«der arbeitsmarkt» 10/2005

Grossbaustelle Arbeitsagentur

Neustrukturierung Deutschland ächzt unter Rekordarbeitslosigkeit. Nun will man Voraussetzungen schaffen, die mehr Leute in Arbeit bringen. Die Arbeitsagenturen werden umgebaut, sie sollen effizienter arbeiten können. Arbeitslose, die nach Bezugsende ihrer Taggelder noch keinen Job gefunden haben, werden an speziell geschaffenen Stellen nach neuen Modellen betreut. Ein Augenschein in München mitten in der turbulenten Umbauphase.

München, Agentur für Arbeit, Montagmorgen, 8.50 Uhr. «Wartenummer 557 bitte zum Schalter kommen» leuchtet ein Schild in roter Schrift. Gut zwei Dutzend Menschen sitzen in der Wartezone der Arbeitsagentur München, in einer von vielen. Jeder hat ein Nummerzettelchen gezogen. Die meisten starren wortlos vor sich hin. Ab und an wirft jemand einen Blick auf die Leuchtanzeige. Die Ziffern steigen nur langsam an. Momentan finden noch alle einen Sitzplatz. Immerhin. Denn wer nicht kurz nach der Öffnung um 7.30 Uhr kommt und eine niedrige Nummer ergattert, muss mitunter stundenlang ausharren, bis er aufgerufen wird. Kein Wunder: Ein Vermittler ist in München für 800 Arbeitsuchende zuständig. Ein kaum zu bewältigender Job.
Ein Arbeitsloser sieht seinen Vermittler im Durchschnitt alle Vierteljahre. Zeit zur Beratung bleibt selbst bei diesen sporadischen Terminen kaum. Die halbstündigen Gespräche werden regelmässig unterbrochen vom Klingeln des Telefons. Dann muss der Berater während der ohnehin knappen Zeit Adressänderungen oder Krankmeldungen entgegennehmen und ins Sys-tem eingeben. Dennoch: Meldet sich der Arbeitslose nicht pünktlich alle drei Monate, werden die Zahlungen eingefroren.
«Wenn unsere Vermittler frisch von der Fachhochschule kommen, sind sie hochmotiviert. Aber die Realität holt sie rasch ein», weiss auch Rita Obertanner, stellvertretende Leiterin der Arbeitsvermittlung und -beratung
in der Münchner Agentur für Arbeit. Die Rahmenbedingungen seien schlecht, es gebe einfach zu viele Arbeitslose zu betreuen.
Im Studium lernen die künftigen Vermittler viel über Psychologie und Gesprächsführung, aber in der Praxis sollen sie vor allem betriebswirtschaftlich arbeiten. Obertanner: «Wir sind zwar keine Sozialpädagogen, aber wer diesen Beruf ergreift, will ja eigentlich Menschen helfen. Nur lassen ihm die vorhandenen Bedingungen kaum die Möglichkeit dazu.»

Vom Einzelbüro zum gläsernen Arbeitsplatz

Nun soll alles besser werden und die Wartenummern überflüssig. In allen 180 Agenturen für Arbeit in Deutschland werden dieses Jahr «Kundenzentren» eingeführt. In München ist der Umbau momentan unübersehbar: Überall laufen Männer im blauen Kittel durch die Flure. Es hängen Kabel von der Decke, Gänge sind mit Plastik-folien abgehängt, provisorische Durchgänge gebrochen. Vergessene Topfpflanzen verkümmern unter dem Staub eingerissener Wände. Aber noch immer sitzen die Stellenlosen Stunde um Stunde in den Gängen und warten. Und es sind nicht wenige: Im Juni waren in der Stadt München 81810 Menschen arbeitslos gemeldet, die Arbeitslosenquote betrug 7,0 Prozent. Zum Vergleich: Bundesweit gab es 4704050 Arbeitslose (11,3 Prozent). Im ersten Halbjahr 2005 wurden allein in München 383 Mio. Euro Arbeitslosengeld
(inklusive Sozialversicherungsbeiträgen) ausgezahlt. Die Arbeitsagentur ist die zweitgrösste in Deutschland, sie beschäftigt 1500 Mitarbeitende. Ab Oktober sollen endlich keine telefonischen Anfragen mehr die ohnehin knappe Beratungszeit unterbrechen. Stattdessen wird in Rosenheim ein Callcenter eingerichtet, das telefonische Anfragen beantwortet oder Urlaubsmeldungen entgegennimmt. Persönliche Vorsprachen in der Arbeitsagentur werden nur noch nach Terminabsprache mit dem Callcenter möglich sein.
Rita Obertanner ist in der bayrischen Landeshauptstadt für den Umbau verantwortlich. Zurzeit sind die Bauarbeiter dabei, Zwischenwände herauszureissen. Statt in liebevoll mit Topfpflanzen und Familienfotos dekorierten Einzelbüros werden viele Mitarbeitende künftig in Grossraumbüros sitzen. «Dann können die Wartenden sehen, dass bei uns tatsächlich gearbeitet wird», erklärt Rita Obertanner: «Unsere Dienstleistung muss sichtbarer werden.» Je zehn Mitarbeitende, die den Vermittlern zuarbeiten, sollen sich ein Büro teilen. Sie nehmen Daten auf, geben Anträge ab, klären Anliegen und machen Terminvereinbarungen.
Alle werden in durch Schränke getrennten Zellen sitzen. So soll ein Mindestmass an Privatsphäre gewahrt bleiben. Lediglich die Beratungen beim Arbeitsvermittler finden noch in Einzelbüros statt, um den Datenschutz zu gewährleisten.
Momentan drängen sich die Wartenden überall vor geschlossenen Türen. Bei langen Wartezeiten kommt gerne der Verdacht auf, hinter den Türen schiebe jemand eine ruhige Kugel. Nicht alle sind von der Perspektive, nach Jahrzehnten im eigenen Büro plötzlich «mitten in der Landschaft» zu arbeiten, begeistert. Das erfährt auch Rita Obertanner: «Es kommen schon die ersten Arztzeugnisse, dass die Arbeit in einem Grossraumbüro nicht zumutbar sei.» Da müsse man halt Überzeugungsarbeit leisten und den Mitarbeitenden die Ängste nehmen.
Nicht nur bei den Räumen wird umgebaut, auch an den Begrifflichkeiten wird gearbeitet. Seit letztem Jahr heissen die Arbeitsämter «Agenturen für Arbeit». Auch ein neues Erscheinungsbild hat man sich gegönnt. Früher zeigte das Logo ein rotes A auf weissem Grund. So sieht es heute aus: Dasselbe A in Weiss auf rotem Grund. Kosten der Neuentwicklung: 30000 Euro. Dazu kommen nach Berechnungen der «Süddeutschen Zeitung» weitere 7,49 Millionen Euro, davon allein 2,5 Millionen für neue Verkehrsschilder, die den Weg zu den bundesweit 850 Geschäftsstellen weisen. Neue Broschüren und der angepasste Internetauftritt schlagen mit ebenfalls 2,5 Millionen zu Buche.

Wenn alle Beteiligten Rechte und Pflichten haben

Weitere Neuerung: In den Agenturen gibt es keine Arbeitslosen mehr. Stattdessen drängen sich «Kunden» auf den langen Fluren. Das geht mittlerweile allen Agenturmitarbeitenden ganz selbstverständlich von den Lippen. Künftig werden diese Kunden in drei Gruppen unterteilt. Als «Marktkunden» gelten alle, die sich selbständig bewerben und Aussichten haben, ohne spezielle Unterstützung wieder einen Job zu finden. Sie erhalten, ausser Stellenzuweisungen, keine Unterstützung von der Arbeitsagentur, müssen sich nur alle drei Monate melden. «Beratungskunden» haben berufliche Vermittlungshemmnisse, brauchen etwa Kurse, um ihr Wissen zu aktualisieren, oder Trainingsmassnahmen. Diese Gruppe soll künftig die grösste Unterstützung der Agentur erhalten. «Betreuungskunde» wird, wer «berufliche und persönliche Vermittlungshemmnisse» hat, etwa nur sehr wenig qualifiziert oder über 55 Jahre alt ist oder ein Drogenproblem hat. «Hier muss man das Kosten-Nutzen-Verhältnis betriebswirtschaftlich abwägen, muss sehen, mit welchem sinnvollen Aufwand man überhaupt noch etwas bewegen kann», so Obertanner. Wer kaum Chancen hat, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen, wird auch vom Amt nur bedingt Unterstützung erhalten. Neu wird mit allen Arbeitslosen eine
Eingliederungsvereinbarung geschlossen. In dieser werden verbindlich Rechte und Pflichten beider Seiten festgelegt. Für viele Vermittler eine neue Situation. Bisher waren sie es gewohnt, den Versicherten zu sagen, was sie zu tun haben. Plötzlich müssen auch sie sich in die Pflicht nehmen lassen. Die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Aufgaben sind vom Versicherten einklagbar. Umgekehrt werden ihm Gelder gestrichen, wenn er seinen Verpflichtungen – etwa eine bestimmte Anzahl Bewerbungen zu tätigen oder eine zugewiesene Fortbildungsmass-nahme zu besuchen – nicht nachkommt.

Auch personell wird umstrukturiert. Eigentlich sollten wir 20 Prozent der Vermittlungskapazität für die Arbeitgeber eservieren», so Obertanner. «Für München heisst das, dass 30 Vermittler nur für die
Arbeitgeberbetreuung zuständig sind.» Das sei bereits seit drei Jahren so geregelt, funktioniere aber in der Praxis nicht: «Der Druck der Flure ist bei uns so hoch, dass diese Vermittler immer wieder im Tagesgeschäft mit den Arbeitslosen aushelfen müssen.» So werden wichtige Kontakte nicht gepflegt, der Arbeitsagentur entgehen Meldungen freier Stellen: «Heute werden wir bei 40 Prozent der zu besetzenden Stellen involviert. Das muss wesentlich mehr werden.»
Künftig haben die Agenturen mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Es wird nicht mehr einfach zentral Geld zugeteilt. Stattdessen muss jede Arbeitsagentur ein Budget aufstellen und erklären, welche Ziele sie mit welchem Betrag erreichen will. Controlling soll den effizienten Einsatz der Gelder gewährleisten. Obertanner: «Bisher setzte die Zentrale uns ein Ziel, das Wie organisierten wir vor Ort. Heute sind wir endlich mehr eingebunden. Jetzt stellt sich eher das Problem, das Wie und das Was nicht zu verwechseln.»
Zudem werden die Agenturen in Wettbewerb miteinander gestellt. Dabei werden jeweils Ämter aus ähnlich strukturierten Regionen verglichen, München etwa mit Nürnberg und Frankfurt am Main, Grossstädten mit hoher Wirtschaftsdynamik. So sollen Best-Practice-Modelle ausgetauscht werden. Dazu gibt es Computerprogramme, über die sich die verschiedenen Modelle und ihr Erfolg abfragen lassen. Zudem sind allein in Bayern sieben Agenturberater tätig, die den Austausch zwischen den Ämtern gewährleisten sollen. Allerdings hat das auch seinen Preis: «Die Dokumentation ist äusserst anspruchsvoll und zeitintensiv. Aber sie wird sich auf Dauer auszahlen», versichert Rita Obertanner.

Überstunden – 250000 Akten neu beschriftet

Was dazukommt: Die Münchner Arbeitsagentur wird künftig nicht als Zentralstelle organisiert sein, sondern in vier regionalen Geschäftseinheiten, für die Stadtbezirke in jeder Himmelsrichtung je eine. Obertanner: «Dafür mussten wir 250000 Akten physisch bewegen, neu beschriften und jede dieser Akten zweimal im EDV-System neu umschreiben.» Zahllose Überstunden für die Mitarbeitenden und Samstagsarbeit waren die Folge. Gleichzeitig waren die Flure wie eh und je voller Arbeitssuchender, die Änderungen mussten neben der normalen Arbeit geschehen.
Eines muss die Arbeitsagentur seit In-Kraft-Treten von Hartz IV nicht mehr: Langzeitarbeitslose betreuen. Wenn das Arbeitslosengeld I abläuft, wandern die Akten weiter zur «Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München», kurz «Arge». Dort arbeiten die Stadt München und die Arbeitsagentur zusammen. Beide stellen Personal und Gelder bereit. In der Arge werden auch die Arbeitslosen betreut, die nach Ende der Bezugsdauer ihres Arbeitslosengeldes nur noch die niedrigere Arbeitslosenhilfe bezogen, sowie arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger. Beide Gruppen erhalten seit In-Kraft-Treten von Hartz IV «Arbeitslosengeld II», etwa so viel wie die bisherige Sozialhilfe. Insgesamt ist die Arge zuständig für 55000 Menschen, die in 34000 Haushalten oder «Bedarfsgemeinschaften» leben.
München integriert die Arge in seine Sozialbürgerhäuser. Im Sozialbürgerhaus werden alle Sozialleistungen und -fachstellen vom Sozialamt über Wohngeldstelle bis hin zur Jugendhilfe wohnortnah unter einem Dach zusammengefasst. Die Idee ist, den Bürger nicht wegen jedes einzelnen Anliegens kreuz und quer durch die Millionenstadt zu schicken. Zudem soll die Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen verbessert, sollen Anliegen nicht mehr herumgeschoben werden. Das erste Haus entstand vor sieben Jahren. Noch immer sind weitere Häuser im Aufbau, 2007 werden es 13 sein, verteilt über das ganze Stadtgebiet.
Das «Sozialbürgerhaus am Orleansplatz» liegt direkt am Ostbahnhof. Der Orleansplatz ist ein beliebter Treffpunkt für Randständige, die auf den besonnten Bänken auf dem halbkreisförmigen Platz ihre Tage verbringen. Sie verfolgen von ihren Parkbänken aus das Treiben der Menschen, die vom Ostbahnhof nach Haidhausen streben, einem alternativen, als zentrumsnahes Wohngebiet beliebten Stadtviertel von München mit vielen Bars und Szeneläden. Gabriele Schmid, Leiterin des Sozialbürgerhauses, sieht von ihrem Fenster nichts davon. Es öffnet sich auf den Innenhof des Sozialbürgerhauses.

Gemeinsam denken ergibt die besten Lösungen

Gabriele Schmid spricht mit energischer, tiefer Stimme. Ihre wilden Locken hat sie irgendwie zu einem Zopf gebändigt. Ihr Büro ist spartanisch eingerichtet. Es wird von einem runden Tisch dominiert. Ein symbolträchtiger Einrichtungsgegenstand. Denn Tag für Tag ist sie daran, ihren Leuten zu verinnerlichen: «Redet miteinander!» Schliesslich gilt es, für jeden Fall gemeinsam die beste Lösung zu finden. Wenn plötzlich so viele Institutionen unter einem Dach vereint sind, geht das nicht reibungslos. Die Denkweisen und Arbeitskulturen, die plötzlich auf engstem Raum aufeinander treffen, müssen sich zusammenfinden. «Nur wenn alle gegenseitig wissen, wie die neuen Kollegen arbeiten, welches Material sie brauchen, wie die
Abläufe sind, kann die Zusammenarbeit funktionieren. Da sind wir noch immer täglich dran», so Gabriele Schmid. Sie selbst ist nur selten in ihrem Büro anzutreffen. Dort hält es sie in ihrer zupackenden Art nicht lange, stets gibt es vor Ort etwas zu regeln. Das Sozialbürgerhaus hat 150 Mitarbeitende. Es ist bereits das zweite, das sie aufgebaut hat.
Die Kunden des Sozialbürgerhauses heissen bei Schmid schlicht «Bürger». Jeder führt zuerst ein Gespräch mit seinem «Fallmanager». Dieser legt einen Clearingbogen an, in dem vermerkt wird, wo die individuellen Probleme liegen, und sorgt dafür, dass die entsprechenden spezialisierten Kollegen involviert werden. Die Verantwortung bleibt stets beim Fallmanager. Oftmals kommen vielschichtige Probleme erst im Laufe der Zeit zutage, wenn mit den zuständigen Beratern ein Vertrauensverhältnis entsteht. Anfangs, so ein Berater, «steht in den Bögen oft viel drin, aber es sagt wenig aus».
Im Sozialbürgerhaus gibt es keine Wartezonen, selbst die für die Wartenden gedachten Klappsitze in den Fluren vor den Büros sind leer. Jeder, der hier mit einem Anliegen an der rundum verglasten Empfangstheke auftaucht, wird baldmöglichst vom zuständigen Berater empfangen. Nirgendwo steht ein Gerät, das Wartenummern ausspucken könnte. Hartz IV spüren die Mitarbeitenden dennoch gewaltig. Statt für 1800 «Fälle», also Familien, wie im letzten Herbst, sind sie nun für 3000 zuständig.

Schuldenberatung und Kinderbetreuung

Hartz IV sorgt dafür, dass am Orleansplatz neuerdings auch Vermittler der Münchner Agentur für Arbeit ihre Büros haben. Denn diese werden von der Bundesagentur an die Sozialbürgerhäuser versetzt, um dort
Langzeitarbeitslose zu betreuen. Schmid: «Momentan sind es 8,5 Stellen. Am Ende werden 14 Mitarbeitende der Bundesagentur am Orleansplatz stationiert sein.» Sie werden weiterhin vom Bund bezahlt. «Da müssen zwei Welten zusammenwachsen», erklärt Schmid. «Die Agentur denkt in Vermittlung, wir denken in Leistung.» Sie weiss: «Noch ist kaum Erfolg messbar. Wir haben erst wenige Arbeitsvermittler zugewiesen bekommen, und diese sind noch in der Einarbeitung.» Die Fälle, die die Arge bearbeitet, sind häufig komplex, der Erfolg kann sich erst langsam einstellen. Andererseits: Während in der Arge laut Vertrag maximal 225 erwachsene Arbeitslose oder 75 Jugendliche von einem Vermittler betreut werden dürfen, gibt es keinerlei Höchstzahlen für die Bundesagentur. Noch ist auch bei der Arge wegen der laufenden Umstellung die Fallzahl höher. Wenn der Umbau abgeschlossen ist, wird gelten: Jedes Mal, wenn dieser Höchstsatz überschritten wird, muss die Agentur einen neuen Vermittler abtreten. Jedoch erhält sie wegen der knappen Bundesfinanzen kein neues Personal, um ihn zu ersetzen. Das sorgt für Unmut. Schmid sieht das locker: «Dafür werden die ja auch alle Langzeitarbeitslosen los.»
Weshalb aber werden diese nicht wie bisher in der Agentur betreut? Die Arge versucht, die Menschen mit einem neuen Ansatz in Arbeit zu bringen, und hat dafür auch ganz andere Möglichkeiten zur Hilfestellung. Während die Agentur fast nur noch verwalten kann, will die Arge mit dem Arbeitslosen zusammen erst einmal alle Probleme lösen, die der Arbeitsaufnahme im Weg stehen. Schmid: «Wir schicken die Leute zur Schuldenberatung, helfen Kinderbetreuung zu organisieren oder unterstützen Suchtkranke dabei, die passende Therapie zu finden.»

Berge von Papieren und darunter ein Schreibtisch

Peter Frank, langjähriger Vermittler bei der Agentur für Arbeit, hat sein Büro seit Anfang Jahr im Sozialbürgerhaus am Orleansplatz. Franks E-Mail-Adresse endet weiterhin auf @arbeitsagentur.de, sein Gehalt wird nach wie vor vom gleichen Konto überwiesen.
Obwohl er erst seit wenigen Monaten hier arbeitet, ist sein Schreibtisch unter Bergen von Papier kaum noch zu erkennen. Quer dazu steht der Besuchertisch. Fein säuberlich leer. Denn viele seiner Klienten bringen
Unterlagen mit, die sie dort ausbreiten müssen. Frank beschränkt sich nicht darauf, mit dem Blick auf die Uhr nach Bewerbungsbemühungen zu fragen.
Als man Frank fragte, ob er sich ins Sozialbürgerhaus versetzen lassen wolle, war sein Entscheid schnell gefallen. Frank: «Hier kann ich endlich das machen, was ich schon immer dringend nötig gefunden hätte. Die Ursachen, warum jemand keine Beschäftigung aufnimmt, liegen oft im Umfeld. Dort muss man anfangen.» In der Arbeitsagentur wird eine junge Frau niemals erzählen, dass sie zwar arbeiten will, aber eigentlich gar keinen Job annehmen kann, weil sie keinen Betreuungsplatz für ihre beiden Kleinkinder hat. Das würde sie das
Arbeitslosengeld kosten, denn sie gälte als nicht vermittlungsfähig. Im Sozialbürgerhaus wird man ihr erst bei der Suche nach einem Betreuungsplatz helfen und dann Arbeitsbemühungen erwarten. «Hier muss sich jemand erst um Arbeit bemühen, wenn er wirklich wieder arbeitsfähig ist. Das heisst aber nicht, dass ich den Leuten alle Probleme aus dem Weg räume. Wir besprechen Schritt für Schritt, was zu tun ist, und ich stelle Aufgaben, die sie bis zum nächsten Termin erfüllen sollen.» Hilfe zur Selbsthilfe. Was schätzt er am meisten an seinem neuen Arbeitsort? «Dass ich Probleme gemeinsam mit den Kollegen lösen kann. Die Arge ist eine personalintensive Geschichte, dafür kann man auch intensiv auf die Leute eingehen.»
Die Vermittler im Sozialbürgerhaus haben es nicht nur mit motivierten Arbeitsuchenden zu tun, die nur etwas Hilfestellung brauchen. Seit Januar sind sie auch für alle arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger zuständig. Leute, die oft schon «abgehängt» haben und jeden Monat das wenige Geld vom Sozialamt bekamen, ohne dass dafür etwas von ihnen verlangt wurde. Seit Hartz IV sind sie wieder in der Arbeitslosenstatistik erfasst, sie müssen sich aktiv auf Arbeitssuche machen. Keine einfache Situation. Da gilt es in der Arge erst einmal abzuklären, welche Probleme dem im Wege stehen, und diese auszuräumen. Die Arbeitsvermittler im Sozialbürgerhaus wissen um die Grenzen. Es geht in erster Linie darum, die Beschäftigungsfähigkeit überhaupt herzustellen, die Leute zu motivieren. Andererseits: Wenn jemand nicht kooperiere, können ihm nicht einfach die Zahlungen gestrichen werden, wie das in der Arbeitsagentur der Fall war.

EDV-Kinderkrankheiten blockieren effiziente Arbeit

Was tun, wenn jemand schlicht nicht arbeiten will? Dann erstellt der Vermittler mit dem Arbeitslosen eine Bewerbungsmappe, er bekommt einen Ein-Euro-Job zugewiesen. Dort erhalten die Arbeitslosen wieder Tagesstruktur und werden aus ihrem täglichen Trott geholt. Manche Arbeitgeber sprechen direkt die Leiter solcher Arbeitsmassnahmen an, ob gerade gute Leute beschäftigt wären. Zudem bewerben sich die Teilnehmenden aus einer Beschäftigung heraus. Wer sich auch im Ein-Euro-Job unkooperativ zeigt, dem können die Leistungen, sofern er unter 25 Jahre alt ist, auf minimal 42 Prozent gekürzt werden. «Im schlimmsten Fall kann das in München heissen: Miete und Essensgutscheine. Mehr nicht», ergänzt Gabriele Schmid. Allen anderen, die einen Job ablehnen, kann die Regelleistung um 30 Prozent gekürzt werden. Beim zweiten Mal werden vom verbleibenden Satz nochmals 30 Prozent abgezogen.
Genau hier liegt ein ganz anderer potenzieller Konfliktherd verborgen. Die Leistung nach Hartz IV zahlt der Bund, die Unterkunft die Kommune. Da in München der Grundsatz gilt, niemand dürfe seine Wohnung
verlieren, können die Mietzahlungen keinesfalls eingefroren werden. Wenn also Leistungen gekürzt werden, spart der Bund, die Kosten für die Kommune bleiben gleich.
Dasselbe gilt für Zwischenverdienste. Das Einkommen wird von der Leistung abgezogen und bleibt im Bundessäckel. Schmid: «Am Ende ist das Sparpotenzial für den Bund viel höher als für die Stadt. Das wird man in München noch spüren.» Welche Ziele hat Schmid auf ihrer Agenda? Da muss sie nicht lange überlegen: «Dieses Jahr müssen wir unbedingt alle Jugendlichen, die nächstes Jahr aus der Schule kommen und noch keine Anschluss-lösung haben, erfassen und Angebote machen. Denn momentan werde man auf diese nur aufmerksam, wenn sie durch irgendwelche Probleme auffielen und deshalb im Sozialbürgerhaus landen. Viele fielen so durch die Maschen. «Wenn wir die rechtzeitig zu fassen bekommen, können wir noch viel bewirken», ist sich die energische Frau sicher.
Ein Problem hat Hartz IV zudem beschert. Die Gesetze erforderten, dass die Arbeitslosen mit einer speziellen Software verwaltet werden, die die Vorgaben erfüllt. Nur eben: Diese wurde sehr kurzfristig entwickelt. Das EDV-System steckt noch voller Kinderkrankheiten. Bis heute ist es wegen seiner vielen Mängel weder abgenommen noch bezahlt. In der täglichen Arbeit ist es jedoch bereits seit Monaten in Betrieb. Schmid: «Meine Mitarbeiter verbringen viel Zeit damit, sich gegenseitig die besten Tricks zu zeigen, wie man die Fehler der Software umgeht.»
Agentur für Arbeit und Arge – alle bemühen sich nach Kräften, Leute in Arbeit zu bekommen. Nur: Solange die Konjunktur nicht anzieht, sind ihre Möglichkeiten irgendwann ausgeschöpft. Arbeitsplätze backen können sie nicht.

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