«der arbeitsmarkt» 10/2007

«Erst studieren und dann einen Beruf lernen»

Hans Weder, Rektor der Universität Zürich,
äussert sich im Gespräch mit dem «arbeitsmarkt» über die Chancen von Studienabgängern auf dem Arbeitsmarkt und die Verbesserungen mit dem neuen Bologna-System. In den weniger praxis­orientierten Studien der Geisteswissenschaften sieht der 61-jährige Theologe mehr Chancen
als Probleme.

Herr Weder, hat an der Universität Zürich eine neue Zeitrechnung begonnen?
Hans Weder: Nein, wieso?

Immerhin gibt es kein Wintersemester mehr, sondern ein Herbstsemester. Und dieses beginnt einen Monat früher als bisher. Zudem wird aus dem Sommersemester das ebenfalls vorgezogene Frühlingssemester. Das sind historische Änderungen einer jahrzehntelangen Tradition.

Eigentlich ist es nur eine kleine Verschiebung auf Grund eines europaweiten Trends zu diesen Terminen. Die Vorgeschichte hat aber tatsächlich eine historische Dimension: Bereits anno 1905 ging von der Universität Lausanne ein Antrag auf Harmonisierung der Semesterdaten aus, genau hundert Jahre später haben wir das an einer Rektorenkonferenz zusammen mit den Fachhochschulen endlich eingeführt – gegen viel Widerstand. Es gab etwas Aufruhr, die Lösung ist aber gut. Sogar das Militär hat sich unseren Zeiten angepasst, weil nun alles einheitlich ist.

Aber nun fallen die Herbstferien an der Schule mitten ins Semester – ein Nachteil für alle Angestellten der Universität und Studierenden mit Familie.

Das ist uns bewusst. Aber dieses Problem haben wir nicht auch noch lösen können, da die Schulferien in allen Kantonen anders liegen.

Rund 24000 Studierende sind momentan an der Uni Zürich eingeschrieben – Tendenz leicht steigend.

Ja, aber zum Glück nicht mehr so stark.

Das Angebot ist breit, fürs Studium können mehr als 90 Hauptfächer gewählt werden…

…und über 200 Nebenfächer. Insgesamt ergeben sich über 3000 verschiedene Fächerkombinationen.

Welche Studiengänge sind denn besonders im Trend?

Geografie nimmt immer noch stark zu, auch Chemie. Hier gibt es ein neues Fach: Wirtschaftschemie. Die Zahlen in der Chemie waren schlecht, wir hatten zeitweise mehr Doktoranden als Studierende. So was geht auf die Länge natürlich nicht. Mittlerweile haben wir uns von sieben Anfängern pro Semester auf rund 80 gesteigert. Durch gezieltes Marketing für die Naturwissenschaften, aber auch dank dieses neuen Studiengangs.

Warum gerade dieses Fach Wirtschaftschemie?

Zum einen existiert ein Marktbedürfnis: Es braucht Naturwissenschafter, die auch ökonomisch ausgebildet sind. In Düsseldorf wird Wirtschaftschemie schon länger angeboten, mit grossem Erfolg. Das hat unsere Chemiker inspiriert.

Und in den übrigen Fakultäten?

Auch die Religionswissenschaften steigen stark, aber auf tie-ferem Niveau, mit nunmehr 27 Studierenden. Die Wirtschaftswissenschaften verlaufen sehr wellenförmig, im Moment steigt die Zahl eher. In der Informatik sind die Studierendenzahlen nicht prognostizierbar. Nach wie vor einen starken Zuwachs haben die Geistes- und Sozialwissenschaften.

Genau diese Fächer der Philosophischen Fakultät stehen im Ruf, dass sie nicht besonders praxisorientiert sind. Es besteht eine Diskrepanz zwischen Studium und Arbeitsmarkt. Und weil die Ausbildung weniger spezifisch und nicht auf eine bestimmte Stelle ausgerichtet ist, haben acht Prozent der Absolventen auch nach einem Jahr noch keinen Job. Das sagen die neuesten Zahlen.

Man muss beachten, dass unter diesen acht Prozent auch noch solche sind, die eine Stelle für später zugesichert haben oder aus irgendwelchen Gründen auf eine Erwerbstätigkeit verzichten. Dann bleiben bei den Geisteswissenschaften noch rund drei bis sechs Prozent, bei den Sozialwissenschaften rund sieben Prozent ohne Job. Am schlechtesten sieht es aber bei den Naturwissenschaften aus, mit zwölf Prozent Arbeitslosen.

Was ziehen Sie daraus für eine Gesamtbilanz?

In Zürich haben wir im Durchschnitt 4,3 Prozent Erwerbslose nach dem Studium. Bei rund 2800 Absolventinnen und Absolventen pro Jahr sind das gegen 140 Leute, die keine Stelle finden – natürlich immer noch zu viele. Aber wenn Sie den Arbeitsmarkt sonst anschauen, muss man das relativieren. Als erfolgversprechender Tipp gilt: Man muss bei den besten 20 Prozent sein, damit man eine gute Chance hat auf dem Arbeitsmarkt.

Eine andere Statistik verrät, dass eineinhalb Jahre nach Studienabschluss nur 60 Prozent der Geistes- und Sozialwissenschafter in einem adäquaten Beruf arbeiten…

Das bezieht sich ausschliesslich auf den Wunschjob, viele landen aber in einem ähnlichen Beruf oder wenigstens in vergleichbarer Stellung. Lassen Sie mich etwas ausholen: Ich habe 1971 in Schottland studiert, da gab es beispielsweise Faculty-of-Arts-Studierende, die nachher Hotelmanager wurden. Im angelsächsischen Raum war bereits damals eine Tendenz festzustellen, die sich später auch hier verbreitet hat: Man studiert etwas, und dann lernt man einen Beruf. Das nimmt bei uns immer mehr zu.

Wie steht denn die Wirtschaft zu diesem Trend?

Ich hatte im Rahmen unseres bevorstehenden 175-Jahr-Jubiläums mit vielen CEOs Kontakt betreffend Sponsoring. Diese Chefs haben mir versichert, dass bei ihnen grundsätzlich alle Absolventinnen und Absolventen der Universität gefragt sind. Die Firmen bieten für ihre neu eingestellten Kaderleute Ausbildungs-
programme an, in denen sie das jeweilige «Handwerk» erlernen können. Das sind nicht nur Ökonomen, sondern auch Juristen, Geisteswissenschafter – alles. Ich frage die Firmenchefs jeweils: Was erwarten Sie von den Universitäten? Alle sagen: «Bilden Sie ja keine spezifischen Berufe aus! Sondern fördern sie das
kritische und kreative Denken. Den Rest übernehmen wir dann schon.»

Das heisst, die Wirtschaft sucht gar keine fertigen Spezialisten, sondern Leute mit einer bestimmten Arbeits- und Denkweise?

Genau, denn in der Arbeitswelt muss man sich ja ohnehin dauernd weiterentwickeln. Das Problem ist heute: Es gibt nur noch ganz wenige Berufe, die man lernt und dann das ganze Leben lang ausübt. Mein Vater hat das noch so gemacht, das ist längst vorbei. Auch in nichtakademischen Berufen braucht es heute alle fünf, sechs Jahre eine Weiterbildung, da die Informatisierung viele neue Anforderungen mit sich gebracht hat. Auf der akademischen Ebene wird es immer wichtiger, Problemlösungskapazität zu erlangen. Die Arbeitswelt hat sich massiv verändert. Für viele hoch qualifizierte Jobs gibt es nicht genügend Arbeitskräfte, die den Anforderungen genügen. Da sehe ich ein echtes Problem auf uns zukommen!

Und doch: Braucht es im universitären Angebot nicht auch stärker an der Praxis orientierte Fächer?

Unsere Studiengänge sind von unterschiedlichem Charakter: Recht und Medizin sind im Grossen und Ganzen Berufsausbildungen. Die anderen sind das eher nicht. Ich finde es aber schwierig, solche Dinge aus der Sicht des Arbeitsmarkts zu definieren. Wenn wir mit einem neuen Studiengang auf die Bedürfnisse der Wirtschaft reagieren möchten, dann dauert es insgesamt zehn Jahre, bis die ersten Absolventinnen und Absolventen auf dem Markt sind. Niemand weiss, was bis dann sein wird. Deshalb müssen wir Leute ausbilden – oder vielmehr bilden –, die in der Lage sind, mit den verschiedensten Problematiken umzugehen. Wissenschaftliche Bildung ist per se berufsqualifizierend. Das ist unsere Überzeugung – auch weiterhin.

Das neue Bologna-System bringt aber mit sich, dass man während des Semesters stärker gefordert ist und auf Grund von strikten Präsenzkontrolle, die Erwerbstätigkeit stark eingeschränkt ist.

Wir haben bei der Umsetzung von Bologna dafür gesorgt, dass die Studiengänge bis auf ein 50-Prozent-Teilzeitstudium herabgesetzt werden können. Ich erinnere mich an eine soziologische Studie, wonach jene Studierende auf dem Markt signifikant bessere Chancen haben, die bereits während des Studiums in einem für ihre Fachrichtung relevanten Bereich erwerbstätig waren. Das sind gute Argumente für das Teilzeitstudium. Andererseits sollte die Universität Vorrang haben, sonst ist das ein Missbrauch des Studiums.

Wird es da für die Studierenden nicht sehr schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen?

Es ist ganz klar: Die Leistungskontrolle im Studium ist stärker als früher. Man muss einen Job finden, bei dem man sich die Zeit flexibel einteilen kann. Im Gegenzug ist mit Bologna das Studium effizienter geworden: Mehr Interaktivität, mehr Feedback – nicht mehr wie früher, als in den Geisteswissenschaften während des ganzen Studiums keine Prüfungen stattfanden und man nie genau wusste, wie und wo man steht. Das ist nun besser geworden. Und auch das Angebot ist viel transparenter und besser strukturiert, nicht mehr eine amorphe Masse von Angeboten. Das hilft den Studierenden.

Kommt dazu, dass man mit einem intensiveren Studium den Abschluss schneller hat…

Ja, das fordert ja auch die Wirtschaft immer. Aber ich halte das für einen Fetisch, die Vorstellung, dass man mit 23 Jahren auf den Markt geworfen werden muss. Die Leute verfügen in diesem Alter noch nicht über die nötige Reife. Ich landete mit 26 im Pfarramt, und ich muss sagen, das war eher zu früh. Es gibt viele Fächer, gerade in den Geisteswissenschaften, die eine gewisse Reife verlangen. Nehmen Sie das Fach Geschichte: Bis man da in etwa weiss, worum es geht – das braucht seine Zeit. Mit dieser Ansicht liege ich vielleicht nicht im Trend…

Unter dem Strich bringt Bologna also Verbesserungen bezüglich der Vorbereitung auf den Berufseinstieg?

Ich denke schon. Vieles muss sich erst noch bewähren. Aber nur schon die Informationen, die den Arbeitgebern mit dem Diplom abgegeben werden, sind viel spezifischer. Die Unternehmen sehen so, was die Leute wirklich gemacht haben während des Studiums. Ich finde es auch wichtig, dass eine Wahlmöglichkeit bestehen bleibt. Gerade in den Geisteswissenschaften soll man ja auch seine eigenen Schwerpunkte setzen können. Da haben wir für die entsprechenden Rahmenbedingungen gesorgt.

Was ist ein Master-Titel einer Uni heute wert?

Ein Master an der Universität Zürich verspricht im Durchschnitt 75000 Franken Jahresgehalt. Das variiert je nach Fachichtung.

Weshalb soll ich einen solchen Titel sonst noch anstreben?

Wenn Sie einen Master haben, dann kennen Sie das entsprechende Fach als Wissenschaft und haben einen selbständigen Zugang dazu. Mir persönlich hat das Theologiestudium auch sehr viel gebracht punkto Reflexion, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstorganisation.

Und auf dem Arbeitsmarkt? Ist der Master wirklich ein Qualitätsausweis, der eine gute Chance auf einen guten Job bietet?

Ja, das kann man so sagen. Statistisch gesehen trifft dies sicher zu. Wer ein Studium durchsteht, verfügt automatisch über bestimmte Fähigkeiten, die auch in der Wirtschaft gefragt sind.

Als erfolgreicher Absolvent erwarte ich nach dieser langen Ausbildung, dass ich schnellstmöglich ins Berufsleben einsteigen und eine passende, gut bezahlte Stelle finden kann. Die Realität zeigt aber, dass ich damit rechnen muss, auf dem Markt nicht gefragt zu sein. Das ist doch unbefriedigend…
Ich kenne diese Situation auch aus meinem näheren Umfeld. Zunächst möchte ich festhalten, dass die mehr oder weniger lange Studienzeit auch ein Privileg ersten Ranges ist. Diese Form der Persönlichkeitsbildung hat man sonst nirgends. Neben den hochinteressanten Inhalten erwirbt man auch wertvolle Soft Skills. Was das Verhältnis von Ausbildung und Jobsituation betrifft, gebe ich Ihnen ein Beispiel: In der Veterinärmedizin haben wir einen Frauenanteil von 86 Prozent, und viele Studentinnen interessieren sich allein für Kleintiermedizin. Was wir brauchen, sind aber mehr Nutztierärztinnen und -ärzte. Natürlich könnten wir feste Quoten einführen, damit das Verhältnis der Praxis angepasst wird. Das brächte eine gewisse Garantie, dass man nicht am Markt
vorbei ausbildet. So hat man das früher ja in der DDR gemacht.
Ich finde das aber gar nicht sinnvoll, denn wie wollen Sie ein strenges Studium durchstehen, wenn Sie gar nicht motiviert sind? Zumindest ein starkes Interesse am Fach sollte unbedingt vorhanden sein – das ist meiner Meinung nach das Wichtigste.

Was gäbe es denn für Anreize, damit sich die Studierenden auch für weniger populäre, aber von der Wirtschaft gefragte Studiengänge entscheiden?

Ich bin ein Anhänger von liberalen Lösungen. Ich vertraue, dass jeder selber weiss, was für ihn oder sie am besten ist.

Aber kaum jemand überblickt die gesamte Situation, welche die Grundlage für einen solchen Entscheid bildet. Brauchts diesbezüglich nicht eine bessere Information vor Studienbeginn?

Das Problem ist, dass ich jeweils nur weiss, wie es aktuell aussieht. Was in sieben Jahren ist – wenn Sie fertig studiert haben –, kann ich Ihnen nicht sagen. Sicher kann man gewisse Trends
voraussehen. Wenn Sie beispielsweise heute Medizin studieren, können Sie sicher sein, dass Sie einen Job haben. Ähnliches gilt für die Juristen. Aber für alle anderen – auch in den Naturwissenschaften – ist das schwierig vorauszusehen. Um auf das Dilemma einer marktgerechten Ausbildung zurückzukommen: Ich möchte das nicht verharmlosen, aber was sind die Alternativen? Wir stellen an der Universität Zürich eine enorme Attraktivität der Geistes- und Sozialwissenschaften fest. 11000 Studierende sind an der Philosophischen Fakultät eingeschrieben. Soll ich diesen nun von ihrem gewünschten Studium abraten?

Vielleicht liegt es auch daran, dass die jungen Studienanfänger noch keine Ahnung haben, was auf sie zukommt. Etwas Aufklärung wäre da sicher angebracht.

Wir unternehmen viel im Bereich der Studienwahl und der Studienberatung. Beispielsweise haben wir eine allgemein zugängliche Studiengangsdatenbank, und wir führen jedes Jahr Informationstage durch. Zudem sind Projekte zum Thema «Career Development» am Laufen. Da probieren wir, die Studierenden während des Studiums mit der Wirtschaft in Kontakt zu bringen. So können auch bereits Beziehungen geknüpft werden. Wir nehmen da also schon Anstrengungen auf uns, es gibt aber noch andere Probleme. Beispielsweise möchten wir verhindern, dass wir eine Massenuniversität werden. Auch die verstärkte Interaktivität für die Studierenden ist uns ein Anliegen. Da haben wir sehr viel Geld investiert: 75 neue Professuren und Hunderte von Stellen für Assistierende. Dies alles, um die Betreuung der Studierenden markant zu verbessern. Die Kehrseite ist, dass wir damit wieder zahlreiche neue Studierende anlocken.

Wie sieht für Sie ein modernes Studium aus? Was raten Sie den Jungen, die jetzt neu an der Universität sind – auch im Hinblick auf den Arbeitsmarkt?

Jene fünf Prozent der Studierenden, die von Anfang an auf eine wissenschaftliche Karriere aus sind, sollen möglichst direkt ein Master-Programm machen. Für unsere Gesellschaft hingegen sind die Leute, die in den Arbeitsmarkt gehen, ebenso wichtig. Ich kann mir da sehr interessante Modelle denken. Dass man zum Beispiel in einem Fach einen Bachelor macht, dann in die Wirtschaft geht und später noch den Master macht – vielleicht auch in einer anderen Studienrichtung. Das wäre ja auch die Idee dieses Systems. Aber es kommt nun drauf an, wie die Wirtschaft reagiert, ob sie den Bachelor-Abschluss anerkennt.

Ein Bachelor ohne anschliessenden Master – macht das Sinn?

Es gibt viele Funktionen in der Berufswelt, bei denen man keinen Master-Titel haben muss. Auch mit dem Dropout – also jenen Studierenden, die ihr Studium abbrechen – habe ich übrigens kein Problem, solange nicht wir etwas falsch gemacht haben. Der Bachelor ist eine Möglichkeit, ein Studium in Würde vorzeitig zu beenden, weil man dann doch einen Abschluss hat. Das ist etwas wert.

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