«der arbeitsmarkt» 12/2005

Fatales Geplauder

Arbeitsplatz Lärm macht krank und verleitet zu Fehlern. Das betrifft auch die Beschäftigten in Grossraumbüros.

Pressluftbohrer, Kreissägen, Düsenjets im Tiefflug, die Stereoanlage des Nachbarn, Klingeltöne, das Bimmeln von Kuhglocken – Lärm, laut Definition ein «unerwünschter, störender Schall», kann viele Ursachen haben. Was als störend wahrgenommen wird, hängt oft von der Persönlichkeitsstruktur und der Empfindlichkeit des Einzelnen und seinen subjektiven Vorlieben ab. Dennoch lassen sich bei gewissen Lärmarten  Übereinstimmungen in der Wahrnehmung von Lärm feststellen. So wird etwa Verkehrs-, Flug- oder Baulärm von den meisten Leuten negativ bewertet, während bei Musik die Meinungen auseinander gehen.
Lärm ist ein emotionales Thema, das zu heftigen privaten oder öffentlichen Auseinandersetzungen führen kann. Am Arbeitsplatz schenkt man dem Problem jedoch nur wenig Gehör. Lärm bei der Arbeit wird vielerorts noch immer als notwendiges Übel betrachtet, das in Kauf genommen werden muss. Dabei sind die Fakten alarmierend. Fast 30 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa sind während mehr als einem Viertel ihrer Arbeitszeit zu hohen Lärmpegeln ausgesetzt. Die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen sind enorm. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind durch Lärm verursachte Gehörschäden «die am weitesten verbreitete unheilbare Berufskrankheit».

600 berufsbedingte Lärmschwerhörige pro Jahr

Bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt Suva schätzt man, dass in der Schweiz rund 200000 Beschäftigte an ihrem Arbeitsplatz einer das Gehör gefährdenden Lärmbelastung ausgesetzt sind. Lärmschwerhörigkeit ist die dritthäufigste Berufskrankheit in der Schweiz und verursacht Kosten von rund acht Millionen Franken pro Jahr. Dennoch kann die Geschichte der schweizerischen Lärmprophylaxe als Erfolgsgeschichte gewertet werden. Die jährlich über 45000 Gehöruntersuchungen der Suva-Audiomobile zeigen, dass sich die Zahl der Gehörgeschädigten in den letzten 30 Jahren von 35 auf 11 Prozent verringert hat. Dies ist vor allem dem Einsatz leiserer Maschinen und dem vermehrten Gebrauch von Gehörschutz zu verdanken.
Der von der Suva festgesetzte Grenzwert für das Gehör gefährdenden Lärm liegt bei 85 Dezibel (dB). Zur Veranschaulichung: Leises Flüstern verursacht einen Geräuschpegel von 30 dB, ein normales Gespräch
erzeugt etwa 60 dB und lautes Schreien 80 dB. Von zu hohen Lärmpegeln sind nicht nur die verarbeitende Industrie oder die Bauindustrie betroffen. Auch im Orchestergraben, in Kindergärten oder im Nationalratssaal wurden durchschnittliche Werte von über 85 dB gemessen.
Jedes Jahr werden von der Suva rund 600 Fälle von berufsbedingter Lärmschwerhörigkeit anerkannt. Damit wird aber nur ein Teil der gesundheitlichen Folgen von Lärm erfasst. Schwieriger zu beziffern ist die Zahl der Unfälle, die durch Lärm – beispielsweise lärmbedingten Stress oder die Behinderung der sprachlichen Verständigung – mit verursacht werden. Ganz zu schweigen von den so genannten «extraauralen Lärmwirkungen», das heisst von Wirkungen, die nicht das Gehör, sondern das vegetative Nervensystem betreffen. Bereits bei einer Lärmbelastung, die wesentlich tiefer liegt als der vorgeschriebene Grenzwert für das Gehör gefährdenden Lärm, können Symptome wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Aggressivität, Depressionen und Magen-Darm-Probleme auftreten.

Die Gespräche der andern lenken am meisten ab

Nach Angaben der Suva fühlt sich jeder Fünfte bei der Arbeit von Lärm gestört. Als Stressfaktor betrifft Lärm alle Wirtschaftsbereiche und trägt zu kostspieligen Fehlzeiten und einer Reduktion der Arbeitsleistung und Arbeitsmotivation bei. So vernimmt man Klagen über Lärm am Arbeitsplatz auch von Angestellten, die in Mehrpersonen- und Grossraumbüros oder Call-Centers arbeiten. Gemäss Umfragen fühlt sich mehr als ein Drittel aller Büroangestellten bei der Arbeit durch Lärm gestört.
Wer selbst einmal das Büro mit anderen Menschen geteilt hat, kennt das Problem.
Die Kollegin, die auf der Computertastatur trommelt, die penetrant langen und lauten Telefongespräche des Tischnachbarn, das ständige Hin-und-her-Laufen, insbesondere das Klappern von Pfennigabsätzen und
Türeknallen – all dies wirkt sich negativ auf die Konzentrationsfähigkeit und Arbeitsleistung aus. Laut einer Studie der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz mindert Lärm die Leistung im Büro um bis zu 30 Prozent.
Auch technischer Lärm von Bürogeräten, Lüftungsanlagen oder Lärm von aussen kann die Leistung und das Arbeitsklima im Büro beeinträchtigen. Fragt man bei Betroffenen nach, welche Geräusche am meisten störten, erhält man fast immer die gleiche Antwort. Es sind die Gespräche von Kollegen und Kolleginnen, die am stärksten von den eigenen Aufgaben ablenken. Diese Einschätzungen werden durch wissenschaftliche
Studien bestätigt. Laut Brigitta Danuser, Professorin für Arbeitsmedizin am Institut Universitaire Romand de Santé au Travail (IST) der Universität Lausanne, kann anhand von Laboruntersuchungen gezeigt werden, dass Gespräche anderer zur Erhöhung der Fehlerquote von 10 bis 40 Prozent führen. Dieser Effekt trete vor allem bei komplexeren Aufgabestellungen auf, erklärt Danuser. Insbesondere Aufgaben, die das Kurzzeitgedächtnis beanspruchten, würden gestört. Beispiele: Texte zu  verstehen oder zu verfassen, ein Budget abzuschätzen oder eine Mathematikaufgabe zu lösen. Tritt während einer solchen Aufgabe ein sprachliches Geräusch auf, wird unsere Aufmerksamkeit von der Aufgabe zum Geräusch hin abgelenkt. Dieser Ablenkungseffekt ist unabhängig von der Intensität des Geräuschs, behauptet Danuser. Selbst leise Gespräche mit einem Schallpegel von 47 dB bewirkten eine deutlich höhere Fehlerquote, die sich nur unwesentlich von derjenigen eines lauten Gesprächs unterscheide.
Dasselbe gelte für den Inhalt eines Gesprächs oder die Sprache, in der es geführt werde. Auch ein Gesprächsthema, das uns nicht sonderlich interessiere, oder das Sprechen einer Sprache, die wir nicht verstünden, lenke ab.

Ohne Toleranz geht letztendlich nichts

Der Grund für die Ablenkung liege in der Variabilität der Sprache, erklärt Danuser: «Je grösser die  Verschiedenheit zwischen abfolgenden Höreinheiten, desto grösser die Ablenkung.» Die Verarbeitung eines sprachlichen Geräuschs benötigt die gleichen Prozesse im Gehirn wie das Lösen einer komplexen Aufgabe. Daher kommt es im Kurzzeitgedächtnis zu einem «Engpass», der die Ablenkung bewirkt. «Wir sind  programmiert, dem aktuellen sprachlichen Geräusch Priorität einzuräumen und die eigenen Aufgaben zu vernachlässigen», so Danuser. Vermutlich sei dies deshalb der Fall, weil das Einanderverstehen für uns Menschen eine so grosse Bedeutung besitze. Obwohl die Ablenkung teilweise gar nicht bewusst wahrgenommen werde, verursache sie Unzufriedenheit und Stress. Man habe das Gefühl, dass die Arbeit nicht «rund gelaufen» sei, und erhalte so ein «negatives Feedback» von der eigenen Leistung.
Was lässt sich dagegen tun? Gespräche am Arbeitsplatz sind unvermeidlich, auch die Verwendung von Ohrenschützern ist für den Grossteil der Büroangestellten keine akzeptable Alternative. Wer für mehr Ruhe im Büro sorgen will, muss bei der architektonischen und akustischen Gestaltung des Arbeitsplatzes ansetzen. Nischenbildung und Dämmwände können zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen. Künstlich erzeugtes Rauschen vermag die Variation zwischen Tönen abzudämpfen. Gute Erfahrungen hat man auch mit dem Einsatz schallabsorbierender Materialien (Unterdecken, Schallschirme) gemacht. Aber letztendlich geht es nicht ohne Toleranz. Und die beginnt mit der Erkenntnis, dass es stets der Lärm des anderen ist, der nervt.
Oder wie der Schriftsteller Kurt Tucholsky schrieb: «Der eigene Hund macht keinen Lärm. Er bellt nur.»

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