«der arbeitsmarkt» 12/2014TEXT: paola pittonFOTO: Simone Gloor
Wiedereinsteigerinnen

«Ich staunte, wie viel ich noch wusste»

Nach 25 Jahren Pause wagt eine Pflegefachfrau den Wiedereinstieg. Am Anfang steht ein auf sie zugeschnittener Kurs. Danach kann sie zwischen zwei Stellenangeboten auswählen.

«Gut, hattest du zwei Punktionsnadeln dabei. Denk beim nächsten Mal daran, ein Abfallsäckli für das gebrauchte Material mitzunehmen.» Pflegefachfrau Georgette Mollet bespricht mit einer Lernenden die Venenpunktion, die diese bei einer Patientin durchgeführt hat. Die praktische Prüfung gehört für die angehende Fachfrau Gesundheit (FaGe) im dritten Lehrjahr zu ihrem Kompetenznachweis. Ihre Ausbildnerin, Georgette Mollet, wird sie dafür benoten. Zugewandt und routiniert wirkt die 54-Jährige im Stationsbüro des Berner «ElfenauParks». Hier leben Betagte in ihren eigenen Wohnungen und erhalten Pflege bis zu ihrem Tod. Georgette Mollet arbeitet seit zwei Jahren wieder auf ihrem Beruf. Nach einer Pause von einem Vierteljahrhundert.

Ausgangspunkt für den beruflichen Weg zurück war für die diplomierte Pflegefachfrau ein Kurs: der «Wiedereinstieg in die Pflege». Zwei Drittel der Kursteilnehmerinnen – nur vereinzelt stossen Männer dazu – seien seit 10, 20 oder mehr Jahren nicht mehr im Beruf tätig, sagt Susanne Kast. Sie leitet die Weiterbildung bei der Berner Sektion des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). Die typische Wiedereinsteigerin ist zwischen 40 und 50 Jahre alt und hat den belastenden Beruf zugunsten von Familie und Kindern oder einer anderen Arbeit aufgegeben.

«Vielfach engagierte sie sich stattdessen in der Gemeinde oder der Schulpflege, initiierte einen Mittagstisch oder arbeitete in der Firma des Ehemanns.» Diese Kompetenzen aus der Freiwilligen- und der Familienarbeit sowie aus anderen Berufserfahrungen zu bündeln und für die Stellensuche im Pflegebereich zu nutzen, lernen die Teilnehmerinnen im fünftägigen Grundkurs. Hier erhalten sie Tipps für ihre Bewerbungsschreiben. Sie erfahren, was sich im Gesundheitswesen medizinisch-pflegerisch und gesetzlich verändert hat. Und dass die Pflegeplanung elektronisch dokumentiert und erfasst wird. Danach vertiefen sich die angehenden Wiedereinsteigerinnen bei fachlichen Weiterbildungen in einzelne Pflegebereiche.

Ausgebuchte Kurse

«Wichtig war der Austausch mit Frauen in der gleichen Situation», erinnert sich Georgette Mollet. «Ich fühlte mich bestärkt.» Seit einigen Jahren seien die Wiedereinsteigerinnen selbstbewusster, fällt Susanne Kast auf. «‹Kann ich das überhaupt?›, hören wir nur noch selten.» Denn sie sind gefragt. Der Mangel im Gesundheitsbereich, insbesondere an diplomierten Pflegefachpersonen, ist seit Jahren ein Thema. «Die Kursnachfrage steigt. Auch Arbeitgeber interessieren sich vermehrt dafür.»

Seit den 1990er-Jahren bietet der SBK Bern Wiedereinstiegskurse an, seit einiger Zeit führt er jährlich mehrere durch, 2014 waren über 50 Teilnehmerinnen an drei Kursen. Sie sind ausgebucht. Denn die Schweiz bildet nicht nur zu wenig Pflegefachpersonen aus. Diese bleiben durchschnittlich nur 10 bis 15 statt der möglichen 40 Jahre im Beruf.

Eine im September lancierte nationale Umfrage will den Ursachen nachgehen. Die Ergebnisse der Studie, an der Forscher der Genfer Hochschule für Gesundheit sowie der Universitäten Basel und Lausanne teilnehmen, sollen nächsten September vorliegen. Könnte die durchschnittliche Verweildauer im Beruf um nur ein Jahr verlängert werden, fehlten fünf bis zehn Prozent weniger Nachwuchs, schreibt der SBK 2011 in einem Positionspapier. Doch um das erreichen, müssten sich die Arbeitsbedingungen ändern: der Beruf etwa besser mit der Familie vereinbar sein und die Lohnentwicklung attraktiver, moniert der Verband.

Bis zum Burn-out

Wer im Beruf bleibt, riskiert auszubrennen. Denn Pflegefachpersonen kennzeichnet eine intrinsische Motivation, sprich: Sie engagieren sich stark für ihre Patienten, fühlen sich für die ihnen Anvertrauten überaus verantwortlich, wie Studien zeigen. Georgette Mollet ist 22 Jahre jung und hochmotiviert, als sie frisch diplomiert in der Chirurgieabteilung eines grossen Spitals anfängt. Als sie sechs Jahre später die Notbremse zieht, ist sie am Ende.

«Damals nannte man es noch nicht so, aber ich hatte wohl ein Burn-out.» Die unregelmässigen Arbeitszeiten, die Nachtschichten, die Wochenenddienste sind das Problem. Doch das will sie lange nicht wahrhaben, weil ihr die Arbeit gefällt. Sie engagiert sich in der hektischen Akutabteilung, steigt schnell zur Stationsschwester auf. «Ich übernahm eine Leitungsfunktion – die Ausbildung dazu begann ich ein Jahr später.» Georgette Mollet holt tief Luft. Nach einer Fehlmedikation, die zum Glück folgenlos bleibt, macht sie einen Schnitt.

Von ihrem Beruf will sie nichts mehr wissen. Das RAV ermöglicht ihr einen Buchhaltungskurs. Die 28-Jährige wechselt in die Administration einer studentischen Vereinigung. Nach der Geburt ihrer Zwillinge kündigt sie und engagiert sich stattdessen im Quartierzentrum, in der Schulkommission. Später nimmt sie eine Stelle bei einer Stiftung im Bildungsbereich an, denkt über eine Weiterbildung nach. Und nimmt 2006 einen ersten Anlauf zurück in den angestammten Beruf.

«Hier hatte ich doch eine Ausbildung auszuweisen, von der ich nach wie vor überzeugt war, sie sei das Richtige für mich.» Sie kontaktiert berufstätige ehemalige Kolleginnen, um herauszufinden, «was mein Diplom noch wert ist». Die Pflegefachfrau sucht wieder eine Anstellung im Akutbereich. Die Spitäler wollen sie aber nur zu mindestens 80 Prozent anstellen. Das schreckt sie ab. «Ich wusste, dass ich Zeit und die Unterstützung des Arbeitgebers brauche für den Wiedereinstieg.»

Spitäler buhlen um Absolventinnen

Georgette Mollet bleibt bei der Stiftung. Doch der Gedanke an ihren gelernten Beruf lässt sie nicht los. «Ich wollte es wissen: Bin ich noch in der Lage, ihn auszuüben?» Vor drei Jahren besucht sie den Wiedereinstiegskurs beim SBK Bern. Er ist für sie kostenlos. Der Kanton Bern bezahlt Grundkurs und elf Weiterbildungstage. Am ersten Kurstag präsentieren sich potenzielle Arbeitgeber den Wiedereinsteigerinnen: Ausser der Spitex buhlen Psychiatrie sowie öffentliche und private Institutionen für Langzeitpflege um die Absolventinnen. Bei der Langzeitpflege werden besonders viele Tertiärausgebildete gesucht.

Hier und nicht länger im Akutbereich will nun auch Georgette Mollet Fuss fassen. «Langzeitpflege heisst, sich mit Demenz, mit dem Tod auseinanderzusetzen und damit umgehen zu können. Dazu fühlte ich mich als reife Person bereit.» Ihr gefällt die Vorstellung, Verantwortung zu übernehmen – anders als in der dynamischen Chirurgieabteilung, «wo ich ständig einen Arzt zur Seite hatte, der entschied». Obwohl sie ihre Suche auf die Stadt Bern einschränkt und Teilzeit arbeiten will, kann die Pflegefachfrau gleich zwischen zwei Stellenangeboten wählen. «Ich wusste, was ich kann. Und ich signalisierte, dass ich bereit war, mich weiterzubilden.»

Der Wiedereinstiegskurs war nicht nur für sie nachhaltig. In den letzten vier Jahren sind 70 Prozent ihrer Teilnehmerinnen wieder in die Pflege eingestiegen, hat die Berner Sektion des SBK Buch geführt. Die knapp 20 Prozent, die einen anderen Beruf ausüben, sind mehrheitlich in der Gesundheitsbranche geblieben und arbeiten etwa in einer Arztpraxis.

Im Medikamenten-Dschungel

Nach ihrem ersten Arbeitstag im ElfenauPark sei sie k. o. gewesen und euphorisiert, erinnert sich Georgette Mollet. «Ich kann mehr, als ich dachte», lautete ihr Fazit. Sie weiss auch mehr als erwartet. «Ich las Übertrittsprotokolle und verstand alles.» Vieles ist neu, etwa die Medikamente und die unzähligen Generika – «ein Dschungel». Doch sind auch Hilfsmittel dazugekommen, die sie begeistern. «Jetzt kann ich auf einer App in meinem Smartphone alles zu einer Arznei nachschlagen. Ich kann mich laufend informieren.»

Zwei vom ElfenauPark finanzierte Weiterbildungskurse hat sie seit dem Stellenantritt vor zweieinhalb Jahren besucht, ein dritter ist geplant. Die grosszügige Unterstützung ist im Interesse des Arbeitgebers. Er ist auf Mitarbeiterinnen mit einer höheren Ausbildung in der Pflege angewiesen. Kaum hatte Georgette Mollet ihre Probezeit bestanden, fragte sie die Institution denn auch an als Berufsbildnerin für die Lernenden, als Prüfungsexpertin für den FaGe-Berufsabschluss sowie für den internen Notfallpikettdienst.

«Wir würden den Wiedereinsteigerinnen gerne mehr Zeit geben, damit sie praktische Erfahrung sammeln können. Aber wir brauchen sie dringend in Zusatzfunktionen wie etwa als Berufsbildnerinnen», sagt Barbara Zuber. Die Pflegedienstleiterin ist Georgette Mollets Vorgesetzte und führte an ihrer früheren Stelle im Spital Solothurn zahlreiche Wiedereinsteigerinnen. Die Anforderungen für Wiedereinsteigerinnen in der Langzeitpflege wertet sie als ebenso hoch wie jene in einer Akutpflege.

«Stützlipflege»

Gewöhnungsbedürftig war für Georgette Mollet die Dokumentationspflicht. Jede Verrichtung, jeder Handgriff wird penibel festgehalten, die Leistung nach Zeitaufwand, Schwierigkeit und erforderlicher Infrastruktur abgerechnet. Minutengenau. «Stützlipflege» heisse sie unter den Pflegefachfrauen, «weil unsere Dienstleistung durchschnittlich 65 Franken die Stunde kostet, wir also einen Franken pro Minute abrechnen», sagt Georgette Mollet mit einem Schmunzeln.

Nicht verändert hätten sich über die Jahre der Mensch und seine Bedürfnisse. Darauf gelte es einzugehen; auch wenn in der Langzeitpflege niemand mehr gesund werde, könne man viel für die Lebensqualität der betagten Menschen tun. Das sei befriedigend. «Ich kann viel bewirken.» Sie führe hochphilosophische Gespräche mit den Menschen über das Leben, das Sterben. Sie lerne. «Wo sind meine Ängste? Meine Grenzen? Warum berührt mich etwas?»

Georgette Mollet erzählt von der älteren Dame, die sich darauf freut, dass sie ihr die Frisur schön macht. «Kleinigkeiten. Aber mein Tag ist voll davon.» Auch bei ihrem 60-Prozent-Pensum finde sich die Zeit. Etwa für Frau Stöckli. Das Gesicht der winzigen, überaus zierlichen Frau erhellt sich zum seligen Lächeln, als sie am Eingang des Alterswohnheims auf Georgette Mollet trifft. Ein intensiver Blick strahlt die Pflegefachfrau an. Diese hält auf einen kurzen Schwatz mit der 88-Jährigen an, bei dem sie sich nach deren Hüftschmerzen erkundigt wie nach dem Digitalradio, dem neuen, das nicht funktionieren will.

«Ohne den Kurs hätte ich den Wiedereinstieg nicht geschafft», resümiert Georgette Mollet. Damit sie in ihrem Beruf bleiben kann, hat sie diesmal vorgesorgt. «Ich könnte Vollzeit arbeiten. Ich habe abgelehnt. Das ist mein Schutz.»

Wiedereinstiegskurse
Zurück in den PflegeberufGenaue Zahlen darüber, wer Kurse anbietet und welche Kantone die Kosten übernehmen, fehlen. Nachfolgend eine Auswahl:
Anbieter Viele Deutschschweizer Kantone führen an Spitälern Wiedereinstiegskurse unterschiedlicher Dauer und Inhalte durch. Neben Bern bietet die Sektion St. Gallen/Thurgau/Appenzell zusammen mit der Sektion Graubünden des SBK Kurse an. Daneben gibt es weitere Anbieter, etwa das Careum in Aarau.
Kosten und Voraussetzungen Ausser Bern übernehmen laut Gesundheitsdirektorenkonferenz (GBK) nur einige Kantone die Gebühren, unter anderen Zürich, Waadt und St. Gallen.Bern zahlt die Kosten von im Kanton wohnenden Pflegefachpersonen, die ohne Anstellung und seit mindestens drei Jahren nicht mehr in der Pflege tätig sind.
Quellen: Laufbahnberatung Gesundheitsberufe Kanton Zürich sowie Anfragen an GBK und SBK

 

 

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