«der arbeitsmarkt» 03/2006

Im Sperrfeuer der Kritik

Die Arbeitslosenversicherung ist finanziell in Schieflage geraten. Dennoch steigen die Kosten für Bildungs- und Beschäftigungsmassnahmen. Obwohl selbst das Staatssekretariat für Wirtschaft über deren Nutzen rätselt.

Viele Arbeitslose können über ihr RAV ein Klagelied singen. Diesen Eindruck erhält, wer sich im Internetforum der Sendung «Kassensturz» umschaut. Nach einem Beitrag in der Sendung mit dem Titel «Arbeitslosen-Kurse: Teurer Leerlauf» schrieben sich im vergangenen Herbst hunderte von Fernsehzuschauern ihren Frust von der Seele. Viele nehmen den Namen der Institution beim Wort und erwarten, dass ihr Regionales Arbeitsvermittlungszentrum sie eingehend berät und ihnen zu einem Job verhilft. Laut den provisorischen Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco) schauten im Jahr 2005 bei den rund 130 RAV insgesamt 520000 Stellensuchende vorbei (Jahresanfangsbestand von 228000 plus die das Jahr über kumulierten Neuzugänge von 292000). Ein RAV-Mitarbeitender betreut jeweils rund 300 Personen. Könnte er nur schon die Hälfte «seiner» Stellensuchenden aktiv vermitteln, genösse er wohl Legendenstatus. Ein Hoffnungsschimmer bleibt. Die Zahl der Angestellten bei den RAV und den direkt damit verbundenen Amtsstellen ist laut seco von 2003 bis 2005 um über fünfzehn Prozent auf knapp 3500 Vollzeitstellen gestiegen (davon 1800 RAV-PB-Vollzeitstellen).

Harsche Kritik seitens der Kursteilnehmenden

Es gibt keinen rechtlichen Anspruch auf arbeitsmarktliche Massnahmen (AMM). Vielen Arbeitslosen ist es jedoch ein Anliegen, dass ihnen ihr RAV ein sinnvolles Beschäftigungsprogramm oder den richtigen Kurs vermitteln kann. Wie das «Kassensturz»-Forum zeigt, gelingt das längst nicht in jedem Fall. Etliche interaktive Fernsehzuschauer beklagen, dass sie zur Teilnahme an einem «sinnlosen» Kurs gezwungen wurden, andernfalls droht eine Kürzung des Arbeitslosengeldes. 145 Millionen Franken hat die Arbeitslosenversicherung laut «Kassensturz» mit diesen Einstelltagen 2004 eingespart. Auch über das Niveau einzelner Kurse wird hergezogen: R.A. aus Zürich zum Beispiel fühlt sich beleidigt. Die Kurse seien oft unter dem normalen Bildungs- und Intelligenzniveau. «So, als hätten wir alle die Arbeit verloren, weil wir Deppen sind.» B.S. aus Aarberg wiederum lässt schon die zweite arbeitsmarktliche Massnahme über sich ergehen. Nach einem Kurs für Bewerbungstraining mit «Nutzen gleich null» wurde sie für drei Monate in eine Übungsfirma «gesteckt». Man versprach ihr Einblicke in die verschiedenen Abteilungen der Scheinfirma. «Unsere Arbeit besteht aus Sitzungen, Sitzungen, Sitzungen.» Und: «Dieser Pseudofirma stehen zwei Männer zu je 100 Stellenprozent und eine Frau mit 60 Stellenprozent vor.» Die Zustände in «Scheinfirmen» beklagt auch B.W. aus Aarau, der in einer Übungsfirma fest angestellt war: «Es ist wie in vielen ‹aktiven› Firmen. Es wird schlecht zusammengearbeitet. Der nette Nebeneffekt: Ich wurde fürstlich entlöhnt.»

Trotz Schuldenlast wurden Kurse teurer – und besser

670 Millionen Franken zahlte die Arbeitslosenversicherung (ALV) 2005 für die AMM. Wie viele Menschen mit Kursen, Beschäftigungsprogrammen und anderen arbeitsmarktlichen Massnahmen ihr Geld verdienen, kann das seco nicht sagen. Die «SonntagsZeitung» kam 1999 mittels einer Schätzung auf gegen 10000 Teilzeitstellen. Damals betrug die Arbeitslosenquote 2,7 Prozent.
Bekannt sind dagegen die Zahlen zur ALV. Die Arbeitslosenquote stieg von 2001 bis 2004 von 1,7 auf 3,9 Prozent an. 2005 lag sie bei 3,8 Prozent. Die AMM kosteten im Jahr 2003, als die Arbeitslosenquote 3,7 Prozent betrug, 591,6 Millionen Franken. 2004 mit einer Arbeitslosenquote von 3,9 Prozent zahlte die ALV 683,5 Millionen Franken für die AMM, für 2005 rechnet das seco mit 670 Millionen Franken. Der Rückgang an AMM-Kosten ist also kleiner, als er aufgrund der Arbeitslosenquote zu erwarten wäre. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den potenziellen Teilnehmenden von AMM um die gemeldeten Stellensuchenden der RAV handelt und nicht nur um die Teilmenge der «Arbeitslosen».
Eindeutig gestiegen ist der Kostenanteil für AMM an den Gesamtausgaben der ALV von 8 Prozent im Jahr 2002 auf 9,5 Prozent im Jahr 2005. Wie viele Personen 2005 in die kritisierten Bewerbungskurse und andere Massnahmen gesteckt wurden, kann seco-Sprecherin Antje Bärtschi nicht genau beziffern. Die Zahl schwanke jeweils zwischen 130000 und 145000. Sie weiss aber, warum die Kurse und Programme teurer geworden sind: «Die Qualität der AMM wurde in den letzten Jahren systematisch gesteigert. Es wird mehr Bildung betrieben, insbesondere in den Beschäftigungsprogrammen.»
Die gestiegene Arbeitslosenquote trug wie etwa auch die Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit dazu bei, dass bei der ALV seit 2004 ein Loch in der Kasse klafft. Per Ende 2005 betrugen die Darlehensschulden bei der Bundestresorerie 3,8 Milliarden Franken. Einnahmen von 5,2 Milliarden Franken stehen Ausgaben von 7,1 Milliarden Franken gegenüber. Und das, obwohl im Herbst 2002, als das Volk über die Revision der ALV abstimmte, der damalige Volkswirtschaftsminister Pascal Couchepin sagte: «Wir haben mit dieser Revision die Möglichkeit, die Arbeitslosenversicherung nachhaltig zu festigen.»

Schlagender Beweis für Wirksamkeit fehlt

Man ging damals allgemein von einer Erholung der Konjunktur aus. Das Volk akzeptierte neben einer leichten Erhöhung der Taggelder für Arbeitslose auch die Kürzung der Bezugsdauer für Taggelder von 520 auf 400 Tage und die Ausdehnung der Beitragsfrist auf ein Jahr. Gleichzeitig liefen die in der Rezession der 90er-Jahre zur Sanierung der ALV beschlossenen Massnahmen aus. Der Beitragssatz wurde von drei auf zwei Lohnprozente gesenkt. Ebenso fiel der Solidaritätsbeitrag von einem weiteren Lohnprozent für höher Verdienende weg.
Das besorgte der ALV einen Einnahmenausfall, der mit den Leistungskürzungen aufgefangen werden sollte. Der Bund ging damals von einem langfristigen Mittel von 100000 Arbeitslosen in der Schweiz aus. Zudem versprach er sich vom Ausbau und von der Professionalisierung der kritisierten AMM eine raschere Wiedereingliederung der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt. Wie die Studie von Professor George Sheldon zeigt, konnte die Vermittlungseffizienz der RAV zwischen 1998 und 2003 tatsächlich gesteigert werden – um 22 Prozent. Es spricht einiges dafür, dass auch die AMM ihren Beitrag geleistet haben. Doch das sind bloss
Indizien. «Bisher haben wir keinen wissenschaftlichen Beweis, dass die Weiterbildungsmassnahmen etwas bringen», liess sich Esther Widmer, Chefin Bildungsmassnahmen beim seco, in der Zeitschrift «Facts»
zitieren. Derzeit läuft ein ALV-finanziertes Forschungsprogramm, von dem sich das seco einen Nachweis erhofft. Neun Forschungsstellen nahmen sich teilweise in Teamarbeit der sechs Studien an. Im Frühsommer 2006 sollen die Resultate bekannt sein.
Aber ist die Wirkung der staatlich verordneten Weiterbildung überhaupt messbar? Jedenfalls unterscheiden sich die bei der Ausschreibung der Studien formulierten Fragestellungen und die nun effektiv erforschten Thesen in einigen Punkten. Nicht zuletzt sind die Gründe für eine Wiedereingliederung eines Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt oft vielfältig und können nicht isoliert betrachtet werden. Dennoch erhofft sich das seco Antworten auf die Frage, wie stark in die Verbesserung der AMM und in die Verbesserung der Vermittlungsprozesse investiert werden soll. Was die 46 Übungsfirmen in der Schweiz betrifft, hat die Zürcher Volkswirtschaftsdirektorin Rita Furrer dem seco und den Forschern gegenüber offenbar einen Wissensvorsprung. Jüngst äusserte sie sich aufgrund eines Vorstosses im Kantonsrat zu diesem Thema so: Übungsfirmen hätten eine «zweifelhafte Wirkung» und arbeiteten «an der Realität vorbei». Schon früher wandte sich das seco an die Wissenschaft. In einer Studie bestätigte das Institut Interface 2004 die Professionalität der AMM. In der Zusammenfassung der Studie schreibt das seco unter anderem: «Das
seco ist bestrebt, die Qualität der AMM zu erhöhen und die Kosten zu senken.» Das seco gibt den Kantonen Richtwerte vor: Sprachkurse kosten 95 Franken pro Tag und Teilnehmer, Informatikkurse 200 Franken. Die Qualität der AMM erhöht das seco, indem von den Kurs- und Programmanbietern vermehrt das eduQua-Qualitätslabel verlangt wird.
Das treibt aber wiederum die Kosten in die Höhe. Im Kanton Aargau kosten 80 Lektionen Französisch intensiv beim Anbieter ohne Label 950 Franken, bei demjenigen mit Label 1260 Franken. Einsparnisse brachte die Reduktion der Zahl der Anbieter. Derzeit sind es 430 für kollektive Massnahmen, die von den Kantonen vergeben werden. Zudem schreiben die Kantone die AMM vermehrt öffentlich aus. Gespart wurde auch bei der Einführung eines neuen Finanzierungssystems. Die Kantone erhalten mehr Kompetenzen und rechnen seit 2006 mit Plafonds. 3500 Franken pro Stellensuchenden erhalten sie für ihre Kurse und Programme. In der Projektphase des Finanzierungssystems rechnete das seco noch mit 4000 Franken. Für 2005 kann seco-Sprecherin Bärtschi einen kleinen Erfolg vermelden: «Es waren AMM-Kosten von 697 Millionen Franken budgetiert.» 670 Millionen betragen laut provisorischer Rechnung die effektiven Kosten.

Politische Massnahmen zur ALV-Sanierung stehen an

Der Bund ist also alles andere als untätig, um die Kritiker der arbeitsmarktlichen Massnahmen zu beruhigen. Die noch junge Branche der öffentlichen Arbeitsvermittlung und die dazugehörende Weiterbildung sollen möglichst professionell und ökonomisch ablaufen. Bis zur Erreichung dieses Ziels ist es aber noch ein weiter – und dornenvoller – Weg. Denn die «Kassensturz»-Zuschauer stehen mit ihrer Kritik an den Kursen nicht alleine da. Die neuerlichen Schulden der ALV brachten auch die Politik auf den Plan. Bereits in der Wintersession 2005 gelangten Linke und Bürgerliche mit Vorstössen an den Bundesrat. Linke und Gewerkschafter fordern eine Erhöhung des Beitragssatzes von zwei auf zweieinhalb Lohnprozente, ein Abbau der Leistungen kommt für sie nicht in Frage. Die SVP-Bundeshausfraktion hingegen wittert Missbrauch und fordert eine Senkung der Leistungen.
Der Bund seinerseits hat auf die finanzielle Schieflage der ALV reagiert. Eine Expertengruppe unter der Leitung von Jean-Luc Nordmann, Chef der Direktion für Arbeit beim seco, trat in diesem Januar ein erstes Mal zusammen, um über mögliche Massnahmen zur Verbesserung der ALV-Finanzen zu beraten. Laut Arbeitslosenversicherungsgesetz muss der Bundesrat solche erst vorschlagen, wenn das ALV-Darlehen eine im Gesetz vorgesehene Höhe überschreitet. Derzeit liegt diese Grenze bei 5,6 Milliarden Franken. Das seco geht davon aus, dass diese 2007 überschritten wird. Dennoch unterbreiten die Experten ihren Bericht dem Bundesrat schon im Herbst. Laut seco-Sprecherin Antje Bärtschi werden «Massnahmen auf der Einnahmen- wie auch auf der Leistungsseite» geprüft. Im seco sei man aber der Meinung, dass «die Höhe der Arbeitslosenentschädigung nicht verändert werden sollte».

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