«der arbeitsmarkt» 07/2014TEXT: Marc Siegel
Chefredaktorinnen

Frauen in Führung

Sie zu treffen, ist schwierig, gefragt und engagiert, wie sie sind: Frauen in publizistischen Führungspositionen. Drei Chefredaktorinnen haben es geschafft, jene Stellen zu besetzen, auf denen früher typischerweise Männer thronten. In der Medienbranche durchdringen Frauen vermehrt die «gläserne Decke».

In der Mitte des Raumes findet ein Dutzend Journalisten Halt an einem dunklen, ovalen Stehpult. Computer-Arbeitsplätze sind darum herum angeordnet, und am Kopfende des Raums flimmern Websites und Präsentationen über eine riesige Bildschirmwand. Es ist März 2010 im frisch eingeweihten Newsroom des «Blicks» in Zürich. Drei Westschweizer sind da, zwei Herren und eine junge Dame mit blonden Locken. Stolz tritt der «Blick»-Bildchef hinzu und erklärt ihnen das damals modernste Redaktionsbüro der Schweiz. Er spricht ständig mit dem älteren der beiden Herren, bis dieser ihn unterbricht und sagt: «Excusez-moi, Monsieur, c’est elle, la cheffe.» Er zeigt auf Sandra Jean, Chefredaktorin von «Le Matin».

Sandra Jean trägt weder Krawatten, noch raucht sie Zigarren. Aber sie ist journalistisch solid ausgebildet und erfahren auf traditionell männlichem Terrain. Jung und gewandt. Zusammen mit Larissa Bieler, seit Juli 2013 Chefredaktorin der Tageszeitung «Bündner Tagblatt», gehört sie in der Schweizer Medienlandschaft zu einem aufstrebenden Grüppchen einflussreicher Frauen mit Führungskompetenz: Christine Maier, seit November 2013 Chefredaktorin des «Sonntagsblicks» – Lis Borner, Chefredaktorin Radio SRF in Zürich – Ariane Dayer, Chefredaktorin des «Matin Dimanche» in Lausanne – Colette Gradwohl, bis Januar 2014 Chefredaktorin des «Landboten» in Winterthur.

Repräsentieren und Chancen ergreifen

«Frauen müssen bereit sein, Chancen wahrzunehmen. Ohne die Zweifel und übertriebenen Unsicherheiten, die man ihnen nachsagt», sagt Sandra Jean. Ihre Kollegin in Chur hat ebenfalls eine Herausforderung angenommen, die bis jetzt immer nur Männer gesetzteren Alters annahmen. «Als Chefredaktorin bin ich in meinem Heimatkanton Graubünden eine Figur, die vielen Erwartungen gerecht werden muss. In meiner neuen Position muss ich viele repräsentative Aufgaben wahrnehmen. Eine Frau an einen leitenden Posten in einem Medienunternehmen zu delegieren, ist auch ein strategischer und politischer Entscheid», sagt Larissa Bieler. Die Damen müssen aufmerksam sein, um den wichtigen Schachzug nicht zu verpassen.

Warum stossen Frauen dennoch so selten zur allerobersten Stufe vor? Als gäbe es zwischen ihnen und dem Olymp eine «gläserne Decke». Kurt W. Zimmermann, früher Vorgesetzter vieler talentierter Journalistinnen, schrieb letzthin in der «Weltwoche» eine Kolumne über Frauenquoten, für die er offenbar aufwendig recherchiert hatte: «Bei der ‹Schweizer Illustrierten› beträgt der Frauenanteil im Kader 42 Prozent, bei der ‹Annabelle› 38 Prozent, bei ‹10 vor 10› sind es 33 Prozent, bei der ‹Sonntagszeitung› und bei der ‹Tagesschau› sind es 27 Prozent, in der ‹Blick›-Gruppe 17 Prozent, bei der ‹NZZ› 13 Prozent und beim ‹Tages-Anzeiger› 4 Prozent.» Kurt W. Zimmermann kommt jedenfalls zum Schluss, für ihn seien Frauenquoten sinnvoll, damit ein struktureller Ansporn für die Medienbranche besteht, eine bessere Geschlechterdurchmischung in den Redaktionen und besonders in den Chefetagen zu erreichen. Zum Wohle der Beitragsvielfalt.

Mut zum Dranbleiben

Was machen diese erfolgreichen Frauen in Führungsrollen anders? Larissa Bieler überlegt sich ihre Antwort lange und zerbricht sich darüber beinahe den Kopf. «Ich fokussiere auf meine Karriere und meine Arbeit», stellt die Bündnerin fest. Es brauche Mut dazu und sei eine Frage des Typs, nicht des Geschlechts. Larissa Bieler denkt über ihren Antrieb nach und was sie so weit gebracht hat: «Ein inneres Feuer und die Motivation, auch länger an einer Geschichte dranzubleiben.» Bevor Larissa Bieler, 35, den Chefposten antrat, studierte sie in Zürich Germanistik, Wirtschaftswissenschaften und Politik und war anschliessend Dozentin und wissenschaftliche Projektmitarbeiterin am Deutschen Seminar. Seit 2004 schrieb und produzierte sie regelmässig für das «Bündner Tagblatt». Als Chefredaktorin versucht sie, noch Zeit zu finden, um an ihrer Dissertation über Sinneswahrnehmung und sprachlichen Ausdruck zu schreiben.

Ihre Westschweizer Kollegin Sandra Jean ist seit Februar 2014 Redaktionsdirektorin bei «Le Nouvelliste» in Sion. Sie war von 2010 bis Anfang 2014 Chefredaktorin der Boulevardzeitung «Le Matin». Zuvor war sie beim Westschweizer Radio und Fernsehen als Korrespondentin in Bern und als Journalistin und Produzentin in Lausanne. Seit Februar ist Sandra Jean damit beauftragt, einerseits die drei Zeitungstitel «La Gazette de Martigny», «Le Journal de Sierre» und das Hauptblatt in Sion mit den Wochenendausgaben, respektive den Magazinen, journalistisch auf Vordermann zu bringen. Andererseits erhielt sie vom Verleger Philippe Hersant die strategische Aufgabe, die Marke «Le Nouvelliste» bekannter zu machen mit typischen Marketingmassnahmen. Seien das vielfältigere Auftritte auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen wie Print, Online, Audio, Video oder Events und Sponsoring.

Frauenanteil dümpelt dahin

Also alles vorhanden: Motivation, Engagement, Ausbildung und Talent. Sandra Jean und Larissa Bieler sind Persönlichkeiten, die sich kraft eigener Ausprägung an ihren Arbeitsplätzen behaupten. Sie setzen ihre innere Energie in ihr persönliches Weiterkommen, aber auch in erfolgreiche Projekte an der Arbeit um. Trotzdem: Die aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik von 2012 bestätigen das Dahindümpeln des Anteils von Schweizer Frauen in Führungspositionen: rund 33 Prozent. Seit 2009 unverändert. Frauen mit Vorgesetztenfunktion 35,1 Prozent, Frauen in Unternehmensleitungen 27,9 Prozent.

Ursula Bolli-Schaffner, 64, Projektleiterin Mentoring «Frauen für Führungspositionen» an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), zu den aktuellen Frauenquoten in den Schweizer Führungsetagen: «Im Vergleich zum Ausland, beispielsweise Frankreich oder Deutschland, stehen wir in der Schweiz schlechter da, was die soziokulturellen Bedingungen für Frauenkarrieren betrifft.» Allerdings ist die Branche massgebend. Ein zusätzlicher Hinderungsgrund für die Berufslaufbahn von Frauen in der Medienbranche seien die Arbeitsbedingungen: «Die Arbeitszeiten im Tagesjournalismus sind für Frauen sehr schwierig», meint Ursula Bolli-Schaffner und bezieht sich damit auf die Vereinbarkeit des zeitintensiven Journalistenberufs mit einem traditionellen Familienleben, sprich: Kindern.

Nur bei Frauenzeitschriften wie «Annabelle» sind die Frauen an der Macht. «Auf unserer Redaktion arbeiten sicher 85 Prozent Frauen», bestätigt Silvia Binggeli. Sie trat 1999 nach dem Abschluss der Ringier-Journalistenschule ins Reportage-Ressort der «Annabelle» ein. 2005 wechselte die diplomierte Übersetzerin ins Lifestyle-Ressort. 2011 wurde sie zur Leiterin ernannt, ein Jahr später übernahm sie die Stellvertretung der Chefredaktorin und damit verschiedene repräsentative und konzeptionelle Aufgaben, seit acht Monaten als Chefredaktorin. Seit ihrer Gründung 1938 war die «Annabelle» ein Hort fraulicher Betätigung und Exzellenz: Mabel Zuppinger erfand die Frauenzeitschrift und war ihre erste Chefredaktorin. Eva Maria Borer, Suzanne Speich oder Lisa Feldmann folgten auf diesem Posten. In ihren 76 Jahren des Bestehens erlebte die Frauenzeitschrift auch den einen oder anderen Chefredaktor, und sie schienen alle ausgeprägt gerne mit Frauen arbeiten zu können und zu wollen. Silvia Binggeli ist überzeugt, dass sie auch eine Zeitschrift leiten könnte, die stark von männlichen Mitarbeitern beeinflusst ist. «Aber als Chefredaktorin würde ich meinen persönlichen, sicher weiblichen Führungsstil einbringen», fügt sie an.

Journalismus hat etwas Weibliches

Doch Frauen fördern nicht automatisch Frauen. Ursula Bolli-Schaffner relativiert Hoffnungen auf einen Schneeballeffekt. Sie meint: «Frauen sind noch immer zu schwach vernetzt. Bei Bewerberinnen für hohe Führungspositionen fehlt oft der ‹same as me›-Effekt, welcher in der Männerwelt gut funktioniert.» Das bedeutet, dass die zahlreichen Männer, die eine Position vergleichbarer Macht bekleiden, während des Auswahlverfahrens für einen neuen Kollegen quasi sicher sind, was sie erhalten, wenn sie den Posten mit einem Mann besetzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn bereits kennen auf Grund eines Kontaktes aus ihrem Netzwerk, ist sehr hoch.

«Mir ist es unwichtig, ob ich mit einem Mann oder einer Frau zusammenarbeite, wichtiger ist die fachliche Qualifikation der Person», sagt Sandra Jean. Ihre Kollegin sieht das gleich: «Ich arbeite gerne mit guten Journalisten zusammen», sagt Larissa Bieler. Zugleich bezeichnet sie sich als Verfechterin von Frauenquoten und besteht darauf, dass das Verhältnis Frauen/Männer am Arbeitsplatz ausgeglichen ist. «Bei den festangestellten Mitarbeitern auf unserer Redaktion ist der Frauenanteil sicher über 50 Prozent», sagt Larissa Bieler. Und: «Der Journalismus hat ja an sich eher etwas Weibliches – nur in den Chefetagen ist er männlich.» Dieser männliche Habitus in der Führungsriege sei in der Medienbranche nicht anders als sonst in Wirtschaft und Politik.

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