«der arbeitsmarkt» 05/2006

Eliteschmiede für kleine Ronaldinhos

Sie haben vor allem Fussball im Kopf. Doch in der Fussballschule in Emmen lernt ein Dutzend künftiger Berufsfussballer auch für das Leben nach der Karriere.

Sie wachsen tatsächlich, diese Fussballer, sie befinden sich noch voll im Wachstum. Alle haben Jahrgang 91, ausser dem Benjamin, der ein Jahr jünger ist. Sie wirken bescheiden und sind eher von der besonnenen Art. Keiner von ihnen würde je öffentlich davon träumen, berühmt zu werden. Doch wenn man sie nach dem Vorbild fragt, nennen sie Ronaldinho. Das ist natürlich eine Zwickmühle: Wer so gut werden will wie der Brasilianer, muss auch so berühmt werden.
Doch das ist Zukunftsmusik, und dafür bleibt im Ausbildungszentrum des Schweizerischen Fussballverbandes in Emmen wenig Zeit. Ohne Fleiss kein Schweiss, die zwölf Fussballschüler haben ein dicht befrachtetes Programm. Sieben Tage pro Woche sind sie am Ball, fünf davon in Emmen.
Im letzten August ist das Dutzend zum Team zusammengeschweisst worden. Der eine oder andere Name wird uns in ein paar Jahren locker von den Lippen gehen, heute sind einige noch Zungenbrecher: Hrvoje Bukovski, Patrik Calabrese, Andriu Cavelti, Philippe Koch, Leandro Maresca, Tolga Mertoglu, Dino Rebronja, Manuel Ruhstaller, Raymond Tinner, Sven Lehmann, Dimitri Voney, Haris Seferovic – alles Schweizer notabene. Bei der teuren Ausbildung wollte man keine Ausländer aufnehmen, weil die eines Tages plötzlich beschliessen könnten, fortan für ihr Heimatland zu tschutten: «Tschau, ich spiele jetzt für Kroatien.»

«Was heisst ‹verlassen› auf Französisch?» – «Kwitte!»

Nach einem Auswahlverfahren, das noch etwas ausgeklügelter ablief als die Wahl einer Miss, erfuhren sie eines schönen Tages, dass sie zu den besten zwölf Fussballern ihres 
Alters und der Deutschschweiz gehören würden. Nicht alle glaubten es so recht. Dimitri dachte, als die gute Nachricht kam, er sei in dieser Fussballschule sowieso nur ein Lückenbüsser. Die Begabtenförderung des SFV hat ein klares Ziel: dem Teilnehmer das Fundament zu geben, auf dem er eine Profikarriere aufbauen kann. Wer es dann wirklich schafft, das steht noch in den Sternen.
Im Gersag, dem gemeindeeigenen Kongresszentrum mit Restaurant, ist in Saal 2 um 11.30 Uhr schon gedeckt. Einer sitzt am langen Tisch wie eine Banane und mit zugestöpselten Ohren. Für ihn war die Schule heute ausnahmsweise früher aus, eine willkommene Zusatzpause. Rasch nimmt er Haltung an, als seine Teamkameraden hereintröpfeln. Anwesend ist jetzt auch 
Ausbildungsleiter Markus Kälin, der zudem Trainer der Torhüter ist. Er wirft einen Katalog auf den Tisch, Andriu und Hrvoje dürfen neues Werkzeug auswählen. Was dem Elektriker der Schraubenzieher ist, sind dem Goalie die Handschuhe.
Der männlichen, aber noch etwas bubenhaften Wucht im Raum setzt Ruth Näpflin charmant das weibliche Element entgegen. Über ihre Schützlinge will sie nicht klagen: «Sie sind recht höflich und anständig, es sind Nette.» Kurz später findet sie aber dennoch, sie könnten nach dem Essen die Stühle schon etwas geordneter hinstellen. Ruth Näpflin betreut das Team beim Mittagessen und hält ein Auge auf die grosse Wohnung im Nebenhaus, wo sich die Jungkicker aufhalten, wenn sie nicht in der Schule, im Training oder in ihren Gastfamilien sind: Jene acht, die nicht aus der Zentralschweiz stammen, wohnen nämlich von Montag bis Freitag in Emmen bei sportfreundlichen «Schlummereltern». 
Dort nehmen sie nur das Frühstück ein und am Mittwoch das Abendessen, ansonsten essen sie im Kongresszentrum. Heute gibt es Pouletbrüstli, Reis und Blumenkohl. Sehr «geil» auf das Gemüse scheint man nicht zu sein. Der funkelnde Rosé im edlen Stielglas ist ein guter Tropfen Sirup. Gourmets sind sie nicht, diese Kerle, die Einverleibung der Kalorien ist ein sehr zweckdienlicher Vorgang, und man strebt rasch hinüber in die Wohnung, wo es an den Töggelikasten geht oder wo man im Wohnzimmer vor laufendem Fernseher – Fussball auf Eurosport, was denn sonst? – nicht den Ball im Nacken spürt, sondern die Franzprüfung. «Was heisst schon wieder ‹verlassen?›» – «Kwitte!»
Es ist fast schon 13.30 Uhr, Schulbeginn, doch man darf es auf die Spitze treiben, denn das Schulhaus ist einen Steinwurf weit entfernt. Überhaupt: Alles ist hier im engsten Radius zu finden, die Plätze, die Hallen, und zum Bahnhof Emmenbrücke Gersag sind es zwei Minuten. Ideale Bedingungen. Darum vor allem hat die Gemeinde Emmen unter den Bewerbern den Zuschlag für die neue Fussballschule erhalten.  

Die letzten Pflichtschuljahre enden täglich um drei Uhr

Die zwölf Kicker lernen in verschiedenen Sekundarschultypen im Oberstufenzentrum Emmen. Als Trio in der gleichen Klasse, wo jetzt bei Lehrerin Simone Lachappelle der Französischtest läuft, sind Andriu, Dimitri und Manuel. Sie sind nicht nur als Sportler vorne, auch als Schüler gehören sie zu den Besten. «Wir möchten auch etwas von jenem Image abtragen helfen, das den Fussballer als etwas beschränkten und grosskotzigen Machotyp darstellt, der sich vor allem um sein Outfit kümmert», sagt Kurt Wiprächtiger. Er ist Trainer und Reallehrer zugleich.
Die Spezialwurst für die Sportler, die in Emmen im Rahmen der Fussballausbildung ihre zwei letzten Pflichtschuljahre absolvieren, beginnt um 15.05 Uhr. Schluss mit Schulbank. Die Stunden, die sie ab jetzt verpassen, holen sie am Mittwochnachmittag in einem massgeschneiderten Stützunterricht nach. Jetzt aber geht es endlich um die Hauptsache, um den Ball. Heute ist das Training nicht gerade ein Zuckerschlecken, es regnet schon den ganzen Tag. Nur kurze Zeit bleiben drei Mädchen hinter dem Maschendraht stehen. Eher ein Wetter für Kröten als für Verehrerinnen.

Siegen lernen bedeutet auch das Verlieren kennen

Durch das Aufwärmen führt meist ein Spieler, der seinen Kameraden damit gleichzeitig zeigt, wie das zu Hause in seinem Verein gemacht wird. Heute ist es Patrik vom FC St. Gallen. Danach wird es schnell individuell, denn «bei uns müssen nicht einfach alle durchs gleiche Loch», wie Wiprächtiger sagt. Vier drehen oben auf dem Leichtathletikplatz für eine halbe Stunde ihre Runden. «Zwar ist das nicht gerade das, wovon ein Fussballer träumt», sinniert der Trainer, «aber nach Messungen hat sich gezeigt, dass sie in Sachen Ausdauer nicht ganz auf dem Damm sind.» Der Hauptharst übt derweil den kurzen Sprint aus dem Stand, im Mann-zu-Mann-Kampf. Startkommando ist mal ein lauter Ruf, mal ein stilles Handzeichen, und der Trainer verkündet den Sieger immer gleich laut: «Dino, Manuel, Tolga!» Solche Winner/Loser-Situationen, erfährt man später, seien wesentlicher Bestandteil jedes Trainings. Damit immer deutlich bleibt, worum es geht im Fussball: nur ums Gewinnen. Kein Pläuschlertraining. «Gib alles, nicht nur 80 Prozent, und was 100 Prozent ist, weisst nur du selber!»
Wiprächtiger versteht seinen Beruf, er ist liebevoll streng und in heiterer Stimmung. Das steckt an. Solches Wetter wäre ja eigentlich ideal für eine Theoriestunde über Taktik, doch niemand murrt, hier sind keine Weicheier versammelt. Etwas Mitleid erregen dennoch die beiden Torhüter auf der anderen Platzseite. Sie hechten nach Kälins fies platzierten Bällen und surfen dabei förmlich durch den Morast. Der militärische Begriff der Kampfsau steigt in einem hoch – wahrscheinlich weil am Himmel die Patrouille Suisse in enger Fünferformation gerade einen langsamen Überflug übt. Auf der anderen Seite der Autobahn muss der Militärflugplatz sein. Indem sich die Kicker jetzt in ein blaues oder gelbes Überleibchen stürzen, sind schnell zwei Mannschaften gebildet für ein blitzschnelles kurzes Spiel. Blau gewinnt 2:0 – und hinein in den Dampf der Dusche.
Nächste Station ist das Schulzimmer von Wiprächtiger. 17.30 Uhr bis 18.30 Uhr: überwachte Aufgaben. Fragen, Erklärungen, Tipps, Aufmunterungen, Scherze. Sven schreibt zwei Seiten aus einem «blöden» Buch ab. Seine Strafe, weil er nicht alle Hausaufgaben gemacht hat. «Es sind eben Schüler wie alle andern», sagt Wiprächtiger. War das nicht das Knurren eines Magens? In Grüppchen bummeln sie hinüber ins Restaurant. Der Appetit ist grösser als am Mittag, schnell aber soll es auch diesmal gehen, man spürt Stalldrang. Die Mannschaft ist sowieso geschrumpft. Die vier Zentralschweizer sind schon verschwunden, die acht andern machen sich auf den Weg zu ihren Gastfamilien ganz in der Nähe.

Neben Schule, Training und Match ist Freizeit ein Luxus

Manuel Ruhstaller ist einer, der täglich zu seinen Eltern fährt, er hat Heimvorteil. Da steht er nun in Nidwaldens Hauptort Stans in seinem Zimmer, das voll auf Brasilien getrimmt ist. Natürlich ist nicht der Amazonas zu sehen, sondern all das, was das südamerikanische Land zur vielleicht grössten Fussballnation macht: die Berühmtheiten, die Mannschaften, die Stadien. Sein Liebster? «Ronaldinho!» Wie hat es bei ihm mit dem Fussball begonnen? «Beim Vater.» Dieser steht unter der Tür und erzählt seine eigene kleine Fussballbiographie. Er war Trainer beim FC Stans, Manuels erstem Verein. Er hätte eigentlich gerne selber Fussballprofi werden wollen, aber in der Familie mit acht Geschwistern galt so etwa nicht als echtes Diskussionsthema. Mit der Fussballschule seines Sohnes kommt er gut zurecht, weil sie voll zweigleisig fährt. Die normale Ausbildung kommt nicht zu kurz. Er erinnert auch, wie schnell zum Beispiel eine Verletzung das Ende bedeuten könne. «Es ist seine Entscheidung, er kann schon morgen wieder damit aufhören», sagt der Vater mit Blick auf Manuel – und die Mutter, Marianne Ruhstaller: «Wenns öppis wird – isch es guet.» Manuel sieht nicht danach aus, als würde er morgen die Schuhe an den Nagel hängen. Sponsor sei Dank: Er wird noch Dutzende zu Fetzen tschutten dürfen.
«Höchstens am Samstagnachmittag habe ich etwas freie Zeit», meint Manuel zu seinem dichten Wochenprogramm. Bei den Spielen am Sonntag für den FC Luzern, auch bei den Auswärtsspielen, sind die Eltern oft Zuschauer. Als Bürde hat der Mittelfeldspieler seine Wahl bisher noch nie empfunden. Eben hat er eine Polygrafen-Schnupperlehre hinter sich, weiss aber noch nicht, wo alles hinführt. Möglich wäre auch eine Lehre als Berufssportler, die mit eidgenössischem Diplom abgeschlossen wird und, von den sportspezifischen Fächern abgesehen, eine breite Basis im Kaufmännischen und in Informatik bietet. Manuel hat noch Zeit, jetzt kommt erst mal der Sommer, wo sechs bis acht Neue zur Fussballschule stossen, 92erKids, womit der Laden zum ersten Mal vollständig wird. Beide Jahrgänge werden zusammen trainiert, es sind also keine parallelen Lehrgänge vorgesehen.
Wie so viele Dinge in der Schweiz gibt es auch die Fussballschule – auch wenn die Konzepte unterschiedlich sind – in dreifacher Ausführung. Die Tessiner haben die 
ihre in Tenero, die Romands in Payerne. Letztere gibt es schon einige Jahre und sie darf mit einer Berühmtheit brillieren: Johan Djourou, der dunkelhäutige Eidgenosse bei Arsenal London, hat einst dort im schweizerischen Sibirien geschwitzt.
Fussballschule als Wirtschaftsfaktor
Solche Erfolgsmeldungen erhofft man sich bald auch in der Zentralschweiz. Die Fussballschule sei der Startschuss zur Sportstadt Emmen, versprach sich Gemeinderat Urs Dickerhof letztes Jahr. Der Luzerner Vorort kann ein neues Image brauchen, mit Stahl und Kunstfasern und dem immer leiser werdenden Flugplatz ist kein Staat mehr zu machen. 
Eine Erfolgsmeldung wie diese: «Wie Manuel Ruhstaller aus Stans, lange beim FC Luzern spielend und einer der allerersten Absolventen der bekannten Fussballschule Emmen, gestern an einer unerwartet einberufenen Pressekonferenz in Barcelona mitteilte, hat er heute einen Dreijahresvertrag unterschrieben. Über die Vertragssumme wollten beide Seiten keine Angaben machen.» Das wäre doch was. Jetzt aber muss Manuel an den Tisch: Bratkartoffeln, panierter Fleischkäse … «Alles Gebratene mag er», weiss das Mutterherz. Der Magen sollte nicht zu voll sein, wenn um 22 Uhr das Programm unerbittlich weitergeht: Tiefschlaf – volle acht Stunden lang und ohne eine einzige Pause.
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