«der arbeitsmarkt» 03/2006

Gesellschaftlicher Hüftschwung

Ob Tango, Rumba oder Walzer: Das Interesse der Jungen am Standardtanz hat zugenommen.

«Heute ist Cha-Cha-Cha an der Reihe», sagt Ying Ly, eine zierliche Frau und ein Tanzprofi. Die acht Paare im Saal eins der Winterthurer Tanzschule «DanceART» gehen in Position. Ying Ly zählt «Rück, Platz, Cha-Cha-Cha». «Der Club», wie dieser Kurs sich nennt, ist Fortgeschrittenen vorbehalten, Paaren im Alter von 25 bis 50, die bereits die Grundkurse eins bis drei und einen «Intermediate»-Kurs hinter sich haben. Im «Club» können sie sich aussuchen, in welchen Tänzen sie noch dazulernen wollen. «Ich kenne praktisch alle, seit sie hier angefangen haben», sagt Ying Ly und ist bereits wieder weg, stellt die Stereoanlage ein. Ein älteres Paar verhaspelt sich mit den Armen, während das Paar daneben gekonnte Hüftarbeit leistet.
Sie habe in den letzten ein bis zwei Jahren gemerkt, dass Standardtanz wieder vermehrt «in» sei, vor allem bei jungen Leuten, erzählt Ying Ly. Das Interesse am Tanz komme in Wellen. Oft seien Tanzfilme dafür verantwortlich: «Vor zwei Jahren kam ‹Shall We Dance› mit Richard Gere und Jennifer Lopez in die Kinos und sorgte für Nachfrage in den Tanzschulen.» Das gleiche Phänomen sei nach Filmen wie «Dirty Dancing», «Flashdance» oder «Saturday Night Fever» zu beobachten gewesen. Im Moment sind es 25 Paare, die an der «DanceART» Standardtanzkurse, hier «Trend mix» genannt, belegen. Drei Lehrer – Ying Ly eingeschlossen – geben die Lektionen, zu denen neben den klassischen Standardtänzen wie Walzer, Quick Step oder Tango der Disco Swing und die lateinamerikanischen Tänze Jive, Cha-Cha-Cha, Rumba, Samba und Salsa gehören. Wenn jemand sich anmeldet, der keinen Tanzpartner mitbringt, sorgt die Schule dafür, dass er nicht allein dasteht. Für Anfänger sei die Koordination ein Hauptproblem, erklärt Ying Ly und beobachtet die tanzenden Paare. «Versucht einmal, den Arm auf der Seite herauszunehmen.» Bis zu den Fingerspitzen hin wirken die Bewegungen der 32-Jährigen harmonisch.

«Tanzen gehört nun mal zur Allgemeinbildung»

«Ein Leben ohne Tanzen kann ich mir nicht vorstellen», so die in der Schweiz aufgewachsene Chinesin. Schon als kleines Mädchen habe sie in ihrem Zimmer «geübt». «Ich konnte ganze Choreographien aus ‹Flashdance› auswendig.» Sie habe Bewegungsabläufe bis ins kleinste Detail geübt, erinnert sie sich. Dass sie irgendwann eine Tanzschule führen würde, hätte sie sich allerdings nie träumen lassen.
Ying Ly hat mit 19 eine Ausbildung in Bühnentanz mit Modern Dance, Jazz und klassischem Ballett gemacht. Parallel dazu fing sie an, Tanzstunden in Latin-, Paar- und Standardtanz zu nehmen. Nach einem Jahr begann sie als Turniertänzerin und probte wöchentlich drei bis vier Mal abends. Um sich die zusätzlichen Tanzstunden zu verdienen, arbeitete sie am Wochenende als Kellnerin in Luzern. Später bekam sie das Angebot, bei einer Showgruppe mitzumachen. Zwei Jahre lang tourte sie mit dieser durch Europa und trat in Hotels und Theatern auf. Es sei zwar nie ihr Wunsch gewesen, auf einer Bühne zu stehen, dennoch möchte sie diese Erfahrung nicht missen: «Dort habe ich gelernt, Charaktere darzustellen.» Nach ihrer Rückkehr fing sie an, Unterrichtsstunden zu geben.
«Ich habe Glück gehabt, das hier zu finden», meint sie und zeigt um sich. «Das hier» ist eine ehemalige Druckerei, die nach ihren Wünschen umgebaut wurde, über riesige Räume und viel Platz verfügt. Vor einem Jahr hat sie die Tanzschule eröffnet. Die Stereoanlagen in den Räumen sind noch nicht abbezahlt. Aber sie könne sich nicht über mangelnde Kursnachfrage beklagen. Zwei fest angestellte Teilzeitmitarbeiter und zehn Tanzlehrer, die zwischen einer und drei Tanzstunden pro Woche geben, gehören zu ihrer Crew. «Ying Ly ist eine absolute Perfektionistin, aber das ist gut in diesem Job», beschreibt Hip-Hop-Lehrer Denis Alibasic, der seit zwei Jahren mit ihr arbeitet, seine Chefin. Wenn es manchmal Probleme gebe, dann eher seinetwegen. Er sei viel unterwegs und dann müsse sie eine Stellvertretung organisieren.
Warum kommen die Leute in die Tanzschule? «Wir wollten an unserer Hochzeit wenigstens einen Walzer hinkriegen», erklärt Robert Demuth in der Pause einen der Gründe, weshalb er mit Tanzen begonnen hat. Und das sei gelungen, ergänzt seine Frau Kristin. Die beiden gehen öfters tanzen, beispielsweise ins «Pasadena» in Volketswil, das eine angesagte Adresse für Tanzbegeisterte ist. «Da ist es meist voll, und wir fallen nicht so auf», meint das Paar. Während Ying Ly hinter der Theke der hauseigenen Bar Getränke ausgibt, erzählen Martin und Sandra Stadler, wie sie vor zwei Jahren den ersten Tanzkurs besucht haben. Er sei von ihr genötigt worden, es mache ihm aber mittlerweile fast mehr Spass als ihr, meint der junge Ehemann. Und der Student Martin Künzler stellt fest: «Tanzen gehört nun mal zur Allgemeinbildung.» Für ihn und seine Freundin Naomi Hürlimann ist wichtig, dass sie etwas zusammen lernen. Ihr Favorit unter den Tänzen ist der Tango. Und dann diskutieren die beiden darüber, ob Paare, die auf der Tanzfläche nicht harmonieren, überhaupt zusammenpassen.

Neben der Technik wird vor allem die Freude am Tanzen vermittelt

«Ich erwarte nicht, dass ihr am Ende der Stunde den Schritt perfekt beherrscht», ermuntert Ying Ly in der zweiten Hälfte des Abends. Zwei Dinge sollen ihre Schüler vom Unterricht mitbekommen: die Technik und die Freude am Tanzen. «Es bringt nichts, sich während eines Kurses nur auf die richtige Haltung zu konzentrieren, wie das eine Bekannte von mir tut.» Darüber würden die Leute die Freude am Tanzen verlieren. Die Tanzschulbesitzerin zwingt die Kursteilnehmer nicht, schwierige Schritte sofort perfekt umzusetzen, kommt im Verlaufe der Kurse aber immer wieder darauf zurück. «Ich will, dass die Kursteilnehmer
beherrschen, was ich ihnen beibringe.»
Ying Ly spricht mit ihren Kursen im Vergleich zu anderen Schulen ein eher junges Publikum an. Sie habe ein paar Teilnehmer um die 50, generell seien die Schüler jedoch zwischen 20 und 40. Was hat Tanzen innerhalb der Schweizer Gesellschaft für einen Stellenwert? Es gelte das Motto: «Einmal im Leben muss man einen Tanzkurs gemacht haben», meint sie. Bei den Jungen, die zu ihr kämen, komme es sehr auf die Musik an. Und da seien die lateinamerikanischen Tänze am attraktivsten. Manchmal ändere sich im Verlauf eines Kurses aber auch die Vorliebe. Sie wechselt in ihrem Programm zwischen klassischem Standardtanz und lateinischen
Tänzen ab. Die Schweiz habe, was Tanzen anbelangt, einen guten Level, meint sie. Und: «Die Schweizer sind gute Salsa-Tänzer.» Das möge überraschen, sei ihr von deutschen Tänzern aber schon wiederholt bestätigt worden.
Die Profitänzerin unterrichtet gern, unter anderem auch deshalb, weil sie das Gefühl hat, selber weiterzukommen. Die Herausforderung bei den Paartänzen ist für sie die Kunst, sich dem Partner auszuliefern und sich führen zu lassen. Dass Tanzen in ihrem Leben eine so wichtige Rolle spielt, wirkt sich auch auf
eine Partnerschaft aus. «Keine Kompromisse mehr in dieser Hinsicht», sagt sie bestimmt. Sie sei einmal bereit gewesen, das Tanzen wegen eines Partners aufzugeben. Heute käme so etwas für sie aber nicht mehr in Frage.
Die Tanzstunde ist zu Ende. «Das nächste Mal ist Salsa angesagt», ruft Ying Ly den abgehenden Paaren nach. Sie ist der Ansicht, dass gerade Männer frühzeitig tanzen lernen sollten. Viele würden irgendwann durch ihre Freundinnen mitgeschleppt und merkten dann, dass ihnen die Sache viel mehr Spass mache als angenommen. Junge Männer hätten oft wenig Koordinationsgefühl und seien der Überzeugung, sie könnten «so was» nicht. «Tanzen», sagt die Tanzschulleiterin, «sollte in den Schulsport integriert werden.»

Links: www.danceart.ch

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