loredana Pachioli.

Stempeln beim RAV ist uncool

Andere Jugendliche empfinden das RAV schlicht als «uncool». Sie möchten nicht bevormundet werden und haben keine Lust, die vorgeschriebenen Bewerbungen zu schreiben und Kurse zu besuchen, die ihnen in ihren Augen nichts bringen. «In diesem Alter spielt der Kollegenkreis, auch ‹Peers› genannt, eine wichtige Rolle, und die jungen Menschen lassen sich stark von der Meinung ihrer Kolleginnen und Kollegen beeinflussen», sagt Loredana Pachioli. Auch stellt sie fest, dass es immer wieder Jugendliche gibt, welche RAV-Termine nicht einhielten und deshalb auf die Unterstützung des Arbeitsamtes verzichten müssten.

Unterstützung bei Orientierungslosigkeit

In einigen Köpfen Erwachsener hat sich die Meinung festgesetzt, dass viele jugendliche Schul- und Lehrabgänger überhaupt nicht arbeiten wollten. Bequemer sei es, im «Hotel Mama» zu wohnen und die Arbeitslosenentschädigung anstelle des Lohnes zu beziehen. Norbert Raschle, Leiter des Sozialamts St.Gallen, sieht diese Problematik auch, jedoch in stark abgeschwächter Form. Die meisten jungen Menschen seien nach intensiven Gesprächen und der Suche nach einer geeigneten Lösung motiviert, sich einzusetzen. Es gebe Fälle von Orientierungslosigkeit und jugendlicher Trotzreaktion, doch das sei ja nichts Neues. Norbert Raschle: «Auch wir wollten uns von den Eltern abgrenzen und meinten, wir wüssten besser, wie man durchs Leben kommt.» Da die Volljährigkeit heute bereits mit 18 und nicht mehr mit 20 Jahren erreicht sei, gebe es aber zusätzlich finanzielle Engpässe. Auch das Fürsorgeamt sei über die hohe Erwerbs- und Arbeitslosigkeit von jungen Menschen besorgt.
Loredana Pachioli und Norbert Raschle sind sich einig, dass Jugendliche in ihrer Orientierungslosigkeit Unterstützung brauchen. Nur so schöpfen junge Menschen wieder Kraft für neue Taten. Längere Erwerbslosigkeit wirkt sich negativ auf das Selbstbewusstsein und längerfristig auch auf die Gesundheit aus. Loredana Pachioli formuliert es so: «Ich erlebe viele junge Menschen in einem Tief. Für sie ist es schwierig, Perspektiven zu entwickeln. Hat ein junger Mensch eine Stelle gefunden, sehe ich, wie er aufblüht und ein Teil des Selbstwertes zurückgewinnt. Das ist ein schöner Moment in meiner Arbeit.»

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