«der arbeitsmarkt» 02/2006

«Es fehlt am notwendigen Feuer»

Im Gespräch mit dem «arbeitsmarkt» kritisiert Unternehmer und FDP-Nationalrat Otto Ineichen die Arbeit der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren. Mit der ARGE REAP unterstützt er selbst ein Modell, bei dem private Vermittler Ausgesteuerte ins Erwerbsleben zurückführen – sofern diese flexibel sind.

Otto Ineichen wartet in seiner schwarzen Limousine beim Bahnhof Sursee. Der 64-jährige Luzerner FDP-Nationalrat chauffiert seine Besucher persönlich ins Industriegebiet. Dort befindet sich der Hauptsitz seines Lebenswerks, der Billigkette Otto’s mit 1240 Angestellten und 80 Filialen. Seit September 2001 hat Ineichen zwar die operative Leitung an seinen Sohn Mark abgetreten. Als Verwaltungsratspräsident und Inhaber ist der Betriebswirt dennoch im Betrieb präsent. In der Teppichetage jedenfalls ist auf Schritt und Tritt klar, wer hier das Sagen hat.
Der rote Spannteppich ist mit dem Logo der Kette durchsetzt. In seinem geräumigen, hellen Büro herrscht ein geordnetes Chaos. Auf dem riesigen Arbeitstisch liegen Akten verstreut. Eine Bücherwand wacht über
Ineichens Arbeitsplatz, eine Musikanlage steht bei der Sitzgruppe. Hier sitzt Ineichen, wenn er sich entspannen will. Das ist im Moment nicht angesagt. Bevor der Unternehmer die Interviewfragen beantwortet, drängt es ihn, ein wenig auszuholen. Es folgt ein Monolog über den Werkplatz Schweiz. Funktioniere dieser, sei auch genügend Geld für Soziales vorhanden. Er sieht jedoch die Wettbewerbsfähigkeit bedroht und fordert von den Arbeitskräften mehr Flexibilität.

«der arbeitsmarkt»: Herr Ineichen, im Sommer kündigten Sie an, mit einer Motion einen Richtungswechsel bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) erwirken zu wollen. Diese sollten wie private Vermittlungsfirmen arbeiten oder zumindest enger mit diesen zusammenarbeiten. Aus der Motion wurde eine Interpellation, ein Vorstoss mit weniger Gewicht. Ist die Effizienzsteigerung in der Arbeitsvermittlung, wie die Interpellation hiess, nicht mehr so dringend?
Otto Ineichen: Eine Interpellation wird schneller beantwortet. Ich will vorwärts machen.

Der Bundesrat schrieb in seiner Antwort, dass sich die Arbeit der RAV seit 1998 verbessert hat.

Diese Meinung teile ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Verbesserung statistisch herbeigeredet wurde. Insbesondere die Beratung seitens der RAV ist nicht optimal. So getraut sich der RAV-Mitarbeiter selten, älteren Arbeitslosen oder ehemaligen Kaderangestellten deren Situation klar aufzuzeigen. Niemand sagt ihnen zum Beispiel, dass sie im angestammten Beruf kaum gefragt sind, und wenn, dann zu schlechteren Konditionen. Stattdessen werden von ihnen routinemässig wöchentliche Bewerbungen verlangt, die von den Personalverantwortlichen nicht einmal beachtet werden und auf einem Haufen landen. Hier erwarte ich seitens der RAV ein effizienteres Vorgehen, nach dem Beispiel privater Dienstleister.

Gilt Ihre Kritik allen RAV?
Nein. Im Kanton Nidwalden etwa wird jeder Arbeitslose von den RAV-Beratern nach seinen Fähigkeiten analysiert und gezielt wieder in die Arbeitswelt zurückgeführt.
Gelingt dies nach sechs Monaten nicht, nimmt sich ein Team des Falls an. Dies mag der Grund sein, dass es dort fast keine Ausgesteuerten gibt.

Sie behaupten auch, dass die RAV-Beratenden von der Privatwirtschaft nicht ernst genommen werden.

Leider trifft dies zu. RAV-Mitarbeiter leiten Dossiers von Arbeitslosen zu spät an die Firmen weiter. Oder sie entsprechen den gestellten Anforderungen nicht. Es fehlt am notwendigen Feuer dieser Berater. Es gibt aber auch RAV, die eng mit den Unternehmen zusammenarbeiten und von sich aus versuchen, Personen zu vermitteln. So etwa das RAV im Zürcher Oberland. Das organisiert zum Beispiel Unternehmer-Apéros. Auch in Luzern hat offenbar ein Gesinnungswandel stattgefunden. Ich habe mich an einem Start-up-Unternehmen beteiligt. Als wir Personal rekrutierten, hat uns das RAV innert 24 Stunden ausgesuchte Dossiers zugestellt. In Bern fehlt jedoch die Bereitschaft, solche Ideen schweizweit umzusetzen. Würden die RAV-Berater etwa zu einem Drittel auf Provision arbeiten, wäre das Engagement wesentlich grösser. Zudem könnten mehr Berater angestellt werden.

Es verteuert die RAV, wenn die Beratenden erfolgreich sind.

Im Gegenteil. Die Gesamtkosten würden gesenkt, weil Arbeitslose schneller integriert werden können.

Sie behaupten, RAV-Beratende würden Arbeitslose kurz vor deren Aussteuerung empfehlen, sich bei der IV zu melden.

Leider stimmt dies und wird auch seitens vieler Gemeinden beklagt. Seitdem ich dies in der Öffentlichkeit publik machte, ist man sensibler geworden.

Sind gewisse RAV zu gross?
Sie sind nicht entsprechend strukturiert. Viel entscheidender ist, dass die RAV von Persönlichkeiten geführt werden, die unternehmerisch ausgebildet sind und deren oberstes Ziel ist, Arbeitslose schnellstmöglich, wenn auch zu schlechteren Konditionen, wieder einzugliedern. In diesem Bereich ist dringender Handlungsbedarf angesagt. Hier haben nur die besten Leute Platz.

Sie engagieren sich finanziell und ideell bei der Arbeitsgemeinschaft zur Reintegration von ausgesteuerten Personen (ARGE REAP), einem privaten Projekt zweier Unternehmensberater, die gegen Provision Ausgesteuerten Arbeit vermitteln. Immer mehr Gemeinden interessieren sich dafür. Auch dort könnte sich die Routine einschleichen.

Ziel ist beim Ausbau des Modells auf andere Kantone, dies im Franchisesystem zu tun. Unternehmerblut ist Voraussetzung. Die Franchiselizenznehmer verdienen nur, wenn sie erfolgreich vermitteln. Deshalb verstehe ich nicht, dass das Staatssekretariat für Wirtschaft nicht mit uns oder privaten Stellenvermittlern zusammenarbeiten will. Nicht einmal zum Test. Man ist nicht bereit, ein Pilotprojekt zu prüfen, geschweige denn, es finanziell zu unterstützen, wenn dabei noch Geld verdient wird. Es erstaunt deshalb kaum, wenn mit dieser Mentalität Millionen Franken verschwendet werden. Gerade mit dem Projekt ARGE REAP möchten wir aufzeigen, dass der Staat an seine Grenzen angelangt ist.

Ist die ARGE REAP nicht einfach an den «guten Risiken», den einfach vermittelbaren Personen, interessiert?

Der Ausdruck «gute Risiken» ist fehl am Platz. Die RAV müssen sich grosse Vorwürfe machen, dass es ihnen nicht gelingt, Personen zu vermitteln, für welche die ARGE REAP innert Wochen wieder einen Job zu normalen Arbeitsbedingungen findet. Dies zeigt geradezu die Ineffizienz und teilweise Passivität der RAV auf. Dies zeigt auch, dass sich im heutigen RAV-System Routine eingeschlichen hat und Kreativität – immer mit Ausnahmen – kaum Platz hat.

Die Gemeinden zahlen 10000 Franken pro vermittelte Person an die ARGE REAP.

Die Gemeinden sparen damit enorme Beträge, im ersten Jahr der Vermittlung mindestens die Hälfte der Sozialleistungen. Hätte die ARGE REAP Angestellte und würde nicht von Unternehmern geführt, die ihr Salär selber verdienen müssen, wäre der Erfolg nicht da.

Wann wird die Provision ausbezahlt?

Die erste Rate nach drei, die letzte nach sechs Monaten. Wichtig ist, dass die Ausgesteuerten Betreuung bekommen. Wir versuchen, den Menschen die Freude und den Sinn an der Arbeit zu vermitteln. Wir bringen ihnen bei, dass das Leben lebenswerter ist, wenn sie wieder arbeiten, statt Almosen bei der Gemeinde abholen. Wir integrieren sie zu normalen Löhnen. Das sind keine 1000-Franken-Jobs.

Werden Firmen, die Ausgesteuerte einstellen, von der Gemeinde bei der Auftragsvergabe bevorzugt?
Dies kann ein Grund sein, ist jedoch nebensächlich.

Sie sind bei Otto’s nicht mehr operativ tätig. Intensivieren Sie nun Ihr politisches Engagement?

In der Politik bin ich vor allem damit beschäftigt, noch Schlimmeres abzuwenden, was leider frustriert. Deshalb habe ich mich bei drei Start-up-Unternehmen aus dem Bereich Biometrie mit Risikokapital beteiligt und stelle ihnen meine Erfahrung als Unternehmer zur Verfügung. Das spornt an, ich kann etwas bewegen.
 
Es gab in Ihrer Laufbahn auch Tiefpunkte. 1977 erlitten Sie mit Ihrer Fleischwarenfabrik Schiffbruch.

Es war mein Fehler. Ich musste das Unternehmen für einen Franken verkaufen. Wir haben im Marketing Fehler gemacht und hatten zu wenig Fachkenntnis.

Sie mussten selber Angestellte entlassen und wissen also, dass Arbeitslose oft nichts für ihre Situation können.

Dies trifft leider zu. Es hängt mit der Globalisierung, aber noch mehr mit dem Ungleichgewicht zwischen der Real- und der Finanzwirtschaft zusammen. Für mich steht der Werk- und Arbeitsplatz Schweiz im Vordergrund. Dieser wird durch KMU wesentlich besser vertreten als durch börsenkotierte Unternehmen. Leider haben bei den Letzteren vielfach die Kurzfristigkeit, die Geldgier überhand genommen, was zu unnötigen
Arbeitsplatzverlusten geführt hat. Ich bin deshalb ein Gegner von börsenkotierten Unternehmen und engagiere mich für eine nachhaltigere Finanzierung von Familienunternehmen. Die Finanzmärkte haben sich  verselbständigt. Es geht nur um möglichst hohe Kapitalgewinne. Ethische Verantwortung und volkswirtschaftliche Interessen treten in den Hintergrund. Firmen werden unnötig und um des Kapitalgewinns willen verlegt oder zerlegt. So können Familienunternehmen Krisen länger überbrücken, während börsenkotierte Unternehmen sofort zum Handeln gezwungen werden.

In der FDP stossen Sie niemanden vor den Kopf mit solchen Ansichten?

Das glaube ich nicht. Zudem vertreten Unternehmerpersönlichkeiten wie Nicolas Hayek dieselbe Meinung. Über 99,7 Prozent der Schweizer Unternehmen sind KMU. An der Börse sind lediglich 0,1 Prozent kotiert. Leider meint man eben nur diese, wenn man von der Wirtschaft spricht. Hier ist Aufklärungsarbeit dringend notwendig. Dafür engagiert sich auch die FDP.

Zurück zu Ihrem Schiffbruch: Wie haben Sie sich wieder aufgefangen?

Ich ging drei Wochen in ein Zisterzienserkloster, um mein Selbstwertgefühl aufzupäppeln. Dann habe ich als Liquidator gearbeitet. Dabei bin ich auf die Idee von Otto’s gekommen. Diese Erfahrung hat mir viel gebracht. Man kann noch so unten sein: Wer will, schafft es immer wieder nach oben.

Sie wollen damit sagen: Wer arbeiten will, findet auch Arbeit?

Das mag hart ausgedrückt sein, birgt aber viel Wahrheit. Die Chancen, einen Job zu finden, sind intakter, wenn jemand den entsprechenden Arbeitswillen demonstriert. Wir konnten einem Ausgesteuerten, der sein Leben lang im Büro gearbeitet hatte, einen Job im Tiefkühllager der Migros vermitteln. Das ist kein Zuckerschlecken. Ich bin aber icher, wenn eine Bürostelle bei der Migros frei wird, bekommt er seine Chance. Diese Botschaft müssten auch die RAV-Berater vermitteln. Wären sie etwa mit einer Provision am Vermittlungserfolg beteiligt, würden sie die Arbeitslosen engagierter begleiten. Die Beratertätigkeit würde ehrlicher. Letztlich ist es doch demütigend, wenn eine bestimmte Anzahl Bewerbungen pro Monat erfüllt werden muss. Vielleicht müssen Arbeitslose auch in Kauf nehmen, zur Probe eine bis zwei Wochen gratis zu arbeiten.

Sie sind ein Patron alter Schule mit sozialer Verantwortung?

Es lohnt sich für jedes Unternehmen, nachhaltig zu denken und um seine Mitarbeiter besorgt zu sein. Damit steigert sich deren Leistung und Motivation. Auch für Schwächere oder Behinderte muss es in
Unternehmen Platz haben. Ihnen jedoch Mitleid entgegenzubringen, ist falsch. Sie
schätzen es wie jeder andere auch, wenn sie gefordert werden.

Sie unterstützen die Köhlerei am Napf. Eine Art Heimatschutz?

Im Gegenteil. Die Köhlerei ist heute für 15 Bergbauern ein entscheidender Nebenverdienst. Der Region hat sie volkswirtschaftlich einiges gebracht und sie ist zu einer Touristenattraktion geworden. Mir persönlich gibt sie eine innere Befriedigung und viel Freude.

Nach dem Gespräch geleitet Otto Ineichen uns aus dem Sitzungszimmer. Im Vorraum stehen Regale voller Prospekte: die Aktionen der Konkurrenz. Der Markt wird genaustens beobachtet. Ineichen verrät, dass der Markteintritt von Aldi auch an Otto’s nicht spurlos vorbeigeht. «Wir sind gefordert», flüstert er fast ehrfürchtig. Dann, auf der Fahrt zum Bahnhof, verfällt er wieder in einen Monolog. Diesmal sind es die Linken, die ihr Fett abbekommen. Deren Forderung nach Mindestlöhnen gefährde Arbeitsplätze, ist sich Ineichen sicher. Am Bahnhof Sursee hilft er uns aus dem Auto und erklärt gestikulierend, wo welcher Zug fährt. Passanten drehen sich nach uns um. Ineichen verabschiedet uns fast wie Staatsgäste, fährt anschliessend zurück an die Arbeit. Über die Festtage hielt er die Stellung in seinem Imperium. Für sein Hobby, das Langlaufen, blieb wenig Zeit.

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