«der arbeitsmarkt» 06/2005

Exoten in einer Frauendomäne

Männliche Kleinkindererzieher sind noch immer rar. Obwohl am Arbeitsplatz mittlerweile geschätzt, haben sie nach wie vor mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen.

Nicht im Traum wäre es dem 31-jährigen Marc Müller in den Sinn gekommen, Kleinkindererzieher zu werden. Im Gegenteil, er machte eine Lehre als Lastwagenmechaniker. Doch es befriedigte ihn nicht, er langweilte sich. Im letzten Lehrjahr kam die Frau eines Chauffeurs in die Werkstatt – mit ihrem Baby. Sie fragte Marc Müller, ob er kurz ihr Kind halten könne.«Ich hielt plötzlich dieses kleine Ding in den Armen – keine Ahnung warum, aber das war die Initialzündung.»
Er suchte und fand ein Praktikum in einer Kinderkrippe und wusste bald: «Das ist es!» 1996 begann er die dreijährige Ausbildung als Kleinkindererzieher an der Fachschule für familienergänzende Kleinkindererziehung (FFK).
Der Anteil der männlichen Kleinkindererzieher ist verschwindend gering. Seit der Gründung der Schule 1993 haben 15 junge Männer die Ausbildung absolviert – gegenüber rund 1050 Frauen. Nicht anders sieht es an der Berufsschule für Kleinkindererziehung in Zürich (BKE) aus. Am nächsten Lehrgang im August 2005 nimmt nebst 179 angehenden Kleinkindererzieherinnen genau ein Mann teil.
«Bist du den ganzen Tag am Spielen? Ist ja voll locker, der Job!» Marc Müller verdreht die Augen, wenn er an die ersten Reaktionen seiner Bekannten denkt. Dass er am Ende des Tages oftmals todmüde ins Bett sinkt, ist für viele nicht nachvollziehbar.
Was genau machen Kleinkindererzieher? In einer Kindertagesstätte, einem Kinderheim oder einer ähnlichen Institution betreuen sie eine Kindergruppe von vorschulpflichtigen Kindern – meist ab drei Monaten – bis zur Kindergartenreife. «Der Kleinkindererzieher fördert die soziale Entwicklung der ihm anvertrauten Kinder und arbeitet dabei eng mit den Eltern zusammen», heisst es in einem Leitbild für angehende Kleinkindererzieher. Dies ist effektiv das Herausfordernde an meinem Job», sagt Marc Müller. «Ich versuche immer, mit den Eltern am gleichen Strick zu ziehen.» Bei Kindern aus schwierigen familiären Verhältnissen sei dies jedoch nur schwer möglich. Eine Mutter forderte ihn beispielsweise auf, strenger mit ihrem Sohn zu sein – und dies nur, weil der Bub Mühe hatte, rechtzeitig aufs WC zu gehen und weil er ständig am Weinen war. Das sind die Momente, in denen sich Müller beherrschen muss. Er versucht dann, der Mutter Gründe aufzuzeigen, wieso sich ihr Kind vielleicht so auffällig verhält.

Mütter reagieren positiv auf männliche Erzieher

Neben den erzieherischen und pflegerischen Aufgaben erledigen Kleinkindererzieher auch anfallende Hausarbeiten wie Aufräumen, Putzen, Kochen oder Einkaufen. «Es gibt Abende, da gehe ich auf dem Zahnfleisch», meint Pascal Petermann. Der 32-Jährige arbeitet in einer Kindertagesstätte des Gemeinnützigen Frauenvereins Zürich (GFZ). Er ist knapp einen Meter neunzig gross und hat eine kräftige Statur. Der einjährige Junge, den er hält, verschwindet förmlich in seinen Armen. Es ist ein schöner Nachmittag. Auf dem Spielplatz der Tagesstätte tummeln sich etwa 20 Kleinkinder – der Lärmpegel ist ohrenbetäubend hoch. War es seine Berufung, einen derart untypischen Männerberuf zu wählen? Petermann winkt ab. Zuerst habe er mit dem KV begonnen, gefallen habe ihm das aber überhaupt nicht. «Es war mir einfach zu spiessig, ich wollte etwas machen, was irgendwie Sinn macht.» Eine Freundin brachte ihn auf die Idee, es mit einem Praktikum als Kleinkindererzieher zu versuchen. Bald darauf fand er eine Lehrstelle. In seiner Klasse waren er und ein Kollege die einzigen männlichen Schüler neben 25 jungen Frauen. Auch an seinem ersten Arbeitsort, einer Kindertagesstätte, war er zusammen mit einem Kollegen der einzige Mann.
Allein unter Frauen – das war für ihn kein Problem. Im Gegenteil, er sei sehr schnell akzeptiert worden. Der Exotenstatus bringe nicht nur Nachteile mit sich. «So einen hätte ich zu Hause auch gerne», meinte eine Mutter, als sie ihr Kind in der Krippe abholte. Pascal Petermann war gerade beim Staubsaugen. Bei manchen Frauen habe er durch seinen Beruf einen Bonus. «Ich wirke nicht wie ein Softie und halte trotzdem einen Staubsauger in der Hand», resümiert er. Auch Marc Müller scheint sein berufliches Exotendasein nicht zu stören. «Klar, man ist auch Hahn im Korb», meint er lächelnd. Generell seien die Reaktionen der Mütter, deren Kinder er betreue, sehr positiv. «Die schätzen es einfach, dass ihr Kind nicht ausschliesslich von Frauen erzogen wird.»
Anke von Gierke, pädagogische Leiterin der Kinderkrippe Pilgerbrunnen in Zürich, sagt: «Ich klatsche in die Hände, wenn ich die Bewerbung eines Mannes in den Händen halte.» Gerade für die Kinder alleinerziehender Mütter, die ohne Vater aufwachsen, sei der Erzieher das erste männliche Wesen, mit dem sie direkten Kontakt hätten. Eine männliche Vorbildfunktion sei extrem wichtig und ermögliche den Kindern, sich in ihrer eigenen Geschlechterrolle zu orientieren. Sie habe sehr gute Erfahrungen mit männlichen Kleinkindererziehern gemacht.
Höchstens der hauswirtschaftliche Teil der Arbeit sei bei den meisten – zumindest zu Beginn – verbesserungswürdig gewesen. «Das mussten sie zuerst lernen.»

Und immer schwelt die Angst vor sexuellen Übergriffen

Die Akzeptanz der Männer innerhalb der weiblichen Teams sei absolut kein Problem, sagt Anke von Gierke. Im Gegenteil schätzten es viele Frauen, mit männlichen Kollegen zusammenzuarbeiten. Zu ihnen gehör Sonja Zünd. Sie arbeitet seit mehreren Jahren im «Pilgerbrunnen» als Kleinkindererzieherin und fand es schon in der Schule lässig, dass auch Männer in ihrer Klasse waren. Bei den Kindern beobachtet sie, dass sie anders auf ihre männlichen Kollegen zugehen. «Es sind banale Dinge, aber nur, dass ein Mann Haare im Gesicht hat, erstaunt die Kleinen». Sie spielen auch ganz anders, sie balgen und raufen sich mit ihnen. Ansonsten sieht sie keine grossen Unterschiede. Ein Mann könne genauso lieb und zärtlich mit einem Kleinkind umgehen wie eine Frau, hält sie fest.
Männer sind in diesem Job genauso gut wie Frauen. Aber dies scheint im allgemeinen Bewusstsein noch nicht bei allen verankert zu sein. Anke von Gierke hat die Erfahrung gemacht, dass die Gesellschaft noch lange nicht so weit ist, männliche Kleinkindererzieher als etwas ganz Normales zu betrachten. Manche Eltern zum Beispiel reagieren konsterniert. «Was ist denn das für ein Mann?», rief ein Vater aus, als er erfuhr, dass nicht nur Frauen sein Kind betreuen werden. Die Angst vor sexuellen Übergriffen, so Anke von Gierke, sei eine Realität.
Sie ist auch nachvollziehbar. Der «Pilgerbrunnen» hat deshalb ein Präventionskonzept entwickelt. So achtet man darauf, ob jemand sehr oft die Stelle wechselt, und von jedem Bewerber wird der Auszug aus dem Strafregister verlangt. Im Bewerbungsgespräch spricht man Stellensuchende zudem konkret auf diese Problematik an. Der 24-jährige Giusi Lizzano, Arbeitskollege von Pascal Petermann, unterdrückt nur mühsam seinen Ärger: «Ich habe mich mal in einer Krippe in Bern beworben. Die haben mir gesagt, sie könnten es sich grundsätzlich vorstellen, Kinder wickeln käme jedoch nicht in Frage.» Klar habe er die Vorbehalte irgendwie nachvollziehen können. «Man liest und hört ja ständig von sexuellen Übergriffen irgendwelcher Männer. Doch wenn man mir von Anfang an nicht vertraut, macht der Job ja überhaupt keinen Sinn.»
Auch Marc Müller weiss hierüber etwas zu berichten. Auf eine Bewerbung hin erhielt er einen negativen Bescheid. Seine beruflichen Qualifikationen seien einwandfrei, hiess es. Aber ein Mann komme «aus Prinzip» nicht in Frage, das bringe «Unruhe» ins Team. «Ich habe dann nur gefragt, ob ich mich umbauen lassen soll», erzählt er gelassen und betont, dass solche Reaktionen absolute Ausnahmen seien.

Tiefe Löhne und fehlende Aufstiegsmöglichkeiten

Pascal Petermann wiederum erinnert sich an seine ohnmächtige Wut, als vor ein paar Jahren im Kanton Zürich der Fall eines sexuellen Übergriffs eines Erziehers öffentlich wurde. Seit diesem Vorfall sei er in gewissen Situationen übervorsichtig. «Ich habe eine Schere im Kopf.» In der alltäglichen Arbeit sei das kein Thema, aber gedanklich schwirre es doch latent herum. Deshalb kündigt er bestimmte Arbeitsgänge wie das Wickeln laut an. So weiss jeder vom anderen, was dieser gerade macht. «Es ist auch ein Schutz für mich», hält Petermann fest.
Doch das Misstrauen und die mangelnde Akzeptanz sind nicht der einzige Grund für das Abseitsstehen der Männer. Kleinkinderpädagogik hat gesellschaftlich einen geringen Stellenwert. Das zeigt sich bei den
relativ tiefen Löhnen und den fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten. So erstaunt es auch nicht, dass Marc Müller, Giusi Lizzano und Pascal Petermann eines gemein haben: keiner von ihnen kann sich vorstellen, für ewig Kleinkinder zu wickeln.

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