«der arbeitsmarkt» 10/2005

Im Osten viel Neues für beruflich Erfahrene

Beschäftigungsprogramme in Mittel- und Osteuropa gewinnen an Bedeutung. Sie bieten im gelernten Beruf neue Herausforderungen und öffnen den Blick für neue Berufsfelder.

Die Öffnung der osteuropäischen Märkte stellt für die Schweizer Wirtschaft ein Wachstumspotenzial dar, beträgt der Anteil der Schweizer Exporte in die acht neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa an den Gesamtexporten doch nur 2,9 Prozent (Stand 2004). Dieser Auffassung ist auch der auf Osteuropa spezialisierte Unternehmensberater Michael Derrer. Er ist zugleich Leiter des Programms zur vorübergehenden Beschäftigung in Mittel- und Osteuropa «PraxisTransfert» an der Universität Freiburg. «Für Schweizer Firmen
besteht ein Exportpotenzial im Bereich von Qualitätsprodukten in der Konsum- und in der Investitionsgüterindustrie», argumentiert Derrer. Für Arbeitgeber in der Exportindustrie werden daher Kenntnisse der osteuropäischen Geschäftskultur und Sprachen in Zukunft sehr interessant sein. «Wenn man die osteuropakundigen Arbeitskräfte nicht auf dem hiesigen Arbeitsmarkt rekrutieren kann, wird man sie auf anderen Märkten suchen», prognostiziert Derrer. Für Teilnehmende an einem Programm zur vorübergehenden Beschäftigung in Mittel- und Osteuropa ergeben sich somit wertvolle Chancen.

Anpassungsfähigkeit und Sozialkompetenz

Teilnehmende können sich auch weitere Fähigkeiten aneignen. «Um im schwierigen, aber auch dynamischen Arbeitsumfeld Mittel- und Osteuropas erfolgreich zu sein, ist ein hohes Mass an Durchsetzungsvermögen, Anpassungsfähigkeit und Sozialkompetenz notwendig», beteuert Derrer. In der Schweiz gibt es bereits eine gute Vernetzung innerhalb der Privatwirtschaft. Die institutionellen Rahmenbedingungen bieten Strukturen und ermöglichen Abläufe, die in Osteuropa erst im Aufbau sind. «Die Kehrseite der Medaille ist eine gewisse Bequemlichkeit, die sich in der Schweiz breit gemacht hat. In den Ländern Mittel- und Osteuropas hingegen muss man die Dinge selbst in die Hand nehmen, sonst kommen sie kaum zu Stande», fügt der Mittelosteuropa-Experte hinzu.
«PraxisTransfert»-Teilnehmende müssen sich vor Ort durchschlagen können und stellen dabei ihre sozialen und kommunikativen Kompetenzen unter Beweis. «Diese Fähigkeiten und die proaktive Einstellung kommen ihnen danach auch in der Schweiz zugute», schlussfolgert Derrer.

Bunte Kinderzeichnungen statt abgenutzte Bilder

Diese Ansicht teilt Georg J. Dobrovolny, Ökonom und Sozialwissenschaftler an der Uni St.Gallen. Der Direktor des Programms zur vorübergehenden Beschäftigung «Forum Ost-West» lancierte als Erster ein interkulturelles Beschäftigungsprogramm in Osteuropa. Dobrovolny erinnert sich gut daran, wie nach der Wende im Osten die ersten Schweizer Fachkräfte nach Osteuropa reisten. Eine effiziente und langfristige Zusammenarbeit scheiterte allerdings an kulturellen Missverständnissen und an den zu kurzen Arbeitsaufenthalten der Experten. Im Jahre 1993/94 erfolgte der grosse Einbruch auf dem Schwei-zer Arbeitsmarkt und hinterliess sichtbare Spuren. «Die Konjunkturflaute der Neunzigerjahre setzte qualifizierte Fachkräfte frei, deren Kompetenzen in den osteuropäischen Transformationsländern begehrter denn je waren», erklärt Dobrovolny den Grundgedanken seines Pilotprojektes. Unter dem Motto «Pionier sein statt stempeln» stellte er ein Pro-gramm auf die Beine, das aus der Not eine Tugend machte. 1994 wurde es in Zusammenarbeit mit dem Biga und der Stadt Bern ins Leben gerufen. Es ermöglichte qualifizierten Fachleuten eine vorübergehende Beschäftigung in Mittel- und Osteuropa.
Ruth Bornhäuser zählte zu den 15 ausgewählten Teilnehmenden, die im Rahmen des Pilotprojektes  nach Tschechien reisten. Als erfahrene Krankenschwester konnte sie ihre fachspezifischen Kenntnisse gezielt dort
einsetzen, wo sie gerade gebraucht wurden. Doch nicht nur ihr Fachwissen war gefragt. Sie erzählt, wie sie im Krankenhaus von Jesenik in Nordmähren neuen Schwung in die lieblos und rudimentär ausgestatteten Räumlichkeiten brachte. «Ich tauschte zu-nächst die abgenutzten Bilder gegen bunte Kinderzeichnungen aus und setzte mich für die Einrichtung eines Zeitungskiosks für die Patienten ein», erinnert sie sich mit Stolz. Der Wissenstransfer erfolgte aber nicht einseitig. Der Aufenthalt in Osteuropa ermöglichte ihr nicht nur, die Rolle einer Expertin, sondern auch einer Vermittlerin zwischen Ost und West einzunehmen. Die aktive Rolle einer Brückenbauerin blieb nicht folgenlos. Aufgrund ihrer sprachlichen und interkulturellen Kompetenz eröffnete sich der ausgebildeten Krankenschwester in der Schweiz ein neues Tätigkeitsfeld. Seit 1995 arbeitet sie als sachverständige Mitarbeiterin beim «Forum Ost-West» und möchte ihren Stage-Aufenthalt in Osteuropa nicht missen.
Auch Heinz Bertschi betrachtet seine Einsätze in Estland und Russland als persönliche Bereicherung. «Der Aufenthalt im Osten bot mir viele Möglichkeiten, die ich mir vorher nie hätte vorstellen können», erzählt der gelernte Metallbauzeichner. 1999 reiste er nach Estland, um dort für die Handelskammer Schweiz-Baltikum zu arbeiten. Durch Zufall machte er die Bekanntschaft eines Journalisten, der ihn zur Mitarbeit als Journalist und Fotograf bei der grössten deutsch-baltischen Internetzeitung animierte. In St.Petersburg schliesslich hatte er die Chance, für eine Firma mit Schweizer Wurzeln als Computerfachmann zu arbeiten. Wie Ruth Bornhäuser nahm auch Heinz Bertschi die Rolle eines Brückenbauers an, indem er vor Ort mit russischen Mitarbei-tenden Verbesserungsvorschläge zur Optimierung der Arbeitsprozesse ausarbeitete. Nach seiner Rückkehr aus Osteuropa fand er wieder eine Anstellung in seinem gelernten Beruf. Doch die Kontakte zu seinen ehemaligen Arbeitgebern und Freunden im Osten blieben bestehen. Bertschi widmet noch heute 20 Prozent seines Arbeitspensums der deutsch-baltischen Internetzeitung. Seine professionellen Kenntnisse der Fotografie, die er sich ebenfalls in Estland angeeignet hatte, kann er als Fotograf im Schweizer Militär und beim «Forum Ost-West» einsetzen. «Geschichte geht schnell vergessen», meint Bertschi und verweist auf die geschichtliche und kulturelle Vielfalt des Baltikums. Doch Bertschi will nicht vergessen, weder seine eigene Geschichte noch die des Baltikums. Bei schweizerisch-baltischen Staatsbesuchen gehört er stets zu den geladenen Gästen und nimmt auch ausserhalb der Landesgrenzen an Konferenzen zum Thema Baltikum teil.
Das Beschäftigungsprogramm des «Forums Ost-West» läuft seit 1996 unter dem Namen «Stage OST» und steht Stellensuchenden aller Berufsgruppen offen, sofern sie über Bezugstage von mindestens sechs Monaten verfügen. Während der Einsatz in Mittel- und Osteuropa für berufserfahrene oder ältere Fachkräfte eine Herausforderung mit neuen Berufsperspektiven bietet, können Fachleute ohne Berufserfahrung wie Hochschulabsolventen eine für sie notwendige Referenz einholen. Für Letztere besteht die Möglichkeit, an einem Gymnasium in Prag Deutsch zu unterrichten, an einer Hochschule in Georgien ethnologische Untersuchungen durchzuführen oder für eine Stiftung in Kroatien, Bosnien, Serbien oder Mazedonien politische oder wirtschaftliche Berichte zu verfassen. Für berufserfahrene Fachleute bietet sich die Möglichkeit, für
die Regierung in der Ukraine eine Beraterfunktion einzunehmen, für eine Baufirma in Tschechien tätig zu sein oder als Konditor in Lettland zu arbeiten. Die Liste liesse sich beliebig weiterführen. Auf jeden Fall könne für jeden Beruf ein sinnvolles Tätigkeitsfeld gefunden werden, solange eine gemeinsame Zielfindung vereinbart wird, bekräftigt Dobrovolny.

Besserwisser und Dozenten sind verpönt

Die Integration der Fachleute in den Schweizer Arbeitsmarkt hat Priorität und wird entsprechend vorangetrieben. Das «Forum Ost-West» hält aus diesem Grund in seinem Büro in Bern nicht nur ein Dossier der Teilnehmer bereit, das jederzeit an potenzielle Arbeitgebende in der Schweiz verschickt werden kann; die Organisation bietet auch zahlreiche Kontakte und Informationsquellen, die für Absolventen des Programms von Nutzen sein können. Der einzige Nachteil dieser Prioritätensetzung bestehe darin, dass einige wichtige Engagements und interessante Projekte abrupt abgebrochen werden müssten, wie Dobrovolny beteuert.  
Die Teilnehmer können unter 22 Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas auswählen, darunter auch einige GUS-Staaten. Die beliebtesten Destinationen sind aber St.Petersburg, Budapest, Moskau, Sofia, Bukarest,
Belgrad, Kiew und neuerdings auch Zagreb und Sarajevo. Länder des ehemaligen Jugoslawiens und des Kaukasus werden vor allem von Fachleuten als Option ins Auge gefasst, die bereits einen Bezug zu diesen Regionen haben. Letztlich ist aber nicht das Land, sondern eine gezielte Vorbereitung für die Lerneffekte ausschlaggebend. «Uns ist wichtig, die Fachleute auf ihre Aufgabe optimal vorzubereiten und ihnen die diversen Einsatzmöglichkeiten aufzuzeigen», betont Dobrovolny. Den Teilnehmenden wird ein fünftägiger Kurs angeboten, in dem sie auf den Einsatz vorbereitet werden. Vor Ort haben die Stagiaires dann die Möglichkeit, sich weiterzubilden und Kurse in der entsprechenden Landessprache zu belegen. «Die Schweizer Fachleute kommen gut an, falls sie nicht als Besserwisser oder potenzielle Dozenten im Gastland auftreten, sondern im Kontext der dortigen Situation und Gegebenheiten argumentieren und nach Lösungen suchen», sagt der Initiant des Programms. Er fügt hinzu, dass es für die Teilnehmenden von Vorteil sein kann, die osteuropäischen Partner für Ideen einzuspannen und für neue Projekte zu motivieren. Genau diese Fähigkeiten können sie als kompetitive Vorteile auf dem heimischen Arbeitsmarkt nutzen.

Doppelt vorteilhafte Ausgangsposition

Aus diesen Kontakten können langfristige Geschäftsbeziehungen entstehen, die sich für die Absolventen des Programms auszahlen. Die Zürcher Handelskammer bietet Fachleuten mit entsprechenden Kompeten-zen eine Plattform, wo sie ihre neu erworbenen Kenntnisse in Mittel- und Osteuropa als Dienstleistungen anpreisen können. «Eine langfristige Form der Zusammenarbeit wäre wünschenswert, wird in der Praxis aber noch viel zu wenig genutzt», kritisiert Dobrovolny. Die Fusion von fachlichen, sozialen und interkulturellen Kompetenzen lässt auf dem Schweizer Arbeitsmarkt somit einigen Handlungsspielraum offen. Von den rund 50 Prozent, die während oder kurz nach dem Stage wieder eine Anstellung finden, sind nur sehr wenige in einer Firma mit direktem Bezug zu Mittel- und Osteuropa tätig.
«Bereits heute werden im Banken- und Versicherungswesen Arbeitskräfte rekrutiert, die Fachwissen sowie Know-how über die Länder Mittel- und Osteuropas mitbringen müssen», bestätigt Dobrovolny. Die Tendenz sei steigend. Dobrovolny und «PraxisTransfert»-Leiter Michael Derrer sind sich einig, dass die sozialen und interkulturellen Kompetenzen in vielen anderen Branchen – auch in solchen mit keinem direkten Bezug zu Mittel- und Osteuropa – gefragt sind. Erwähnenswert sind NGOs, internationale Konzerne und einzelne Bundesstellen wie das Bundesamt für Polizei. Diese verlangen von ihren Angestellten explizit Auslanderfahrung. Einen weiteren Vorteil einer Beschäftigung im Rahmen eines interkulturellen Programmes im Ausland sieht Dobrovolny auch darin, dass sich freigestellte Fachleute in ihrem angestammten Beruf betätigen können – was bei inländischen Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung nicht immer garantiert werden kann. Durch einen Einsatz im erlernten Beruf bleiben die Teilnehmenden somit weiterhin wettbewerbsfähig. Sowohl Georg J. Dobrovolny wie auch Michael Derrer betonen, dass die in Mittel- und Osteuropa tätigen Fachleute Eigenschaften wie Flexibilität und Mobilität durch ihren Einsatz regelrecht demonstrieren. Dobrovolny: «Es ist wie im Fussball. Man steht im Blickpunkt, sobald man auf dem Platz spielt, nicht wenn man auf der Ersatzbank sitzt.»
Die Teilnahme an einem interkulturellen Beschäftigungsprogramm bietet Stagiaires somit in doppelter Hinsicht eine vorteilhafte Ausgangsposition, um auf dem Schweizer Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen. Zu guter Letzt ist die Horizonterweiterung, die sich aus einem längeren Arbeitsaufenthalt im Ausland ergibt, nicht zu unterschätzen. Sie sprengt nicht nur den Rahmen festgefahrener Arbeitsprofile, sondern lässt Fachleute auch zu neuen Ufern aufbrechen.

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