«der arbeitsmarkt» 01/2006

Englisch lernen in Windeln

Frühförderung Sie lernen ihre erste Fremdsprache mit dem Laufen, Zahlen und Alphabet beherrschen sie spätestens mit vier. Lauter kleine Einsteins oder schlicht gut geförderte Kinder? Ein Augenschein in einer Krippe, die sich der Frühförderung verschrieben hat.

Neun Uhr morgens, Zürich-Binz. Zehn Kinder, keines älter als drei, und zwei Kleinkinderzieherinnen sowie eine Praktikantin versammeln sich im Kreis im Zimmer der Gruppe «Papagei» der Wings School, einer privaten Kinderkrippe. Die zweijährige Kayla hilft Kira noch schnell das verlorene Finkli anziehen. Dann wird der Tag mit Liedern begonnen. Bei «Häsli hüpf» fällt das Finkli wieder ab. Erzieherin Sonja zieht es ihr rechtzeitig zum Ringelreihe nochmals an. Ein ganz normaler Alltag, wie man ihn quer durch die Schweiz in jeder gutgeführten Krippe beobachten kann.
Der erste Unterschied zeigt sich hier: Nach dem gemeinsamen Znüni werden zwei Kinder zum Englischunterricht abgeholt. Die anderen backen mit Gruppenleiterin Sonja Zöpfli. Die Kinder benennen jede Zutat, dürfen alles probieren. «Was ist das?», fragt Sonja und hält einen hellen, kleinen Würfel in die Höhe. «Fromage», «Käse». «Das ist Hefe, die macht den Teig ganz gross», erklärt Sonja. Irgendwie finden fünf Kinderarme Platz, gleichzeitig in der Schüssel zu kneten. Ein Mädchen landet beim ersten Griff mitten im Ei und wartet lieber auf den fertigen Teig. Im Eifer des Knetens landet immer mehr Teig auf dem Tisch und dem Boden.

Rosinen und Mandelstifte

Am Ende formen alle mit Hingabe an ihrem Teigstück. Sonja verteilt noch Rosinen und Mandelstifte zum Verzieren. Philip macht einen «Zopf» und stopft hingebungsvoll Rosinen hinein, Uma macht ein «Säuli», Ophélie ein «cochon». Nina steckt grosszügig Rosinen auf ihr «Schnäggli», während Mischari friedlich und von den anderen unbehelligt Mandelstifte futtert. Die hängen nämlich über der Rosinentüte. Die Werke werden aufs Backblech gelegt, dann gehen auch die anderen mangels Rosinen dazu über, die Mandelstifte zu essen. Gemeinsam wird aufgeräumt, alle fegen wild in der Gegend herum. Nur Nina kehrt systematisch auf ihre Schaufel und geht den Abfallkübel holen, der fast so gross ist wie sie selber. Kira hat mal wieder ihr Finkli verloren, trägt es in der Hand mit zum Wickeln.
Mittags essen die Zopfbäcker weniger als die anderen. Wenn diese Kinder vier sind, werden sie immer noch gemeinsam backen, singen und spielen, denn das gemeinsame Tun steht allzeit im Vordergrund. Aber sie werden auch fliessend Englisch beherrschen, Alphabet und Zahlen kennen. Sie lernen alles spielerisch. Und sie wollen lernen.
Mittagsschlafzeit. Wer seine Hose bereits zum Schlafen ausgezogen hat, trottet schon mal mit einem Arm voll Stofftiere Richtung Matratzen. Zwei Stunden später sind alle wieder wach. Nina zeigt beim Anziehen ein Äffchen: «Das isch de ‹monkey›.» Sonja fragt: «Wie heisst das auf Dütsch?» «Weiss nöd.» Da kommt Helen, die die Kinder zum Englischunterricht in ihrem Raum abholt. Ein Kind, das fünf Tage pro Woche in der Krippe ist, erhält etwa drei Englischlektionen wöchentlich. Insgesamt haben Krippe und Kindergarten 98 Plätze. Die Hälfte der Kinder stammt aus Familien mit mindestens einem englischsprachigen Elternteil, 40 Prozent haben deutschsprachige Eltern, die anderen sprechen zuhause eine dritte Sprache.

Dicke lila Sauce im Waschbecken

Helen redet mit den Kleinen nur Englisch. Für die Kinder scheint die plötzliche Umstellung kein Problem. Sie singen die englischen Lieder so begeistert wie am Morgen die Schweizerdeutschen.
«Häsli in der Grube» gibts auch auf Englisch, beim «Rockaby Baby» schaukeln alle ein imaginäres Baby in den Schlaf. Als das Lied zu Ende ist, übertrumpfen sie sich gegenseitig: «I have one baby.» «I
have two!», «I have – so viel!», ruft Nina und hält fünf Finger hoch. Die Kinder vermischen zwanglos beide Sprachen. Wissen sie auf Englisch nicht weiter, überlegen sie nicht lange und sprechen im Dialekt weiter.
Heutiger Lernstoff sind die Formen «round» und «square», rund und quadratisch. Die Kleinen betrachten die Formen, betasten sie und benennen sie unter Helens tatkräftiger Mithilfe. Dann geht es in den «Art Room», hier sollen Drucke mit vorbereiteten quadratischen und runden Kartoffelstempeln entstehen. Auf den Tischen stehen Pappteller. Auf jedem warten drei Kleckse in Rot, Blau und Grün darauf, auf gelbe Papierbögen gestempelt zu werden. Bevor Helen den Kindern erklären kann, wie sie dabei vorgehen sollen, gilt es, sie vorsichtshalber alle in langärmelige Malmäntelchen zu verpacken. Bis das letzte Kind im Mantel steckt, haben alle schon angefangen, mit ihren Stempeln wild in der Farbe zu rühren. Statt der von der Erzieherin sorgfältig vorbereiteten drei Farben ergibt das ein kräftiges Lila. Mit Hingabe wird die Farbe mit oder ohne Hilfe der Kartoffeln auf dem Papier verteilt. Ein Mädchen bemalt konzentriert seinen ganzen Arm. Immerhin: Einzelne gelungene Stempel gibt es dennoch. Helen lässt die Kinder machen, der Spass am Tun ist die Hauptsache. Wenn ein Stempel tatsächlich rund herauskommt, lobt sie: «A wonderful circle!» Anschliessend heisst es Hände waschen. Dicke lila Sauce fliesst ins Waschbecken.
Zum Zvieri gibt es Joghurt. Die Kinder verteilen «bowls» und «spoons», durch das Fenster beobachten die Essenden, wie sich Bahnschranken schliessen. Mischari kommentiert: «Jetzt chunt de Zug.» Als Helen fragt, ob er nicht lieber Englisch reden wolle, meint er schnell: «Da chunt de train.» Die ganze Zeit wechseln die Kinder ohne Scheu zwischen den Sprachen. Sie verstehen offensichtlich alles, was Helen sagt, antworten aber lieber auf Deutsch.
Die Krippe ist privat finanziert. Nur finanzkräftige Eltern können sich die Gebühren von monatlich 2300 Franken für eine fünftägige Betreuung leisten. Einige haben Plätze, die von ihrer Firma subventioniert werden. Zwei Tage pro Woche kosten immerhin noch 920 Franken monatlich. Dazu kommen tausend Franken Einschreibegebühr. Für die Eltern ist das eine Investition in die Zukunft, sie wollen ihre Kinder so gut wie möglich auf die Schule vorbereitet wissen. Englischsprachige Eltern sind froh, dass ihr Nachwuchs hier auch englische Kinderlieder lernt.

Zwischen Englisch und Schweizerdeutsch

Wieder neun Uhr, Zürich-Binz, zwei Tage später. Ein Stockwerk über den «Papageien» haben die elf «Spatzen» ihr Revier. Die Kinder hier sind zwischen dreieinhalb und vier Jahre alt. Sie können sich selber anziehen und schaffen es ohne Windeln und Nuggi über den Tag. Nur wer das alles meistert, darf in die Gruppe im oberen Stockwerk wechseln. Drei der Spatzen-Kinder haben englischsprachige Eltern. Wie bei allen Gruppen in der Wings School gibt es auch hier ein Monatsthema, um das sich die Aktivitäten ranken. Im Dezember ist das natürlich Weihnachten, aber auch Musik. Da die Kinder dieser Gruppe sehr musikalisch sind, lernen sie in diesem Monat Ukulele spielen. Sie werden ein Konzert gestalten, vielleicht sogar eine CD aufnehmen und natürlich Weihnachtsgeschenke basteln.
Die Gruppe wird von zwei Kleinkinderzieherinnen geführt, dazu kommt eine Praktikantin. Kleinkinderzieherin Elisabeth und Praktikantin Aimée haben Englisch als Muttersprache und sprechen auch mit den Kindern nur englisch. Elisabeth und Claudine gestalten den Tag abwechselnd, etwa im 30-Minuten-Rhythmus. Die Kinder wechseln so den ganzen Tag zwischen Englisch und Schweizerdeutsch. Kinder, die nicht aus dem ersten Stock nach oben wechseln, sondern ohne Englischkenntnisse in die Gruppe kommen, brauchen etwa ein halbes Jahr, bis sie selbst sprechen und nicht nur die Erklärungen verstehen. Die anderen dolmetschen in der Zwischenzeit.
Bisher haben die Kinder miteinander gespielt. Jetzt beginnt der gemeinsame Tag mit Liedern, Claudine begleitet auf der Gitarre. Dann nimmt sie ein Buchstabenpuzzle aus Holz heraus. Die Kinder wissen, was kommt, und zählen auf: «E wie Elisabeth, F wie Fisch, G wie Giraffe. Oder wie du, Glodin.» Claudine lächelt und nickt. Jetzt legt sie die Holzbuchstaben AEIOU heraus, deckt sie mit einem Tuch ab und lässt jeweils einen oder mehrere verschwinden. Die Kinder finden schnell heraus, welcher fehlt, nennen ihn, malen ihn in die Luft.

Buchstaben in der Sandkiste

Garantiert Frühförderung den Schulerfolg der Kinder? Manche können es sich leisten, ihrem Kind von Anfang an die bestmögliche Förderung zu geben, und andere nicht. Entscheidet das bereits darüber, ob das Kind später Arzt oder Fliessbandarbeiter wird? Die Erziehungswissenschaftlerin Margit Stamm hat über 13 Jahre 400 Kinder in der Schweiz und Liechtenstein begleitet. Sie werden von ihrem Schulbeginn im Jahr 1995 bis ins Jahr 2008 regelmässigen Tests zu Begabung, Persönlichkeitsmerkmalen und Leistungen unterzogen. Im Herbst veröffentlichte Stamm ihre Zwischenergebnisse im Buch «Zwischen Exzellenz und versagen. Frühleser und Frührechnerinnen werden erwachsen». Ihr Fazit: Frühe Förderung garantiert noch keinen Schulerfolg. Nur wenn Kinder «eigenmotiviert nach Erkenntnis streben», schneiden sie auch in ihrer Schullaufbahn deutlich besser ab als ihre Altersgenossen. Aber: Eine gute Förderung in den ersten Jahren könne bei Defiziten vor Minderleistungen schützen. Vor Schulbeginn lesen oder rechnen könne jedes Kind lernen. Wenn der Vorsprung jedoch nur wegen ehrgeiziger Eltern erreicht wird, gehe er bald wieder verloren. Vielmehr gelte es, eine Umwelt zu schaffen, die die Motivation zum Selbstlernen wecke. Denn die Frühleser und Frührechner, die aus eigenem Antrieb lesen oder rechnen lernen, blieben oft über die ganze Schulzeit überdurchschnittlich erfolgreich.
Nun wird bei den «Spatzen» gemeinsam aufgeräumt und wieder gesungen, das Repertoire an schweizerdeutschen und englischen Liedern scheint unerschöpflich. Zum Znüni gibt es Obst, den Tisch decken die Kinder selber. Danach geht es an die Weihnachsvorbereitungen: Während die einen den am Vortag zubereiteten Mailänderliteig zu Guetzli verarbeiten, basteln die anderen mit Elisabeth passend zur Jahreszeit «snowflakes with lots of glitter». Eifrig wird verhandelt, wer als Nächstes die Christbaum- und die Schneemann-Ausstechform bekommt. Lea bestreicht alle Guetzli sorgfältig mit Eigelb. Nachdem die Hälfte des Teiges verarbeitet ist, wird zum Basteln gewechselt. Zuerst muss jedes Kind die Eingangskontrolle bestehen. Die besteht aus Elisabeths Nase: Nur wenn sie riecht, dass die Hände auch ordentlich mit Seife gewaschen wurden, dürfen die Bastelkinder an den Teig und umgekehrt. Zeit zum Mittagessen, wieder decken zwei Kinder den Tisch für alle. Es wird viel Wert aufs Selbertun gelegt. Wer danach nicht schläft, spielt mit seinen Gspänli. Um 13 Uhr versammeln sie sich wieder zum Buchstabenkreis. Wieder wird das Alphabet aus dem Puzzle benannt. Danach schreiben die Kinder reihum Buchstaben in eine Sandkiste, die anderen benennen sie. Lea kündigt «en ganz schwere» an. Gewissenhaft malt sie einen langen Strich. Als die anderen schon «I» rufen wollen, malt sie schnell noch den T-Strich darüber. Lea und Naseem ziehen los und spielen Buchstabenmemory, zwei Mädchen ziehen sich mit einem Fädelspiel zurück, andere malen mit Elisabeth ein englisches Arbeitsblatt aus. Sie verbinden Weihnachtsmann, Engel und Schneemann mit den Gegenständen, die ihnen fehlen. Später treffen sich alle wieder im Kreis, singen erst mit Claudine, dann mit Elisabeth. Anschliessend legt Elisabeth Holzzahlen von null bis fünf in die Mitte. Eifrig werden die Zahlen benannt und gezeigt und alle zählen, wie viele Arme – «two!» – und Finger – «five!» – sie haben. Danach werden eifrig bunte Plastikwürmer abgezählt und in der entsprechenden Anzahl zu den Zahlenkarten gelegt, handgeschriebene Zahlentäfelchen und solche mit der entsprechenden Anzahl Punkte zugeordnet. Kein Problem für die Kleinen, die Aufgaben locker auf Englisch zu meistern. Eigentlich ist das alles Stoff der Primarschule in drei Jahren, auf Schweizerdeutsch.

Optimale Kinderförderung

Wenn diese Kinder dann mit sieben Jahren erstmals die Schulbank drücken, sitzen sie neben Altersgenossen, die vielleicht nicht einmal gewohnt sind, längere Zeit still zu sitzen. Eine Erzieherin meint vorsichtig: «Da stehen die Primarschullehrer vor einer immensen Herausforderung.» Lehrer müssen von Anfang an differenzieren und Vorwissen aufgreifen, damit nicht die Frühleser gelangweilt in den Bänken hängen, während Kinder ohne Vorkenntnisse, auf die das Schweizer Schulsystem ausgerichtet ist, mit den ersten Buchstaben kämpfen.
Die Eltern, mit denen wir sprachen, sind von der Krippe in der Binz restlos begeistert. Ihre Kinder würden hier optimal gefördert und nicht nur mit etwas Spielzeug irgendwie den Tag herumbringen wie in manchen öffentlichen Krippen. Zweisprachige Paare schätzen, dass ihr Kind eben nicht nur schweizerdeutsche Lieder lernt, sondern auch die zweite Muttersprache ausserhalb der Familie anwenden könne. Einige machen sich bereits Gedanken, was wird, wenn ihr Nachwuchs ins Schulalter kommt. Wenn beide Elternteile arbeiten, braucht es Tagesstrukturen, die das
öffentliche Schulwesen bisher kaum bietet. Ein Vater meint gar: «Das Schweizer Schulsystem bremst die Kinder eher, als dass es sie fördert. Das ist für uns nicht akzeptabel.» Für ihn komme nur eine gute, möglichst zweisprachige Privatschule in Betracht. Eine Mutter erzählt: «Wir wohnen in der Nähe der Wings School. Hier im Kreis hat es einen hohen Ausländeranteil. Es wird in der Primarschule einfach zu viele Kinder geben, die schlecht Deutsch sprechen.»
Man könnte den Eindruck gewinnen: Wer es sich leisten kann, meidet heute das öffentliche System, schon vom Windelalter der Kinder an.

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