«der arbeitsmarkt» 05/2006

Gehörlose gehören dazu

Arbeitsvermittlung Gehörlose, die eine Arbeit suchen, sind wegen ihrer Kommunikationsbehinderung zusätzlich benachteiligt. Zudem leiden sie unter grassierenden Vorurteilen. «der arbeitsmarkt» besuchte Rolf Zimmermann, Treffleiter für arbeitsuchende Gehörlose in Zürich.

Auf einer Anhöhe postiert, beobachtet der Agent mittels Fernglas einen Telefonierenden. Unten im Dorfplatz in der Telefonkabine ahnt der Observierte nichts. Unbeschwert erzählt er seinem Gesprächspartner von seinen obskuren Absichten. Er wird das Telefonat nicht zu Ende bringen können. Streifenwagen sind vorgefahren, und der Übeltäter wird mit Handschellen abgeführt. Was der Abgeführte nicht ahnen konnte: Der Observierer war ein Agent Ihrer Majestät, der Königin von Grossbritannien. Als solcher beherrscht er natürlich das Lippenablesen. Auf der Stelle meldete er die «abgelesenen» kriminellen Absichten seiner Dienststelle.
 

Mimik und Körpersprache gehören zu einer klaren Kommunikation

Eine schöne Geschichte. Im Kino schon gesehen, aber leider «vollkommen unrealistisch», wie Rolf Zimmermann, selbst gehörlos, aus eigener Erfahrung sagt. Er ist bei der Beratungsstelle für Gehörlose in Zürich tätig, wo er den Treff für arbeitsuchende Gehörlose leitet. Zimmermann weiss, dass selbst einer, der gut ablesen kann, bloss 30 Prozent vom Gesprochenen versteht, und dies auch nur bei optimalen Bedingungen. Die Zusammenhänge erschliessen sich ihm erst dann, wenn er die Thematik einer Unterredung kennt. Allein durch das Lippenablesen wird der Sinngehalt nicht erkennbar. Für eine klare Kommunikation genauso wichtig sind nämlich Mimik und Körpersprache.
Da in der Welt, in der wir leben, vor allem mittels Lauten kommuniziert wird, kommt es beim Interagieren zwischen Hörenden und Gehörlosen oft zu Missverständnissen, was im negativen Fall auch zu Vorurteilen führt. Gehörlose Menschen können die gesprochene Sprache nicht über das Hören erlernen. Ihre Aussprache tönt daher für Hörende ungewohnt. Hier wird Zimmermann deutlich: «Nur weil Gehörlose über eine eingeschränkte Lautsprachenkompetenz verfügen, heisst dies nicht, dass sie über eine mangelhafte Intelligenz verfügen.»
Für den Umgang mit Gehörlosen gibt es ein paar nützliche Tipps, die Zimmermann gerne weitergibt: Man solle sich Zeit nehmen und versuchen, sich in die Lage der Hörbehinderten zu versetzen. Hilfreich dazu ist das Verwenden von Hörstöpseln. Eine klare und deutliche Artikulation in Schriftdeutsch ist sehr wichtig. Schliesslich soll man auch die eigene, natürliche Körpersprache zulassen.
Kommunikationsprobleme hat Zimmermann nicht. Jeden Donnerstag empfängt er arbeitslose Gehörlose in seinem Büro in Zürich. Dabei ist ihm das persönlich
Empfinden des Klienten sehr wichtig. «Ich kann erkennen, wie die Situation aussieht und in welcher physischen Verfassung die Person ist. Erst danach gehe ich zum eigentlichen Thema über.» Im Vergleich zu einem Beratungsgespräch mit Hörenden wird dabei besonders auf eine klare Kommunikation Wert gelegt. In Gebärdensprache oder in gut artikulierten Mundbildern können sich hier die Gehörlosen entfalten und das ausdrücken, was sie sagen wollen. «Bei mir müssen sie sich nicht rechtfertigen, wenn sie Probleme haben.»
Sich in der Berufswelt zurechtzufinden, stellt an die Gehörlosen grosse Anforderungen. Die wirtschaftliche Situation kommt ihnen nicht entgegen. Der Arbeitsmarkt verlangt ständige Weiterbildung. Sich verändernde Berufsbilder und Technologien sind für Gehörlose jedoch ein Problem. Die Dienstleistungsbereiche wachsen, und viele Arbeiten beinhalten telefonische Kundengespräche. Das Telefon gilt bei den Gehörlosen als «Jobkiller» schlechthin. Gehörlose können zwar mit einem Schreibtelefon kommunizieren, für die Hörenden ist dies aber oft zu umständlich. Der Dolmetscherdienst Procom bietet hier als Dienstleistung eine
Telefonvermittlung zwischen Gehörlosen und Hörenden an. Benachteiligt sind Gehörlose auch bezüglich des in vielen Betrieben hoch geschätzten Teamworks und Arbeitsbesprechungen wie Briefings und Workshops.
 

Auch Quantenphysik lässt sich in Gebärdensprache erklären

An den Arbeitsplatz eines Gehörlosen gehören die richtigen Hilfsmittel. Das Schreibtelefon, Blinksignale, Spiegel, Kommunikationsregeln und andere «Sonderwünsche» werden von Arbeitgebern jedoch oft verweigert. Gebärdensprach-Dolmetschereinsätze
müssten für wichtige Arbeitsbesprechungen garantiert werden. Gemäss Procom gibt es in der Schweiz etwa 8000 Gehörlose. Die meisten gebrauchen die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel. Sie hat sich zu einem komplexen Sprachsystem entwickelt, «in dem sich bis hin zur Quantenphysik alles ausdrücken
lässt», wie der Journalist Reto U. Schneider in seinem Artikel «Das Handwerk der Sprache» (NZZ-Folio vom Oktober 1994) schreibt. Die Welt der Gehörlosen ist für Hörende nur schwer zu erfassen. Es ist eine andere Kultur. Gehörlose denken und träumen in Gebärdensprache. Kein Wunder, dass es für sie wichtig ist, sich unter
Gleichen auszutauschen. In solchen Momenten fühlen sie sich gut aufgehoben.
Gut aufgehoben sind arbeitsuchende Gehörlose auch bei Rolf Zimmermann, der alle sechs Wochen die RAV-Informationsveranstaltungen für Gehörlose im Auftrag des AWA Zürich durchführt. «Unsere Beratungsstelle arbeitet eng mit den RAV-Stellen zusammen.» Der engagierte Berater hat übrigens auch für aufgeschlossene Arbeitgeber eine Botschaft: «Probieren geht über studieren. Geben Sie mit Schnupper- oder Probetagen Gehörlosen eine Chance, damit sie zeigen können, was sie draufhaben.»
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