«der arbeitsmarkt» 09/2007

«Ja, es kann zu Streiks kommen»

Die Unternehmen profitieren vom Aufschwung, und das wollen jetzt auch die Arbeitnehmen-den. Gespräch mit Paul Rechsteiner, dem Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, über den bevorstehenden Lohnherbst und die Strategien der Gewerkschaften.

Herr Rechsteiner, der Schweizerische Gewerkschaftsbund fordert eine generelle Lohnerhöhung von drei bis vier Prozent. Warum?

Paul Rechsteiner: Die Wirtschaftslage ist ausgezeichnet, die Beschäftigten haben das verdient.

Sie beharren auf generellen Lohnerhöhungen.

Ja. Denn individuelle Lohnerhöhungen führen in der Praxis dazu, dass Beschäftigte in oberen Lohnklassen stärker profitieren als solche mit tieferen Einkommen. Zudem sind individuelle Leistungen, die zum Beispiel als Bonus ausbezahlt werden, nicht versichert. Das hat schwerwiegende Folgen, zum Beispiel bei Krankheit oder im Alter.
 
Die Individualisierung unterminiert die Sozialpartnerschaft?

Das Lohngefüge gerät jedenfalls aus dem Lot. Wenn man die letzten fünfzehn Jahre betrachtet, sind die hohen Einkommen in einem Ausmass explodiert, wie man es sich vorher nicht hätte vorstellen können. Noch in den 90er-Jahren galt ein Managerlohn von einer Million Franken als unverschämt, und heute sind wir im Bereich des 30- bis 35-Fachen. Diese Abzockerei hat langfristig fatale gesellschaftliche Auswirkungen.

Thomas Minder, Inhaber der Kosmetikfirma Trybol, hat gegen masslose Managerlöhne eine Initiative lanciert. Ein Unternehmer macht sich für Anliegen stark, die eigentlich die Gewerkschaften vertreten sollten?

Herr Minder hat die an sich löbliche Initiative als eigenständige Veranstaltung lanciert und dabei jede Nähe zu den Gewerkschaften vermieden. Die Initiative ist aber auch stark auf die Generalversammlungen ausgerichtet. Dort sind die Aktionäre das Thema, während für uns die Mitarbeitenden im Zentrum stehen. Entscheidender als das Verhältnis zwischen Aktionären und Managern ist für uns die Frage, wer in einem Unternehmen die Werte erarbeitet, und das sind die Beschäftigten. Dazu kommt, dass das Hauptaugenmerk der Gewerkschaften auf untere und mittlere Löhne gerichtet ist. Die hohen Löhne müssen in ein Verhältnis zu den unteren und mittleren Einkommen gesetzt werden.

Es gibt noch andere Ungerechtigkeiten. Wir denken an die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau.

Richtig. Wenn es im heutigen Tempo weitergeht, sind wir noch Jahrzehnte mit der Beseitigung von geschlechtlich bedingten Lohnunterschieden beschäftigt. Man muss anerkennen, dass eine Reihe von Verbesserungen erzielt wurde, zum Beispiel dank Lohnklagen im Gesundheitswesen, wo wir dank der Lohnsysteme, die mit der öffentlichen Hand zusammenhängen, eine gewisse Transparenz haben. Ohne Druck wären wir jedoch noch nirgends, und es ist klar, dass es jetzt in der Privatwirtschaft vorwärtsgehen muss. Unternehmen einer gewissen Grösse müssten nach meiner Meinung gezwungen werden, intern zu überprüfen – und zwar nachvollziehbar zu überprüfen –, wie es um die Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern steht.

Mehr Druck und Tempo also. Dafür sind die Voraussetzungen in diesem Herbst ja gut.

Es ist sicher so, dass die Arbeitsmarktlage und die wirtschaftlichen Verbesserungen günstige Faktoren sind. Wobei die Arbeitslosigkeit oder vielmehr die Angst vor Arbeitslosigkeit vielen Menschen noch immer in den Knochen sitzt. Es ist immer so und man darf es nicht unterschätzen: Nach jeder Krise dauert es zwei bis drei Jahre, bis die Leute sich wieder zutrauen, offensiv Forderungen zu stellen. Es ist aber zu hoffen, dass sich das jetzt zu ändern beginnt, nachdem erstmals wieder Reallohnerhöhungen ausgehandelt werden konnten und die Voraussetzungen für 2007/08 nochmals deutlich besser sind, weil die gesamtwirtschaftlichen Rahmen-
bedingungen perfekt sind.

Eine Grossdemonstration zum Lohnthema wird es in diesem Jahr nicht geben?

Eine Lohndemonstration beziehungsweise eine nationale Demonstration wird immer aus einem konkreten Anlass heraus organisiert. In der Tat gibt es etwas, was uns derzeit grosse Sorgen macht. Einer der wichtigsten Gesamtarbeitsverträge, der Landesmantelvertrag im Bauhauptgewerbe, wurde vom Baumeisterverband ausgerechnet in der gegenwärtig günstigen Situation gekündigt, um die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Der vertragslose Zustand be-ginnt am 1.Oktober, und bis dahin sind
die betroffenen Gewerkschaften an die Friedenspflicht gebunden. Den Auftakt zur Bewegung auf dem Bau bildet eine Gross-demonstration am 22.September in Zürich. Das wird die nationale Kundgebung sein in diesem Herbst.

Und ab dem 1.Oktober ist auch mit Streiks zu rechnen?

Ja, es kann zu Streiks kommen.

Wie erklären Sie sich, dass die Arbeitgeber gerade jetzt auf Konfrontationskurs gehen?

Die Spitze des Baumeisterverbands hat offensichtlich das Gefühl, dass es Zeit sei, eine Gegenbewegung einzuleiten gegenüber den zum Teil doch beträchtlichen Erfolgen, welche die Gewerkschaften in dieser Branche erreicht haben.

Das richtet sich gegen die Unia.

Ja. Die Unia hat in der letzten Vertrags-periode grosse Erfolge erzielt, etwa mit dem Rentenalter 60 für Bauarbeiter.

Die Unia ist zum Opfer ihres Erfolges geworden?

Opfer ist sie noch lange nicht, doch der Druck wird in diesem Herbst hoch sein. Allerdings wäre es schon verwunderlich, wenn es die Baumeister schaffen würden, den Vertrag zu verschlechtern in einer Situation, in der die Auftragslage sehr gut ist. Der Termindruck ist ja eng, qualifiziertes Personal ist sehr gefragt. Von daher ist das Kräfteverhältnis auch nicht das ungüns-tigste, um dafür zu sorgen, dass die Verhältnisse wieder in Ordnung gebracht werden.

Sie sagten, die Angst der vergangenen Jahre wirke bei den Beschäftigten noch nach. Können die Gewerkschaften derzeit überhaupt Leute mobilisieren?

Das ist von Branche zu Branche unterschiedlich. Neben dem Bau gibt es die Maschinenindustrie, in der in den einzelnen Betrieben verhandelt wird – das ist eine ganz andere Ausgangslage. Dann haben wir sehr viele individualisierte Sektoren, etwa die Medienbranche. Auch da hat der Arbeitgeberverband unter der Führung von Herrn Lebrument den Gesamtarbeitsvertrag gekündigt und will von Mindestanforderungen nichts mehr wissen. Er hat sich von allen Regeln der Sozialpartnerschaft verabschiedet, aber obwohl die beiden Gewerkschaften Comedia und impressum gar nicht so schlecht organisiert sind, kennt die Branche das Moment der Mobilisierung praktisch nicht. Jeder schaut für sich alleine, und so ist es sehr viel schwieriger, etwas aufzubauen.

Gibt es überhaupt eine Basis für eine
Gesamtstrategie?
Die Verbände des Gewerkschaftsbunds sind in der Regel die führenden Verbände in der jeweiligen Branche, und im Schnitt zeigt sich bei der Gesamtentwicklung jeweils doch, dass die generellen Lohnforderungen eine gewisse gesamtwirtschaftliche Ausstrahlung haben. Sie sind vielfach der Ausgangspunkt für Diskussionen in den Betrieben, in denen verhandelt wird, auch in jenen Branchen, in denen es überhaupt keinen GAV gibt. Da entsteht dann eine gewisse Erwartungshaltung, und schliesslich muss sich ein Arbeitgeber rechtfertigen für das, was er tut oder lässt.

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