«der arbeitsmarkt» 04/2015TEXT: Naomi JonesFOTO: Simone Gloor
Neue Familiengesetze

«Ein kleines Arbeitspensum ist bei einer Scheidung ein Armutsrisiko»

Unverheiratete und geschiedene Eltern teilen sich das Sorgerecht für ihre Kinder seit Mitte letzten Jahres standardmässig. Derzeit ist die Revision des Unterhaltsgesetzes in der Vernehmlassung. Regula Bühlmann, Zentralsekretärin für Gleichstellung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), erklärt, wie sich die neuen Familiengesetze auf die ökonomische Situation von Eltern auswirken.

Regula Bühlmann, finden Sie das geteilte Sorgerecht gut?
Als Signal finde ich das neue Gesetz sehr gut. Es gibt Vätern Verantwortung und ist von einem modernen Rollenverständnis geprägt. Aber es hat mit dem Lebensalltag der heutigen Familien oft nicht viel zu tun. Denn in den meisten Fällen bleibt das Kind von geschiedenen Eltern in der Obhut der Mutter, während der Vater Unterhalt zahlen muss und ein Besuchsrecht hat.

Weshalb ist das so?
Die Zuteilung hängt mit den Betreuungsverhältnissen vor der Scheidung zusammen. Gängig ist immer noch, dass ein Elternteil, meist der Vater, Vollzeit arbeitet und einer Teilzeit, meist die Mutter. Bei einer Scheidung oder Trennung können die Eltern ihre Arbeitspensen selten kurzfristig ändern. Ausserdem empfehlen Fachleute im Hinblick auf das Kindeswohl, dass sich mit der Scheidung der Eltern nicht alles ändern soll.

Inwiefern ist nun das neue Sorgerecht, das sich Eltern seit Juli 2014 standardmässig teilen, problematisch?
Zum neuen Sorgerecht gehört, dass die Eltern den Wohnort des Kindes bestimmen. Konkret darf die Person, bei der das Kind wohnt, meist also die Mutter, nicht ohne das Einverständnis des andern Elternteils umziehen. Denn um das Sorgerecht auszuüben, ist der regelmässige Kontakt zwischen Eltern und Kindern nötig. Die «Zeit» berichtete kürzlich von einer Mutter, die mit den Kindern von Zürich nach Basel gezogen war, was ihren Arbeitsweg halbierte. Die Grosseltern väterlicherseits wohnen in Basel, und der Vater arbeitet dort – der Kontakt mit den Kindern wäre in meinen Augen also möglich gewesen, auch wenn der Vater in der Gegend von Zürich wohnt. Zwei Wochen nach dem Umzug teilte die Zürcher Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) der Frau mit, dass die Kinder binnen zwei Wochen wieder ihre alte Schule in Zürich besuchen müssen.

Kann der regelmässige Kontakt zwischen Vater und Kindern nicht stattfinden, wenn der Vater in Zürich wohnt und die Kinder in Basel?
«Regelmässiger Kontakt» ist ein schwammiger Begriff. Wie der Kontakt aussehen soll und wie häufig er sein soll, definiert das Gesetz nicht. An dem sogenannten «Zügelartikel» stört mich besonders, dass er einseitig ist. Der Elternteil, bei dem die Kinder nicht wohnen, kann ins Ausland ziehen und muss den anderen Elternteil nur darüber informieren – obschon ein solcher Umzug die Ausübung des Sorgerechts sicherlich auch beeinflusst.

Wie kommt das?
Im Vorschlag des Bundesrats war ein gegenseitiges Einverständnis für einen Umzug vorgesehen. In der Vernehmlassung fiel dies jedoch heraus. Ich habe den Verdacht, dass viele Erwachsene vergessen, dass das Sorgerecht ein sogenanntes Pflichtrecht ist: Elternsein bedeutet nicht nur das Recht, die Kinder regelmässig zu sehen, sondern vor allem auch die Pflicht, Verantwortung für diese zu übernehmen.

Haben Sie Zahlen zu Problemen mit dem «Zügelartikel», oder ist die Geschichte aus der «Zeit» ein Einzelfall?
Es ist noch zu früh für aussagekräftige Zahlen; das Gesetz ist ja noch nicht lange in Kraft. Der «Zügelartikel» könnte streitenden Eltern die Gelegenheit bieten, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Allerdings: Schon bisher kämpften die Eltern nur in etwa fünf bis zehn Prozent der Scheidungen erbittert um das Sorgerecht. Fast die Hälfte der geschiedenen Paare teilte sich das Sorgerecht bereits vor der Gesetzesänderung. Dem SBG bereitet der «Zügelartikel» vor allem Kummer, weil er die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen gefährden kann. Vielleicht möchte eine Mutter mit den Kindern umziehen, weil sie eine bessere Stelle in Aussicht hat, oder sie möchte in die Nähe ihrer Verwandten ziehen, die sie bei der Kinderbetreuung unterstützen, damit sie ihr Erwerbspensum erhöhen kann. Der Zügelartikel erschwert dies.

In der Stadt Bern sind fast ein Viertel der alleinerziehenden Mütter, aber nur zehn Prozent der alleinerziehenden Väter von Armut betroffen. Weshalb ist das so?
Wenn Kinder bei ihren Vätern wohnen, sind sie in der Regel schon etwas älter und beanspruchen weniger Zeit für die Betreuung. Die Väter können also weiterhin Vollzeit oder in einem hohen Pensum arbeiten. Ausserdem sind ihre Löhne im Durchschnitt höher als die von Frauen. Die Mütter hingegen betreuen häufig kleine Kinder und sind entsprechend in einem kleineren Pensum erwerbstätig. Dazu kommt, dass sie bei einer Scheidung ihr Erwerbspensum nicht von heute auf morgen erhöhen können. Dass eine Frau, die sich hauptsächlich um die Familie gekümmert hat, bei einer Scheidung sogleich alles ändern kann, ist eine Illusion.

Das Gleiche gilt für unverheiratete Eltern. Deshalb sollen Kinder unverheirateter Eltern denen geschiedener Paare gleichgestellt werden. Das Unterhaltsrecht wird derzeit revidiert.
Ja, der Gesetzgeber versucht, die Situation aller Eltern aufzufangen. Er geht davon aus, dass ein Kind nebst Materiellem wie Essen und Kleidung auch Betreuung braucht. Reduziert nun ein Elternteil sein Erwerbspensum zugunsten der Kinderbetreuung, soll er für diesen Erwerbsausfall auch nach der Scheidung beziehungsweise Trennung einen Ausgleich erhalten – unabhängig davon, ob die Eltern zuvor verheiratet waren oder nicht.

Männerorganisationen wehren sich dagegen. Sie werfen dem Gesetzesentwurf vor, er zementiere alte Rollenbilder. Ist das so?
Im Zentrum des Gesetzesentwurfs steht das Kindeswohl. Bei einer Trennung der Eltern können und sollen sich nicht alle Verhältnisse von einem Tag auf den andern ändern. Wenn also vor der Trennung hauptsächlich die Mutter die Kinder betreut hat, empfehlen Fachleute, dass dies auch weiterhin so sein soll. Problematisch finde ich, wenn Männern zuweilen geraten wird, bei einer Scheidung ihr Arbeitspensum zu reduzieren und die Kinder intensiver zu betreuen, damit sie weniger bezahlen müssen. Hingegen finde ich diesen Rat während der funktionierenden Ehe sehr gut. Es geht um den Zeitpunkt.

Laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung 2013 tragen in Paarhaushalten 67 Prozent der Frauen die Hauptverantwortung für den Haushalt. Weshalb arbeiten nicht mehr Männer schon während der Ehe oder Paarbeziehung Teilzeit und übernehmen einen grösseren Anteil an der Familienarbeit?
Für viele Ehepaare lohnt sich der doppelte Verdienst finanziell nicht, wenn die Frau, die meistens den tieferen Lohn hat, mehr als 40 Prozent arbeitet. Aufgrund der Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung und auch der Steuerprogression hat eine Familie häufig mehr Geld im Portemonnaie, wenn der Mann 100 Prozent und die Frau vielleicht 40 Prozent arbeiten, als wenn beide beispielsweise 80 Prozent arbeiten würden. Aber gerade für Mütter mit einem kleinen Arbeitspensum ist das Armutsrisiko nach einer Scheidung besonders hoch.

Was heisst: ein kleines Pensum?
Pensen unter 50 Prozent sind zu klein, wenn es darum geht, die Existenz oder die Altersvorsorge zu sichern.

Was ist Ihr Fazit?
Gesetze können gesellschaftliches Ungleichgewicht verschärfen oder entschärfen. Das Unterhaltsrecht sollte das Armutsrisiko von Alleinerziehenden entschärfen. Aber der Vorschlag ist ungenügend. Wie im alten Unterhaltsrecht fehlt die sogenannte Mankoteilung.

Können Sie das erklären?
Sagen wir, ein Ehepaar arbeitet zusammen 150 Prozent. Der Mann Vollzeit, die Frau Teilzeit. Beide arbeiten in Berufen mit eher tiefen Löhnen. Für einen gemeinsamen Haushalt mit Kindern reicht das Geld, nicht aber für zwei getrennte Haushalte. Nach der Trennung wohnen die Kinder bei der Mutter, und der Vater zahlt Unterhaltsbeiträge. Diese berechnen sich nach seinen finanziellen Möglichkeiten und können dementsprechend tief sein. Das Existenzminimum des Vaters wird nämlich nicht angegriffen. Für die Mutter und die Kinder reicht das Geld nicht. Die Mutter muss sich an die Sozialhilfe wenden. Der Vater nicht. Das Manko, der Fehlbetrag in der Familienkasse, wird also nicht geteilt, sondern allein von der Mutter getragen. Der Gesetzgeber muss eine Lösung suchen, bei der beide Eltern das finanzielle Risiko einer Scheidung tragen – schliesslich haben sie auch die Entscheidung für eine bestimmte Betreuungssituation gemeinsam getroffen.

Der Ständerat hat letzten Dezember den Gesetzesentwurf zum revidierten Unterhaltsrecht gutgeheissen und um eine mögliche alternierende Obhut ergänzt. Was bedeutet dies, und was halten Sie davon?
Das Gericht oder die KESB muss die Möglichkeit prüfen, dass das Kind etwa zur Hälfte beim Vater und zur Hälfte bei der Mutter wohnt, wenn ein Elternteil dies verlangt. Mir behagt dies wenig. Einerseits denke ich, dass die Situation für die Kinder eher problematisch wird, wenn ein Elternteil die alternierende Obhut nicht will. Andererseits befürchte ich, dass einige Väter die alternierende Obhut verlangen könnten, um finanziellen Druck auszuüben. Der Gesetzgeber muss sich also gut überlegen, wie die Behörden kontrollieren sollen, ob beide Eltern ihre Verantwortung gegenüber dem Kind wahrnehmen und sich auch mühsame Aufgaben wie etwa Arztbesuche teilen. Wenn sich die Eltern einig sind, kann die alternierende Obhut aber durchaus eine Chance sein, denn sie ermöglicht, dass sich die Eltern bezahlte und unbezahlte Arbeit fair aufteilen. Dies muss grundsätzlich das Ziel für alle Eltern sein – ob getrennt oder nicht.

Das Gesetz wäre also gut, die Realität ist es aber noch nicht. Was kann geschehen, damit sich das Gesetz fair umsetzen lässt?
Wichtig ist, dass endlich die Lohngleichheit durchgesetzt wird. Im Gesetz ist sie zwar verankert, trotzdem unterscheiden sich die Löhne von Männern und Frauen um rund zwanzig Prozent. Der Bundesrat will nun Arbeitgeber gesetzlich verpflichten, regelmässig eine Lohnanalyse durchzuführen und diese durch Dritte kontrollieren zu lassen. Bisher appellierte er in Sachen Lohngleichheit an die Arbeitgeber, die sie freiwillig praktizierten oder eher nicht. Aber bei welchem anderen Gesetz ist die Einhaltung freiwillig? Ausserdem müssen wir mit den negativen Erwerbsanreizen aufräumen. Zurzeit ist eine traditionelle Rollenverteilung für die meisten Familien lukrativer als die gleichmässige Verteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit. Es darf aber nicht sein, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen für Familien – aufgrund von Krippenkosten und Steuern – ein Verlustgeschäft ist. Ideal wäre, wenn beide Eltern schon während der Ehe je etwa 80 Prozent arbeiten könnten. Das sichert im Fall einer Trennung oder Scheidung die Existenz von beiden und schränkt die Karriere nicht zu sehr ein.

 

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