«der arbeitsmarkt» 10/2007

Humor im Haifischbecken

Norbert Thom, Direktor des Instituts für Organisation und Personal (IOP) der Universität Bern, wurde letzten Sommer 60. Im «arbeitsmarkt»-Interview spricht er über seine Tendenzen zum Workaholic, seine Work-Life-Balance, fragwürdige Spitzenlöhne, die Moden und Dauerthemen in der Managementlehre und darüber, wie leicht es ist, Managementgurus zu entlarven.

Eines Ihrer wichtigsten Themen ist Work-Life-Balance. Sie verfassen Publikationen, leiten das IOP der Uni Bern, sind in einer Unternehmensberatungsfirma zusammen mit Ihrem Sohn aktiv, haben zwei Verwaltungsratssitze und, und, und. Wie sieht es mit Ihrer Work-Life-Balance aus?
Norbert Thom: Ich habe sicherlich Tendenzen zum Workaholic. Meine Frau hat gesagt: «Bei deinem Pensum müsstest du schon mindestens zwei Herzinfarkte hinter dir haben.» Aber man darf nicht vergessen, dass ich vier Sabbaticals hatte. Auch wenn ich das von 1998 zugegebenermassen damit verbracht habe, Moderator der Berner Kantonsregierung bei der Sanierung des Haushaltes zu sein. Wir haben es geschafft, 150 Millionen Franken einzusparen.

Wie das?

Nun, es gibt jetzt im Kanton Bern zum Beispiel nur noch eine Landwirtschaftsschule statt sieben. Dafür müssen die Jungbauern nun ein wenig früher aufstehen. Aber das gehört bei ihrem Beruf ja eigentlich
sowieso dazu.

Nochmals: Bleibt Ihnen überhaupt noch Zeit fürs Privatleben?

Wissen Sie, eins spielt ins andere. Ich lese viel, aber das muss man in meinem Beruf sowieso. Neben Fachlichem interessiert mich vor allem Zeitgeschichte. Ich habe aber auch aus jungen Jahren zehn Ehrenurkunden im Vierkampf, habe meinen Sohn im Fussball trainiert und halte mich heute mit Gerätetraining fit. Joggen wie ein Junger kann man in meinem Alter nicht mehr, das hat mir meine Frau verboten. Zusammen mit ihr habe ich 50 Länder und alle Subkontinente bereist. Das war unser 40-Jahres-Plan, vor zwei Jahren haben wir ihn erfüllt.

Sie veröffentlichen sehr viel, haben 19 Bücher verfasst, hunderte Fachzeitschriftenartikel publiziert.
Darüber staune ich im Nachhinein selber. Aber man darf auch nicht vergessen,
ich hatte insgesamt 103 Co-Autoren. Auch früher schon, als das noch nicht üblich war.

Dabei haben Sie stets einen generalistischen Ansatz verfolgt. Wie verträgt sich das mit dem heutigen Spezialistentum?

Heute kann ich keinem jungen Wissenschaftler mehr raten, Bücher meiner Art zu verfassen. Das lohnt sich für die Karriere nicht mehr. Ich konnte damals noch grundlegende Werke schreiben, das stirbt leider aus. Heute gelten nur noch hochspezialisierte Aufsätze in internationalen Fachzeitschriften etwas. Das ist so ähnlich wie mit dem Facharzt in Allgemeinmedizin. Eines Tages werden einige Fachmann für den
linken Nasenflügel sein müssen.

Worauf sind Sie besonders stolz?

Sicher meine drei Ehrendoktorate innerhalb von 14 Monaten. Damit war ich seinerzeit Schweizer Meister. Mit der grössten Nachhaltigkeit freut mich, dass ich das IOP aufgebaut habe und im Jahre 2001 noch ein Kompetenzzentrum für Public Management mitgründete, heute eines der strategischen Profilierungsgebiete der Universität Bern. Liegt eigentlich nahe, dass man in der Bundeshauptstadt so etwas macht, hat zuvor aber keiner. Und dann bin ich stolz darauf, dass ich es geschafft habe, in Fribourg, wo ich meine erste Schweizer Professur hatte, auf Französisch Vorlesungen zu halten. Eine echte Disziplinleistung.

Gab es nicht auch manchmal Durststrecken?

Ja, sicher. Ich erhielt gleich für die Doktorarbeit einen Preis. Und dann viele Jahre nichts, obwohl ich sicher gleich gut gearbeitet habe. Und ab 2005 kam plötzlich der Durchbruch mit den Ehrendoktoraten.

Was ist Ihr Tipp nach dreissig Jahren in der Forschung – was braucht es zum Erfolg?

Gute Netzwerke. Ich habe an 50 Hochschulen Gastvorträge gehalten, viel veröffentlicht, den Bundesrat beraten. Zudem bin ich ein enormer Netzwerker. Aber das müssen Sie auch sein, sonst nimmt niemand wahr, was Sie tun. Wenn einen keiner kennt, bleibt die Anerkennung aus.

Das allein genügt doch sicher nicht.

Wissen Sie, das Wichtigste ist ein guter Humor. Ohne den schafft man das nicht. Denn die Wissenschaft ist ein Haifischbecken, jeder muss sich ständig profilieren, wenn er etwas erreichen will. Aber eigentlich geht es letztlich darum, einmal mehr aufzustehen, als niedergeworfen zu werden.

Sie sind in den Medien sehr präsent, schreiben nicht nur wissenschaftliche Publikationen, sondern auch Zeitungsartikel.

Das verdanke ich meinem Kölner Doktorvater. Der hat mir gesagt: «Thom, wenn Sie sich dafür nicht die Zeit nehmen, werden Sie sich wundern, wo eines Tages Ihre Fördergelder und Drittmittel bleiben.» Recht hatte er.

Stichwort Geld: Sie haben sich vor kurzem in der Lohndebatte zu Wort gemeldet. 21,5 Millionen Jahreslohn für Daniel Vasella als Novartis-Präsident halten auch Sie für zweifelhaft.

Vasella ist ein kompetenter, intelligenter Mann. Aber: Als ich studierte, gab es in Deutschland gerade zwei Firmen, in denen man eine Million D-Mark verdienen konnte. Das waren die Deutsche Bank und Daimler. Die Chefs dort machen heute keinen grösseren Job als damals, erhalten aber ein Vielfaches des Lohnes. So viel besser können die gar nicht geworden sein.

Was ist ein gerechter Lohn?

Ein Unternehmen kann immer nur ein Zusammenspiel von Kräften sein. Der oberste Chef ist extrem stark davon abhängig, dass ihn die Umgebenden fair informieren. Vasella hat bestimmt Dutzende hochintelligente Menschen um sich, die ihm zuarbeiten und wesentlich zum Erfolg beitragen. Ohne ein Zusammenspiel von Fach- und Führungskräften kann einer allein an der Spitze nicht funktionieren. Bei den Extremlöhnen stören mich die Relationen zu diesen wertvollen Zuarbeitern.

Welchen Lohn halten Sie bei einem Spitzenmanager wie Vasella für angemessen?

Um zu wissen, was ein angemessener Lohn ist, müsste man wissen, was er zum Aktienwert beigetragen hat, zur Erneuerung der Produktpipeline, wie hoch sein Vergütungspaket sein sollte, um international noch attraktiv zu sein. Wäre sein Gehalt zu gering, genösse er ja auch keinen Respekt in seinen Kreisen. Aber vielleicht braucht man Exponenten in unserem extrem republikanischen Umfeld. Da benötigt man Helden, Leute, die aus der Masse herausragen.

Dennoch: Was wäre ein angemessener Lohn?

Entscheidend ist die Relation zum gesamten Team der Geschäftsleitung. Wenn der Novartis-Personalchef nur ein Zwanzigstel von Vasella verdient, eine Zahl, die ja in den Medien gehandelt wurde, empfinde ich das als nicht angemessen.

Gern wird argumentiert, dass es für solche Positionen weltweit nur einen begrenzten Pool an möglichen Kandidaten gebe.

Das stimmt eben nicht. Der Markt ist keineswegs so offen, wie immer behauptet wird. Wenn man solch einen Posten ausschreiben würde und der beste Kandidat käme aus Hyderabad oder Singapur, so hätte der keine Chance. Davon abgesehen: Man könnte die ganze Neiddebatte beenden, wenn man das Lohnermittlungsverfahren transparent machen würde. Aber zurzeit erfüllt man gerade das gesetzliche Minimum.

Das Grundproblem ist ja, fähige Mitarbeitende zu bekommen und zu halten. Das geht wohl kaum mit gutem Gehalt allein.

Einen Fabrikarbeiter können Sie mit höherem Lohn sicher motivieren. Für High Potentials genügt das nicht. So einer leistet Ihnen nicht mehr, nur weil Sie sein Gehalt erhöhen. Er braucht fordernde Arbeits-
inhalte, Verantwortung, Kompetenzen. Er muss sich bei der Aufgabenerfüllung selbst organisieren dürfen, braucht anregende Kollegen und einen kooperativen Führungsstil seines Chefs. Der muss ihm Freiheit lassen und Leistungen auch anerkennen.

Das braucht eine entsprechend offene Organisation im Betrieb. Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist Organisationsgestaltung. Wie hat sich diese in den letzten dreissig Jahren verändert?

Das beginnt schon mit dem Berufsbild des Organisators. Organisatoren arbeiteten früher rein sachlogisch. Als ich studierte, waren sie primär Kästchenzeichner, die die Hackordnung im Betrieb dokumentierten. Später organisierten sie Prozesse, heute sind wir im Zeitalter des Change Managements. Firmen wie ABB oder Ascom hatten seit 1990 zehn oder mehr Reorganisationen.

Alles ist im Fluss, Lebensarbeitsstellen gibt es kaum noch…

Genau. Es herrscht permanenter Wandel. Organisatoren waren Pfleger eines geordneten Gartens. Heute heissen sie Change Manager und arbeiten auf zahlreichen Baustellen gleichzeitig. Sie brauchen sozialwissenschaftliches Wissen, eine Mediatorausbildung, müssen Verhandlungen führen und Koalitionen bilden. Sie arbeiten nicht mehr rein sachlogisch. Ohne sozialwissenschaftliches Wissen geht gar nichts.

Gibt es für Sie vorbildliche Organisationen?

Mein Chef in Köln sagte immer: «Ihr müsst lernen von Kirche, Militär und Staat, dann seht ihr, wie sich die alten Organisationen entwickelt haben, und könnt das intelligent weiterentwickeln.» Schauen Sie sich an, wie der alte Papst beerdigt wurde und der neue inthronisiert. Das ist symbolisches Management. Oder die Jesuiten, die sind seit Jahrhunderten eine internationale Organisation.

Personalmanagement und Organisationsgestaltung sind zwei Ihrer Kernthemen. Welche Themen haben Sie sonst in Ihrer Forscherlaufbahn begleitet?

Ich hatte das Glück, dass meine Themen nachhaltig waren. Es fing an mit dem Gebiet Innovationsmanagement in der Dissertation. Und noch heute halte ich Vorträge auf diesem Gebiet. Darüber habe ich 1980 ein Grundlagenwerk verfasst, damals eine kühne Tat. Später dann kam das betriebliche Vorschlagswesen dazu, das heisst heute Ideenmanagement; mein Buch dazu erscheint in der 7. Auflage. Mein Ordinarius hat damals gesagt: «Da hat noch kein Professor etwas Grundlegendes geschrieben, das wäre was für Sie.» Und prompt habe ich später den Ideenoscar und den Denkerpreis auf diesem Gebiet gewonnen. Das ist ein unerschöpfliches Thema, heute gibt es Lehrstühle dafür.

Was braucht es zum Innovationsmanagement?

Dafür braucht es die entsprechende Führungskultur. Sie müssen innovative Leistungen anerkennen und feiern. Man braucht geeignete Teamstrukturen und muss Promotoren zusammenbringen. Als Vorgesetzter muss ich die entsprechende Arbeitsumgebung schaffen und die Aufgaben so spannend gestalten, dass ich den Innovationsprozess immer am Kochen halte. Wenn Sie einen Buchhalter an der Spitze haben, erhalten Sie nur ein Administrationssystem.

Was fasziniert Sie über Jahrzehnte an diesem Thema?

Beim Innovationsmanagement kommt man irgendwann auf alle Management-
themen: Das Ganze ist zu planen, zu organisieren, zu controllen. Sie brauchen Kennzahlen, damit Sie sehen, ob sich das lohnt. Sie müssen Menschen motivieren.

Regelmässig treten neue Management-gurus mit angeblich revolutionären Ideen ins Rampenlicht und verschwinden wieder.

Ich bin gururesistent. Das hat mir schon als junger Assistent mein Chef mit auf den Weg gegeben: «Thom, Sie müssen 30 Moden überleben, bevor Sie in Pension gehen. Halten Sie Linie.» Vorträge von solchen Gurus sind unglaubliche Shows. In den USA nehmen sie extra Schauspielunterricht dafür. Ich sage dann meinen Studierenden: «Der kriegt 60000 Dollar für seinen Vortrag, ich fasse euch das in fünf Minuten zusammen. Gratis.»

Wie entlarvt man solche Moden?

Die beleuchten immer nur einen einzigen Aspekt, sind nichts als ein greller Scheinwerfer. Richten Sie den etwas weiter nach rechts oder links, sehen Sie ganz etwas anderes. Ein Unternehmen ist ein Zusammenspiel von Produktionsfaktoren. Man darf nie die Zusammenhänge aus den Augen verlieren.

Geben Sie mir ein Beispiel.

Zum Beispiel der Shareholder Value als das Ziel schlechthin. Kann doch gar nicht sein, dass der Faktor Kapital allein der ausschlaggebende ist. Ohne Menschen geht gar nichts. Also: Linie halten, Moden und
Mythen entlarven.

Haben Sie derzeit ein Lieblingsthema?
Ja. Mein Altersthema ist naheliegenderweise «Ältere Arbeitnehmende». Da erarbeiten wir gerade einen Bericht für das Departement von Frau Bundesrätin Leuthard. Betrifft mich ja auch selber, ich komme ja mit 65 unter die Berner Guillotine. Ich glaube aber, dass man die Fähigkeiten älterer Mitarbeitender besser nutzen sollte: Schlichtungs- und Fusionsverhandlungen, das können Ältere besser als Junge. Die Jungen lernen schneller Neues, dafür haben wir Älteren die grössere Erfahrung und Gelassenheit.

Was haben die Alten zu bieten?

Die Jüngeren haben einen viel ungesünderen Lebensstil, schon wegen der vielen Überstunden, die sie leisten, um Karriere zu machen. Die Älteren fluktuieren kaum noch. Die Jüngeren denken doch ständig an den nächsten Karriereschritt. Das Problem ist weniger, dass die Älteren die Stelle wechseln, als dass sie die Frühpensionierung wählen. Einerseits kommt irgendwann das Pensionsalter 67, andererseits erleben wir beim Bund wohl bald eine Frühpensionierungswelle, weil es sich für viele wegen der Pensionskassengelder nicht lohnt, jenseits von 62 weiterzuarbeiten. Das passt nicht zusammen.

Die Demographiekurve zeigt, dass die Schweiz bald zu wenig Arbeitskräfte hat.
Wir haben jetzt schon eine der höchsten Ausländerquoten zusammen mit Liechtenstein und Luxemburg. Da ist nicht mehr viel Steigerungspotenzial. Wenn man nun die Alten aufs Abstellgleis schiebt, wird es bald schwierig.

Ist den Unternehmen die Problematik noch nicht klar?

In den KMU ist das Bewusstsein noch nicht vorhanden. In einigen Grossfirmen fängt das Umdenken langsam an. In Musik, Kunst oder Unternehmertum käme man nie auf die Idee, jemand wegen seines Alters aufs Abstellgleis zu schieben. Im Moment liegt das durchschnittliche Pensionsalter je nach Branche zwischen 60 und 62. Klar kann ein Mineur im Lötschberg kaum über 60 hinaus arbeiten. Aber schon jetzt zeigen unsere Umfragen, dass schon heute acht Prozent gerne über das Pensionsalter 65 hinaus Teilzeit arbeiten möchten.

Damit, die Alten zu halten, kann es nicht getan sein. Die Jugendarbeitslosigkeit ist zurzeit noch erschreckend hoch.

Man wird den Nachwuchskräften noch mit dem Lasso hinterherlaufen. Der kantonale Präsident der Berner Metzgermeister hat mir erzählt, sie hätten 70 Lehrstellen nicht besetzen können. Das ist erst der Anfang einer Entwicklung; die wird in den nächsten Jahren alle Branchen treffen. Nebenbei: Die Metzger müssten vielleicht auch den Beruf umbenennen, in Fleischtechnologe oder so ähnlich.

In vier Jahren dürften Sie sich selbst zur Ruhe etzen. Machen Sie schon Pläne?

Veröffentlichen und Gastvorträge halten werde ich sicher weiterhin. Meine Frau hat mir prophezeit, die grössten Entzugserscheinungen werde ich bekommen, wenn ich meine Auftritte im Hörsaal nicht mehr habe. Ein Teilpensum könnte ich mir danach durchaus vorstellen. Aber keinesfalls mehr die volle Bürde mit endlosen Sitzungen und Verwaltungsaufgaben. Zudem kann ich von meinen Doktoranden kaum verlangen, dass sie exakt zu meinem 65. Geburtstag fertig werden. Und ich freue mich darauf, dass ich keinem mehr nachzulaufen brauche, von dem ich Drittmittel erbitten muss.

Und ausserhalb der Arbeit?

Sicher wird mein Rotary-Club wichtig sein, Reisen, vor allem wohl Städtereisen. Lesen, ja, das ist ein Problem. Ich habe privat 5000 Bücher, was mache ich dann damit? Ich habe ja schon als Schüler gesammelt. Ich muss mich systematisch von einigen Dingen trennen. Das fiel mir noch nie leicht. Ich habe sogar schon mal eine Mitarbeiterin zu einem Kurs geschickt: «Wie rette ich meinen Chef vor dem Ertrinken?».

Hat es genützt?

Und ob. Wir haben danach 57 Zentner Papier entsorgt. Es waren schöne Dinge zu prüfen, wie meine erste Vorlesung auf Französisch oder meine erste Vorlesung in Köln. Die kommen erst mal in die Nostalgieecke, die hebe ich noch auf. Ich brauche ein Ritual des Trennens mit einem Zwischenlager. Ich glaube, ich muss mindestens das erste halbe Jahr nach meiner Emeritierung damit verbringen, entschlackte Ordnung zu schaffen. Denn ich habe einen riesigen Hamsterkomplex.

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