«der arbeitsmarkt» 10/2006

Ganz nüchtern eine Arbeit finden

Arbeitslosigkeit und Alkoholmissbrauch gehen gerne ein Bündnis ein. Im Kanton St.Gallen gibt es
darum auch die Hilfe im Duett: das erste Einsatzprogramm (PvB) mit integrierter Suchttherapie.

«Entschuldigung, wenn ich Sie etwas frage: Haben Sie ein Alkoholproblem?» Glück im Unglück hatte jene Frau, der diese Frage – ihrer «Fahne» wegen – gleich in der ersten Beratung beim RAV ins Gesicht gesagt wurde. Manch unnötiger Umweg blieb ihr so erspart. Zwar war es ihr peinlich, aber sie atmete erleichtert auf: «Endlich spricht es jemand an.» In der Regel wurstelt sich durch, wer mit dem Alkohol nicht zurechtkommt, bis er – vielleicht – endlich zu seiner Sucht steht.

Viele Menschen definieren sich über ihren Job», sagt Walter Abderhalden, im
Amt für Arbeit in St.Gallen Leiter der Abteilung Prävention und Qualität. Auch wenn dies eher schon eine Binsenwahrheit ist, darf sie gerade bei Alkoholgefährdeten nie vergessen werden. «Eine Kündigung bedeutet nicht nur den Verlust der Arbeit, sondern auch den Verlust der Wertschätzung. Suchtkranke verlieren mit dem Job oft auch den letzten Rest an Stabilität.» Und ihre Tagesstrukturen. Arbeitslosigkeit und Alkoholismus beflügeln sich gegenseitig – bis zum Absturz.

Seit siebzig Jahren schon gibt es in Tübach, dort, wo sich St.Gallen und der Thurgau verzahnen, den Mühlhof, einst eine sogenannte Trinkerheilanstalt, heute ein modernes Therapie- und Rehabilitationszentrum. Der Leiter Urs Thalmann sieht sich auf einer Linie mit dem St.Galler Arbeitsamt, wenn er meint, «dass beim ersten Kontakt mit dem RAV bewusst – vielleicht sogar mit einer richtigen Checkliste – alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen angesprochen werden sollten. Alle, nicht nur: Ich habe oft Rückenweh. Alkoholismus ist eine Krankheit und gehört in irgendeiner Form behandelt, sicher aber thematisiert.»

Wenn Thalmann in seinem Büro mit Worten, Papier und Stift das Thema vorantreibt, landet man plötzlich in einer Sackgasse, wo es gedanklich nicht mehr weitergeht. Der arbeitslose Alkoholabhängige ist tatsächlich in einer ziemlichen Zwickmühle. «Innerhalb seiner Rahmenfrist kann er nur stark begrenzt krankgeschrieben werden. Da bleibt kaum Raum für eine Therapie. Er hat gar nicht die Chance, längerfristig sein Suchtproblem im stationären Rahmen anzugehen», summiert Thalmann die egativpunkte. Die Angst und Schmach, die Vermittelbarkeit zu verlieren, schreckt Alkoholkranke zusätzlich, auch die unumgängliche Tatsache, dass sie für den körperlichen Entzug eine Woche ins Spital müssten.

Suchttherapie entbindet von Bewerbungspflicht

So haben nun das Amt für Arbeit in St.Gallen und das Therapie- und Rehabilitationszentrum Mühlhof, unterstützt vom SECO, ein Einsatzprogramm ausgeheckt, das, salopp gesagt, eine «Marktlücke» schliesst und «suchttauglich» ist. Thalmann will sich keine Lorbeeren abzweigen: «Wir mussten wenig ändern, das sechzehnwöchige Therapie- und Rehabilitationsprogramm gibt es bei uns ja schon lange, ebenso unsere sechs bewährten Arbeitsbereiche: die Werkstätten für Holz und Metall, die Biogärtnerei, die Küche und die Lingerie, der Hausdienst.»

die Lösung sung war die: Das RAV entbindet ene, die das Einsatzprogramm mit integrierter Suchttherapie in Tübach absolvieren, für vier Monate von der Bewerbungspflicht. Wie alle Arbeitslosen bekommen sie aber ALV-Taggelder. «So können sie sich die Zeit nehmen, sich der Sucht zu stellen. Sie erleben dieses Time-out entlastend. Das heisst überhaupt nicht, dass sie sich dem Thema Stellensuche ganz entziehen würden. Es ist ständig präsent.» Wer seinen Briefkasten für sechs Monate in Tübach hat, wird in ein ichtes Stützprogramm verwebt. Bei der 5-Stunden-Woche, die im Zentrum gilt, fällt die Hälfte der Zeit an die Therapie – einzeln und in Gruppen –, an die Beratungen und die Gespräche sowie das Bewerbungs-Coaching und die Fitness. Alle Programmteilnehmenden, alle Klienten arbeiten in einem der sechs ereiche, wo die Chefs neben ihrem Erst-
beruf – in der Gärtnerei etwa ein studierter Agronom – mehrheitlich eine pädagogische Zusatzausbildung haben.
2004 und 2005 war Pilotphase, seit Januar 2006 läuft das St.Galler Programm nun offiziell. Thalmann geht davon aus, dass bald öfter auch Ausserkantonale im Zentrum sein werden. Ein Schwyzer hat den Anfang gemacht. Natürlich musste sein Kanton eine schöne Stange Geld bezahlen. Auch für «Einheimische» leistet der Kanton St.Gallen Zuschüsse von gegen zweihundert Franken pro Tag und Person. Das weitere Geld kommt von der ALV, der Krankenkasse, eventuell von der Wohngemeinde der Klienten. Ein Tag Mühlhof kommt auf 310 Franken zu stehen. Solche Beträge mögen hoch erscheinen, lohnen sich aber volkswirtschaftlich meistens. Menschen, die sukzessive in die Invalidität abgleiten, verursachen weit höhere Kosten. Derzeit sind sieben Leute im Tübacher Programm, alle mit andern Eintrittsdaten.

Aus Rückfällen neue
Selbsterkenntnis gewinnen
In der Therapie führt dieser unterschiedliche Wissens- und Erfahrungsstand laut Thalmann zu guten Interaktionen in der Gruppe. «Man hilft sich und stützt einander. Zurzeit sind sie gerade vier volle Tage dabei, ihre Herkunftsfamilie anzuschauen, sie betreiben regelrecht Ahnenforschung, um zu einer Vorstellung zu kommen, aus welchem sozialen Verband sie stammen und welche Wertvorstellungen dort vorherrschten. Wie kann ich was verändern? Wie komme ich zu einem angemessenen Umgang mit meinen eigenen Lebensthemen? Wie lassen sich neue Muster andenken?» Die Fehltritte, die Abstürze sind Teil der Wirklichkeit. Besonders auch, weil der Mühlhof kein Gefängnis sein will. Schnell sollen sich die Teilnehmenden in die eigene Pflicht nehmen. Wichtig sei vor allem, dass Trinkrückfälle umgemünzt werden könnten in eine neue Selbsterkenntnis und Verhaltensänderungen. «Was hat mich getrieben, welche Schleusen haben versagt?» Das sind Lernprozesse, künftige Haltegriffe. Selbstredend ist Alkoholisches auf dem Platzverboten, bis hin zum Toilettenwässerli. «Alkoholimport» in das Therapiezentrum wäre ein Grund zum sofortigen Ausschluss – ohne lange Diskussionen. Blasen ist immer wieder mal an der Tagesordnung, auch als unschöne Überraschung zu ungewohnter Stunde.

Stellenantrittsquote! So hässlich das Wort auch ist, beim RAV, das letztendlich Versicherungsgelder und nicht Heu verteilt, sind hohe Quoten gern gesehen. Und selbstverständlich auch bei den Programmanbietern. Die Stellenantrittsquote definiert sich so: Wie viele Arbeitslose eines Einsatzprogramms finden innerhalb der Programmdauer von sechs Monaten oder in den drei anschliessenden eine Anstellung? 38 Prozent sind es beim Mühlhof. Walter Abderhalden vom Amt für Arbeit hält es für eine ausgezeichnete Erfolgsquote, besonders wenn man berücksichtige, dass es bei Arbeitgebern eine grosse Zurückhaltung gebe, Menschen mit Alkoholproblemen zu beschäftigen. Einer der Erfolgreichen und Glücklichen ist, nennen wir ihn so, Karl Hasler. Die Scheidung und die Trennung von der Familie hatten ihm damals arg zugesetzt. Immer öfter füllte er die Löcher, in die er stürzte, mit Alkohol auf. Der Teufelskreis heizte seinen beruflichen Ehrgeiz vermessen an. Die Selbstüberschätzung als typisches Trinkersyndrom. Der 35-jährige Koch, nahm einen sehr anspruchsvollen neuen Job an. Schon am ersten Tag kam der Zusammenbruch. «Ich konnte nicht mehr, ich fühlte nur noch eine riesige Leere in mir. Da blieb ich einfach zu Hause.» Ein gutes halbes Jahr später und nach einer intensiven Zeit im Mühlhof steht Hasler heute in einer ganz andern Welt da. Und er hat wieder einen ihm angemessenen Job. «Der Mühlhof hat mich persönlich und durch die Arbeit im Gartenteam auch beruflich weitergebracht», sagt er. Mit seinem neuen Chef hat Hasler Klartext geredet und eine Abmachung getroffen. «Es gibt keinen Tropfen mehr.»

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