«der arbeitsmarkt» 11/2004

Helden der vernebelten Realitätswahrnehmung

Die Popstars der New Economy sind out, die neuen Führungskräfte üben sich in Demut und geloben Glaubwürdigkeit. Doch haben sie damit auch Erfolg?
«Integre Manager», sagt der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann, «schaffen es selten bis ganz nach oben.»

Frisierte Bilanzen, wie sie Parmalat-Gründer Calisto Tanzi der Öffentlichkeit präsentierte, Schmiergeldzahlungen, wie sie dem Ex-Vorstandschef von ABB Deutschland, Michael Pohr, vorgeworfen werden, oder Abgangsentschädigungen in Millionenhöhe, wie sie Klaus Esser bei der Mannesmann-Übernahme durch Vodafone kassierte – Firmenpleiten und Managementskandale der letzten Jahre haben die Wirtschaft in ihren Grundfesten erschüttert.
«Integritätskrise des Managements» lautet Ulrich Thielemanns Befund. Der Lehrbeauftragte für Wirtschaftsethik an der Universität St.Gallen bringt den Unterschied zwischen einem integren Manager und
den selbst ernannten Helden des Aktienmarktes mit wenigen Worten auf den Punkt: «Gute Gründe statt Macht.» Ein integrer Manager muss sein Erfolgsstreben legitimieren, weil Erfolg nur ein Gesichtspunkt unter vielen ist, die sein Handeln bestimmen. Manager, die sich einzig dem Diktat der Gewinnmaximierung fügen, scheren sich dagegen nicht um gute Argumente. Der Erfolg selbst ist Legitimation genug.

Selbstkritik – ein Fremdwort in Chefetagen

Solche Führungskräfte sind der festen Überzeugung, dass «wer erfolgreich ist, eigentlich nichts falsch machen kann», fasst der Wirtschaftsethiker die Logik des Marktglaubens zusammen. Paradebeispiel: Joe Ackermann, der zu Beginn des Mannesmann-Prozesses empört ausrief: «Deutschland ist das einzige Land, wo diejenigen, die erfolgreich sind und Wert schaffen, deswegen vor Gericht stehen.» Derselben Logik folgen jene gescheiterten Manager, die mit ihren Rechtfertigungsversuchen – bar jeder Selbstkritik – den Buchmarkt überschwemmen, wie jüngst Ex-Swiss-Chef André Dosé oder auch Jean-Marie Messier, der ehemalige Boss bei
Vivendi.
Ein Grossteil der Manager lebe im Irrglauben, selbst Urheber der erwirtschafteten Milliarden zu sein, sagt Thielemann. Hinzu komme der Trugschluss, die Wertschöpfung des Unternehmens diene dem Wohl aller. Verständlich, will man dafür auch belohnt und auf den Schild gehoben werden. «Vernebelte Realitätswahrnehmung» nennt Thielemann das. Das Bedürfnis der Aktionäre, sich vor der Selbstüberschätzung und Euphorie der Topmanager zu schützen, ist gross. Der deutsche Finanzminister Hans Eichel hat deshalb kürzlich ein Gesetz als Entwurf verabschiedet, wonach ein Manager mit seinem eigenen Privatkonto haften soll, treibt er seine Firma wider besseres Wissen in den Ruin.

Leistungsfähigkeit auf Teufel komm raus

Firmenchefs und Personalberater transponieren die Missstände gerne in die Zeit der New Economy, als die Manager noch grössenwahnsinnige Popstars waren und gierig ihre Eigeninteressen verfolgten. Heute sind die meisten Manager «integer, glaubwürdig und besitzen ein hohes ethisches Bewusstsein», verteidigt Headhunter Bjørn Johansson seine Klientel. Schwarze Schafe gebe es natürlich immer, aber diese seien klar in der Minderzahl. Johansson ist überzeugt, dass heute nur noch die integren Führungskräfte nach vorne kommen, denn die Unternehmen haben gemerkt: «Integrität zahlt sich auf Dauer aus.» Integre Manager garantierten langfristigen Erfolg, deshalb seien sie gefragt. Der kurzfristige Fokus auf die Aktienkurve sei zwar noch nicht out, räumt Johansson ein. Die aktuellen Debatten über Ethik in der Wirtschaft zeigten jedoch, dass Integrität in den Chefetagen gross geschrieben werde.
Den Zwiespalt, in den integre Manager geraten können, nennt Johansson gleich selbst: «Ein Manager muss positive Ergebnisse liefern.» Er muss die Erwartungen von Verwaltungsrat, Eigentümer und Aktionären erfüllen. Und die sind vor allem am Wachstum interessiert. Hier Integrität, dort Erfolgszahlen – für den Wirtschaftsethiker Thielemann Pole eines gravierenden Spannungsverhältnisses. Ethik sei eben kein Erfolgsgarant. Die Vorstellung, Ethik zahle sich langfristig aus, «ist eine Illusion». Im Gegenteil: Laut Thielemann sind die integren Manager weniger erfolgreich, gerade weil sie die weniger harten Manager sind. Sie schmeissen nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit Mitarbeiter raus, sie nutzen nicht jede Outsourcingchance. Die reale Entwicklung sieht jedoch so aus, dass die Leistungsfähigkeit auf Teufel komm raus gesteigert wird. Der spitze Bleistift der ökonomischen Rationalisierung wird immer spitzer. Niemand wagt, diesen Prozess zu verlangsamen. Wer da nicht mitmacht, ist irgendwann weg vom Fenster.
«Darum haben die integren Manager auf den Aktienmärkten trotz aller Nachhaltigkeitsrhetorik nach wie vor kaum Chancen», meint Thielemann. Stattdessen seien die Popstars der New Economy immer noch am Ruder.
Zu glauben, Integrität spiele als Einstellungskriterium bei Topmanagern eine besondere Rolle, «wäre naiv», meint Thielemann. Damit würde man ja sagen: «Im Zweifelsfall gegen den Shareholder-Value.» In Zeiten des steigenden Wettbewerbsdrucks überlegen sich das die Aufsichtsräte, die letztlich für die Einstellung der Manager verantwortlich sind, schon zweimal. Tatsache ist, dass integre Manager es «eher selten bis ganz nach oben schaffen», weiss Thielemann. Faktoren wie Ausbildung, Geradlinigkeit einer Karriere, Zugehörigkeit zu bekannten Firmen sowie andere traditionelle Kriterien entscheiden nach wie vor über Erfolg oder Misserfolg
einer Bewerbung. So genannte rationale Kriterien also. Weichen Faktoren wie Persönlichkeit, Unabhängigkeit im Denken und Handeln oder Eigenständigkeit wird heute noch kaum Rechnung getragen. Das Risiko einer Fehleinschätzung der zukünftigen Führungskraft ist jedoch akut, wenn die Verhaltens- und Persönlichkeitsfaktoren völlig ausgeblendet werden. Aufsichtsräte und Personalabteilungen sind beeindruckt von der steilen Karriere des Kandidaten. Werte wie Bescheidenheit, Bodenständigkeit und Ehrlichkeit stören nur das Bild des ehrgeizigen Hochfliegers. Die Frage, ob der Kandidat auch tatsächlich für eine Karriere geeignet ist, steht nicht im Vordergrund.

Imagewahrung und Grossmannssucht

Diese Einstellungspraxis hat ihr Pendant im Selbstverständnis vieler Manager. «Sehr viele, zu viele Manager haben ihr Selbstgefühl heute ausschliesslich auf ihren Beruf und die hierarchische Position aufgebaut», sagt Kerry Sulkowicz, Psychiater und Berater von Topmanagern. Deshalb seien sie für seelische Krisen auch sehr anfällig. Die Kehrseite einer Personalpolitik, die das Erfolgsstreben der Kandidaten in den Mittelpunkt stellt, heisst häufig Überforderung. Viele Manager missachten konsequent ihre eigenen Grenzen. Um des Erfolgs willen, um den Schein des Stars nach aussen hin zu wahren, muten sie sich mehr zu, als sie zu leisten vermögen. Die Folge: Burnout. Aber auch die spektakulären Bilanzfälschungen entspringen letztlich dem Teufelskreis von Imagewahrung und Grossmannssucht.
Die Skandale der letzten Jahre haben die Unternehmens- und die Managementethik zu beliebten Themen auf Tagungen und in betriebsinternen Seminaren gemacht. Hier diskutieren die Verantwortlichen jedoch nicht übers Kerngeschäft, sondern über Randbereiche wie Kinderarbeit und Korruption, deren Beseitigung keinem wehtut – mit dem Ziel, das Vertrauen der aufgeschreckten Aktionäre wiederherzustellen. Das Resultat sind schnell gedruckte «Ethik-Hochglanzbroschüren». Die wichtigste Voraussetzung für einen nachhaltigen Wandel in den Unternehmen sieht der Wirtschaftsethiker jedoch nicht erfüllt, nämlich «dass es überhaupt verantwortungsbewusste Manager gibt». Die richtige Ausbildung fehle. Im ganzen deutschsprachigen Raum gibt es nur drei Lehrstühle für Wirtschaftsethik. Das sei ein blamabler Zustand. Statt den zukünftigen Führungskräften Anstand beizubringen, trichtern ihnen die Volkswirte von Anfang an ein, «dass es für das Gemeinwohl am besten ist, wenn sie konsequent ihre Eigeninteressen verfolgen», ärgert sich Thielemann. Anlass zur Hoffnung gab Bundespräsident Johannes Rau, als er Anfang dieses Jahres forderte, einen Pflichtkurs Ethik ins BWL-Studium einzubauen.

Inhaltslose Sprechblasenethik gegen legitimiertes Handeln

Integre Manager lassen also auf sich warten. Immerhin hat die «Kraft einer wachen Öffentlichkeit, die den
Unternehmen auf die Finger klopft», die Wirtschaft dazu veranlasst, eine Kursänderung vorzunehmen, meint Thielemann. Dieser eingeschlagene Pfad werde auch nicht wieder aufgegeben, ist er überzeugt und vergleicht die Entwicklung mit einem Korridor, der gerade erweitert wird. Links das Extrem «wir wursteln weiter wie bisher und passen uns vordergründig den Erwartungen an», rechts die reine Ordnungsethik. Dazwischen liegt der Korridor, in dem Thielemann jene Unternehmen lokalisiert, die in der Vergangenheit unter Druck geraten sind und nun Berichte für die Stakeholder veröffentlichen, dem Global Compact beitreten und plötzlich merken: «Oh, wir haben uns jetzt exponiert.»
Diese Unternehmen haben sich auf etwas verpflichtet. Sie sind angreifbarer und müssen es sich nun noch besser überlegen, ob sie eine Politik weiterverfolgen wollen, die kritisiert und verurteilt werden kann. «Dann kippt das irgendwann», lautet Thielemanns These, und es beginnt der Bereich verdienter Reputation. Das Management ist dann tatsächlich an ethischen Fragen interessiert. Und zwar nicht nur, weil sich Ethik irgendwie auszahlt, sondern weil man angefangen hat, umzudenken, «nachzudenken». Der grosse Unterschied zur inhaltslosen Sprechblasenethik sei eben gerade, «sich selbst einmal genau die Gedanken zu machen, die sich die Kritiker schon lange machen – ob nämlich das
eigene Handeln legitimiert werden kann».

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