«der arbeitsmarkt» 05/2006

Ganz normal verrückte Welt

Das Theater HORA unterstützt und fördert seit 1993 die künstlerische Entwicklung von Menschen mit Behinderung. Was mit ersten Theaterproben in einem Wohnheim begann, entwickelte sich zum Verein und schliesslich zur IV-finanzierten Kulturwerkstatt mit eigener Spielstätte.

Das Theater HORA unterstützt und fördert seit 1993 die künstlerische Entwicklung von Menschen mit Behinderung. Was mit ersten Theaterproben in einem Wohnheim begann, entwickelte sich zum Verein und schliesslich zur IV-finanzierten Kulturwerkstatt mit eigener Spielstätte.
Im Casino Aussersihl in Zürich finden die Proben für «Il sogno della vita» statt, eine Produktion des Theaters HORA. Requisiten werden aus einem Lieferwagen ausgeladen und in den Theatersaal getragen. Anders als an grossen Bühnen legen die Schauspielerinnen und Schauspieler selbst Hand an. Sie sind geistig behindert, die meisten von ihnen gehören seit Jahren zum Ensemble. Drinnen hüpfen einige ihrer Kollegen schon im Trainingsanzug durch den Raum. Sie wärmen sich auf für einen langen Probentag.
Sie üben kein neues Stück ein, sondern nehmen «Il sogno della vita» nach einem knappen Jahr Pause wieder auf. Das Stück zeigt die zentralen Szenen aus Federico Fellinis Film «La strada». Diese sind eingebettet in die Geschichte des ehrgeizigen Regisseurs Dr. Feller – gespielt von einem nicht behinderten, professionellen Schauspieler –, der den Fellini-Film möglichst originalgetreu auf die Bühne bringen will. In der ursprünglichen Version verkannte er die Realitäten seiner eigenwilligen Schauspieler und unterdrückte sie. Nur wenn er hinter den Kulissen verschwand, fühlten diese sich wohl und konnten ihrer Spielfreude freien Lauf lassen. Damit stiess das Theater HORA aber an Grenzen, denn die Schauspieler nahmen die Aggressionen des Dr. Feller immer wieder persönlich. Deshalb soll die Geschichte in der Neuaufnahme nicht mehr ganz so schwarz-weiss gezeichnet werden. Die Fragen, die sich Dr. Feller und das HORA stellen müssen, bleiben jedoch dieselben: Gibt es Grenzen im Theaterschaffen mit geistig behinderten Menschen? Was sind die Schwierigkeiten? Wo liegt das Andersartige, falls es wirklich existiert? Und wo fängt der künstlerische Missbrauch dieser Menschen an?
Der Theaterpädagoge Michael Elber widmet sich diesen Fragen seit gut fünfzehn Jahren. Es begann mit einem Stück, das er 1990 mit Bewohnern eines Wohnheims für geistig Behinderte einübte. Drei Jahre später wurde das Theater HORA aus der Taufe gehoben und stellte sich mit einer Adaption von Michael Endes «Momo» einer breiteren Öffentlichkeit vor. Seinen Namen entlehnte es von einer Figur aus Endes Geschichte. Hora, der Meister der Zeit, ermahnt die Menschen, sich selbige zu nehmen. Noch im gleichen Jahr wurde der
Verein Theater HORA gegründet. Ein Jahr später zählte er schon
52 Mitglieder. Der Verein verschrieb sich der Aufgabe, Menschen mit
Behinderung ein Umfeld zu bieten, das sowohl professionelles Theaterspiel als auch die Entwicklung von anderen künstlerischen und musischen Fähigkeiten erlaubt. Die Künstler und Künstlerinnen sollen ihre aussergewöhnlichen Fähigkeiten einem breiten Publikum zeigen und in einem professionellen Umfeld arbeiten können. Dazu gehört auch, dass Michael Elber nicht in die Rolle des Therapeuten schlüpft. «Wir wollen hier Theater machen. Wenn euch das nicht passt, könnt ihr gehen»,
ermahnt er ein Pärchen, das seine Beziehungsprobleme mit auf die Probebühne trägt. Das erscheint dem Besucher etwas schroff, aber: «Die Leute stellen fest, dass ich mich nicht für ihre Behinderung interessiere, sondern sie als Künstler ernst nehme», sagt Elber. Und genau darum geht es, wenn sie selbstbewusst auf der Bühne stehen sollen.
Mittlerweile hat das Theater HORA zwei Dutzend Produktionen in Zürich sowie bei Gastspielen im In- und Ausland gezeigt. Dabei bricht es immer wieder mit nur scheinbar festen Rollenverteilungen. So etwa in seiner Version von John Steinbecks «Of Mice and Men», in der ein Behinderter den Nichtbehinderten spielte und umgekehrt.
Mit viel Einsatz, Ausdauer und Hartnäckigkeit gelang es dem Verein nach zehnjähriger Arbeit, neben der Anerkennung des Publikums auch jene des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) zu erhalten. Seit 2003 wird er als «HORA Kulturwerkstatt Züriwerk» finanziell unterstützt. Dies bedeutet, dass die Schauspieler – die meisten arbeiten in einer Werkstätte des «Züriwerk» – für die Theaterarbeit nicht mehr Ferien oder Freitage hergeben müssen, sondern bezahlt werden. Für die Gagen der nicht behinderten Mitarbeitenden, für Werbung und Saalmiete muss der Verein aufkommen, der somit weiterhin auf Sponsoren und Spenden angewiesen ist.
Inzwischen lässt Co-Regisseurin Nicole Tondeur (Foto oben) die zwei Hauptfiguren eine Szene immer und immer wieder spielen. «Hier kommt der grosse Zampano», sagt Gelsomina zum zehnten Mal, und die anderen Schauspieler, die auf der Zuschauertribüne sitzen, schauen konzentriert zu. Danach werden Auftritte mit unsichtbaren Geigen einzeln geübt. Spätestens jetzt erschliesst sich dem Zuschauer die Bedeutung einer Passage aus der Jubiläumsschrift: «Die geistig behinderten Künstlerinnen und Künstler im Theater HORA machen keine Behindertenkunst. Denn Geist und Phantasie lassen sich nicht behindern.» Die ersten Antworten auf die oben gestellten Fragen zum Theaterschaffen mit Behinderten zeichnen sich ab. Weitere werden folgen, wenn «Il sogno della vita» auf der Bühne zu sehen sein wird.
Informationen: www.hora.ch
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