«der arbeitsmarkt» 12/2005

«Ich bin von Geburt an Grenzgänger»

Der Schaffhauser FDP-Nationalrat Gerold Bührer über Knackpunkte im Verhältnis Schweiz – Deutschland, Einkaufstourismus, seinen ersten Coiffeur und typische Charakterzüge von Grenzbewohnern.

«der arbeitsmarkt»: Herr Bührer, wie viele Euro haben Sie in Ihrem Portemonnaie?
Gerold Bührer: In einem meiner zwei Portemonnaies habe ich immer mehrere hundert Euro für Geschäfts- und Privatreisen in den Euro-Raum.

Der Euro ist für Sie Alltag?
Im Geschäftsleben ja. Beim Einkauf aber selten. Zum einen erledigt das meistens meine Frau, zum anderen pflege ich meine Einkäufe in der Schweiz  zu tätigen.

Aber Sie fordern mehr Wettbewerb im Kampf gegen die Hochpreisinsel Schweiz.
Im Detailhandel haben wir tatsächlich grossen Handlungsbedarf. Durch den Einkaufstourismus fliesst viel Kaufkraft ab. Wir sollten weitere Handelshemmnisse abschaffen. Ich möchte das Cassis-de-Dijon-Prinzip vorantreiben (dabei würden viele EU-Produkte ohne erneute Prüfung in der Schweiz zugelassen, Anm. der Red.). Dadurch könnte zumindest ein Teil der Preisnachteile für die Konsumenten abgebaut werden. Kostentreibend wirken sich auch die überhöhten Auflagen bei Baubewilligungen aus.

Welche branchenspezifischen Unterschiede stellen Sie dies- und jenseits der Grenze in Schaffhausen fest?
Diese variieren je nach Sektor und können sich auch aufgrund der Konjunktur rasch verändern. Im Baunebengewerbe scheinen die Deutschen momentan im Vorteil zu sein. Natürlich auch, weil die Schweizer Bauwirtschaft – zum Glück – gegenwärtig gut ausgelastet ist. Die Lage auf dem Bau ist den konjunkturellen Schwankungen besonders stark unterworfen.

Das grenznahe Deutschland scheint stärker von der Grenzsituation zu profitieren.
Nein, das meinte ich nicht. Für Schaffhausen ist die Grenznähe per saldo ein Gewinn. Erstens haben wir in Süddeutschland ein Reservoir mit gut qualifizierten Arbeitskräften, die weder sprachliche noch kulturelle Hürden zu überspringen haben. Der Kanton Schaffhausen mit seinen rund 75000 Einwohnern zählt über 4000 Grenzgänger. Zweitens haben wir beidseits der Grenze leistungsfähige Klein- und Mittelunternehmen, die oft auch als Zulieferer für Grossbetriebe fungieren. Und drittens nimmt die Zahl der Deutschen, die aus steuerlichen oder anderen Gründen in der Schweiz Wohnsitz nehmen, seit Inkrafttreten der Bilateralen I stark zu.

Welche persönliche Beziehung haben Sie zur Grenze?
Ich bin in Hofen, 500 Meter von der Grenze entfernt, aufgewachsen und lebe seit über 30 Jahren in Thayngen, ebenfalls direkt an der Grenze. Ich bin sozusagen von Geburt an Grenzgänger. Mein erstes ökonomisches «Grenzerlebnis» hatte ich mit sechs oder sieben Jahren. In Hofen gab es keinen Coiffeur und so überquerten
wir am Samstagabend die Grenze, um zum Frisör zu gehen. Dieser war Fussballfan und hatte einen
Schwarzweissfernseher. So sah ich jeweils die Spiele der deutschen Fussballliga.

Sind Sie überhaupt noch ein richtiger Schweizer oder schon ein halber Deutscher?
Selbstverständlich bin ich ein echter Schweizer geblieben. Man sagt ja nicht von ungefähr, dass je näher an der Grenze, desto intensiver die patriotischen Gefühle sind.

Wie hat sich die Grenze seit Ihrer Jugend verändert?
Damals waren alle Grenzübergänge in der Regel bewacht. Heute muss man kaum je den Ausweis zeigen. Staus gibt es an den grossen Zollämtern leider trotzdem – der Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehr
hat sich vervielfacht. Vor allem hat sich jedoch die Geisteshaltung völlig verändert. Anfang der Fünfzigerjahre gab es eine kriegsbedingte Zurückhaltung.

Vorurteile gegenüber den Deutschen?
Früher ja, durchaus. Heute sind diese vor allem bei der jüngeren Generation verschwunden. Wir sind uns bewusst, wie ähnlich uns die Baden-Württemberger sind. Oft sagen uns die Deutschen: «Mit euch haben
wir weniger Probleme als mit Partnern aus anderen EU-Ländern.» Geschäftlich herrscht seit langem «business as usual». Der Industriekonzern Georg Fischer beschäftigt beispielsweise mehr Leute in Deutschland als in der Schweiz. Politisch ist es aber immer noch eine Grenze.

Was meinen Sie damit?
Der Wissensstand, was auf der anderen Seite geschieht, ist immer noch bescheiden. Beispielsweise lesen nur
wenige Deutsche die «Schaffhauser Nachrichten» und nur wenige Schaffhauser den «Südkurier». Intensiver Austausch und Besuche sollen die Wissenslücken aber weiter schliessen.

Deshalb die wiederkehrenden politischen Auseinandersetzungen?
Im kleinen Grenzverkehr, das heisst auf lokaler Ebene, besteht ein sehr gutes politisches Verhältnis. Oft scheitert es dann an den Bürokratien. Über die Regierung in Berlin beklagen sich, wenn es um die Regelung von Alltagsproblemen geht, auch unsere deutschen Nachbarn oft genug – egal, ob Rot oder Schwarz an der Macht ist.

Trotzdem gibt es lokale Probleme. Schweizer Bauern treiben in Südbaden die Landpreise in die Höhe …

Das Problem entstand de facto wegen einiger weniger, die aggressiv Land kauften. Die deutsche Regierung hat nun interveniert, wir haben Subventionen aus der EU und aus der Schweiz ausgeschlossen. Ich glaube,
dass sich die Lage entschärft hat – jedenfalls habe ich in jüngster Zeit keine hitzigen Debatten mehr gehört.

… Fluglärmstreit …
Dieses Thema ist mir sehr wichtig. Der in 35 Minuten erreichbare Flughafen Kloten ist ein enormer Standortvorteil für uns – ebenso für unsere deutschen Nachbarn. Das anerkennen sie im Übrigen selbst auch. Ich werde mich immer für einen in unseren Standortinteressen liegenden Flughafen Zürich einsetzen. Der Schlüssel zum Abbau des Konfliktstoffs liegt nicht in Berlin, sondern in Stuttgart.

… Strassen- und Bahnprojekte, für die Sie sich im Nationalrat stark gemacht haben.
In Deutschland ist die Strasse sehr gut ausgebaut. In fünf Viertelstunden bin ich im Grossraum Stuttgart. Aber am Zoll kommt es immer wieder zu Staus. Dies verursacht unnötige volkswirtschaftliche Kosten; es handelt sich aber um ein lösbares Problem. Auf Schweizer Seite muss nun ohne weiteren Zeitverlust die A4 Schaffhausen–Winterthur ausgebaut werden. Was die Schiene betrifft, haben wir dank Druck den Ausbau der Strecke Bülach–Schaffhausen auf Doppelspur durchgebracht. Einiges zu tun ist bei der Bahninfrastruktur hingegen auf deutscher Seite.

Die Schweizer Wirtschaftsentwicklung hängt stark von der Konjunktur in Deutschland ab. Was erwarten Sie von der Grossen Koalition in Berlin?
Aufgrund des starken öffentlichen Drucks wird sich die Koalition zwischen CDU/CSU und SPD auf einen minimalen gemeinsamen Nenner einigen. Eine eigentliche Wurzelbehandlung zugunsten eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums und eines deutlichen Abbaus der überbordenden Arbeitslosigkeit wird jedoch leider ausbleiben. Für Europa und die Schweiz sehe ich daher von Deutschland aus nur beschränkte Wachstumsimpulse.

Sie loben die Vorteile der grenzüberschreitenden Integration auf lokaler Ebene, fordern aber den Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs auf nationaler Ebene. Wie geht dies zusammen?
Ich beschäftige mich nun seit über 20 Jahren mit der Europafrage und bin überzeugt: Der Bilateralismus ist nach dem bedauerlichen Scheitern des EWR die ideale Strategie der Schweiz. Er erlaubt es, das wirtschaftliche Verhältnis zur EU zu optimieren, lässt aber auch die Türen offen für Freihandelsabkommen mit den stark wachsenden aussereuropäischen Volkswirtschaften und für die Pflege der besonderen Stärken unseres Landes. Ein EU-Beitritt ist weder mehrheitsfähig noch in unserem wirtschaftlichen und politischen Interesse, wenn ich an Neutralität, direkte Demokratie und Föderalismus denke. Es ist deshalb nutzlos, jetzt, wo keine neuen Fakten vorliegen, über EU-Beitrittsszenarien zu diskutieren. Wir sollten lieber die Bilateralen I und II umsetzen und unsere wirtschaftspolitischen Hausaufgaben machen.

Haben Menschen aus Grenzregionen eigentlich besondere Charakterzüge?
Ich glaube, der Grenzbewohner sieht klar, dass ein ökonomischer, politischer und kultureller Austausch sinnvoll und notwendig ist. Und gerade weil er die Andersartigkeit des Nachbarn kennt, werden ihm auch die positiven Eigenheiten der Schweiz stärker bewusst. Anders gesagt: Die kosmopolitische Geisteshaltung schliesst die Verwurzelung in der Heimat keineswegs aus – nicht zuletzt darum bin ich für den bilateralen Weg.

Gehen Sie manchmal an Ihre politischen Grenzen?
Ja, man muss gedanklich an die Grenzen gehen. Aber man muss auch die Grösse haben, dies rechtzeitig auf das Machbare zu reduzieren.

Und bei Ihren Hobbys?
Beim Sport kommt das vor. Etwa wenn ich mit einer Zeitlimite jogge. Im Normalfall dienen mir sportliche Aktivitäten, dazu zählen auch Bergwandern und Skifahren, aber als Abwechslung und Erholung in der von mir geschätzten Natur.

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