«der arbeitsmarkt» 10/2014TEXT: Joël FreiFOTO: Daniel Uhl
Fahrende

«Ein Jenischer hat mindestens zwanzig Berufe»

Es ist schwierig, eine Berufsbezeichnung für Venanz Nobel zu finden: In vielen Gebieten ist er tätig. Der jenische Publizist über die Suche nach seiner verloren geglaubten Familie, die Arbeitswelt der Jenischen und warum er auch als Sesshafter seine jenische Kultur gut leben kann.

Venanz Nobel, Sie verfassten mehrere Publikationen zur jenischen Geschichte. Wie sind Sie zum Historiker geworden?
Durch meine Familiengeschichte. Ich bin ein «Barfusshistoriker», habe kein Geschichtsstudium an der Universität absolviert. Ich mache sogenannte «Geschichte von unten». Die Nobel waren eine «Kinder der Landstrasse»-Familie. Ich selber aber war kein Opfer.

Ihr Vater wurde als Kind von diesem «Hilfswerk» der Pro Juventute von seiner jenischen Familie getrennt. Er wuchs bei bürgerlichen Pflegeeltern auf. Wann und warum nahmen Sie Kontakt zu Ihren jenischen Familienmitgliedern auf?
Ich wuchs mit dem Wissen auf, ein «unwissendes Zigeunerkind» zu sein. Das Ende der «Kinder der Landstrasse» im Jahr 1973 war eine wichtige Zäsur. Im Alter von zwanzig Jahren begann ich, die Suche meines Vaters nach seinen Wurzeln weiterzuführen. Auf der Suche nach meiner jenischen Identität war für mich wichtig, mehr über die Zusammenhänge in der Geschichte der Jenischen, aber auch mehr über meine Familie zu erfahren. Ich fand sie bei den sogenannten «Fahrenden» wieder: Onkel, Tanten, Cousins, die stark in der Community verwurzelt sind. Ich bin sehr politisch denkend aufgewachsen und geprägt von meinen Eltern, die sich gegen Ungerechtigkeiten gewehrt haben. Meine Grosseltern gingen bis vor Bundesgericht, um ihre Söhne und Töchter zurückzubekommen. Auch ich wollte mich für die Rechte der Jenischen einsetzen.

25 Jahre lang waren Sie auf Reisen, beschlossen dann aber, wieder in eine Wohnung zu ziehen. Warum?
Ende der 1990er-Jahre wurde das Reisen immer schwieriger. Damals lebte ich mit meiner Frau in einem selbst restaurierten Holzwohnwagen. Wir hatten uns zwar ein wunderschönes Zuhause aufgebaut, waren aber nicht so mobil, wie die moderne Gesellschaft sich vorstellte, wie mobil ein «Fahrender» zu sein hat. Die Leute sagten oft, als wir den Wohnwagen am Waldrand abstellten: «Warum seid ihr noch immer da? Ihr seid doch Fahrende!» Nomadisch leben aber hiess nie, ins Flugzeug zu steigen und möglichst schnell von einem Ort an den andern zu gelangen. Jenische bewegen sich in einem Gebiet, wo sie ihre Stammkunden haben. 

Wie lange blieben Sie an einem Ort?
Auf den Durchgangsplätzen gilt die Regel: Höchstaufenthaltsdauer ein Monat. War ich nach einem Monat nicht pünktlich weg, bekam ich grosse Schwierigkeiten. Das kann bis zu einer Wegweisungsverfügung oder einem Platzverbot führen. Ich stellte fest, dass ich nur für mein eigenes Überleben und Dasein kämpfte und Rekurse schrieb, damit ich noch ein wenig länger an einem Ort bleiben konnte. Um meine eigene Freiheit zurückzuholen, entschied ich mich, wieder in einer Wohnung zu leben. Das ist eben jenisch: in eine Wohnung zu ziehen, wenn das im Moment besser für einen stimmt.

Sie sind gelernter Kaufmann, auf Reisen hausierten Sie aber auch als Scherenschleifer, handelten mit Altmetall und Antiquitäten und führten die Buchhaltung von Gewerbebetrieben. Das Reisen schränkt also die Berufswahl nicht ein?
Ein altes jenisches Sprichwort besagt: «Ein richtiger Jenischer hat mindestens zwanzig Berufe.» Schauen wir die Situation heute an: Etwa 30 000 Jenische leben in der Schweiz, wovon circa 3000 reisen. Diese fahrenden Jenischen passten ihre Berufe an. In den 1970er- bis 1990er-Jahren waren sie oft Antiquitäten- und Flohmarkthändler. Dann, zu der Zeit, als die Altmetallpreise hoch waren, handelten viele Jenische mit Metall. Flexibilität ist gefragt: Häuser sind zu renovieren, Maler- oder Dachdeckerarbeiten stehen an. Ich kann aber auch – wie ich in meinem Büro – jenisch leben, indem ich nach einem selbstbestimmten Tages-, Wochen- und Jahresablauf arbeite.

Bestehen bei den Jenischen typische Frauen- oder Männerberufe?
Ja und nein. Wir sind auf unsere Geschäftspartner und darauf, was diese brauchen, angewiesen. Zwei Beispiele: Da, wo der Altmetallhandel gut läuft, hausiere ich nicht und frage an jeder Haustüre, ob ich den alten Kupferkessel im Keller abkaufen kann. Dort arbeite ich mit Betrieben zusammen und kaufe ihnen Altmetall in grossen Mengen ab. Dieses Gewerbe ist männerdominiert, jenische Männer reden daher mit dem Spengler. Läuft ein Gewerbe gut, bei dem das Hausieren im Vordergrund steht, beispielsweise das Scherenschleifen oder der Tuchhandel, dann machen dies eher Frauen. Hausiere ich, macht in der Regel eine Frau – alleine oder mit den Kindern – die Tür auf. Die Frau schaut durch den Türspion hindurch und sieht einen fremden Mann. Diese Tür geht für mich oft nicht auf. Darum erledigen Frauen und Männer jene Arbeiten, die am besten machbar sind.

Jenische Organisationen fordern die Aufhebung des Kinderarbeitsverbots ab zwölf Jahren. Warum sollen jenische Kinder arbeiten?
Wir wollen das Kinderarbeitsverbot nicht aufheben und Kinderarbeit oder gar Sklavenarbeit wieder einführen! Das Kinderarbeitsverbot erlaubt Ausnahmen bei der Mithilfe im Familienbetrieb. Jeder Bauer darf seine Kinder beispielsweise zum Heuen mitnehmen. Damit wachsen die Kinder in ihre bäuerliche Kultur hinein. Nomadische Familien kommen aber teilweise mit dem Gesetz in Konflikt, weil sie anders strukturiert sind: Wir sind in Grossfamilien unterwegs. Wenn ich einen gefährlichen Auftrag wie Dachdecken ausführe, möchte ich meinen zehnjährigen Sohn nicht mitnehmen, ihn aber auch nicht alleine im Wohnwagen zurücklassen. Warum soll er dann nicht mit meinem Cousin mitgehen, der als Scherenschleifer arbeitet? Im Moment aber, in dem der Kleine nur neben meinem Verwandten herläuft, gilt dies im Gesetz als Kinderarbeit. Wir möchten, dass jenische Grossfamilien gleich behandelt werden wie Familienbetriebe.

Wie bringen die Jenischen Schulbildung für ihre Kinder und das Reisen unter einen Hut?
Für die 27 000 Jenischen, die sesshaft sind, ist dies kein Problem. Die Kinder dieser Familien fallen im Schulsystem nicht auf, weil sie das ganze Jahr zur Schule gehen. Diese Kinder haben eher das Problem, dass sie nicht als Jenische wahrgenommen werden, weil sie nicht dem Klischee der «Fahrenden» entsprechen und die Schule nichts über Jenische vermittelt. Meine Tochter musste sehr damit kämpfen, dass sogar Lehrer in der Oberstufe keine Ahnung hatten, wer die Jenischen überhaupt sind. Die Jenischen als jahrhundertealter Bestandteil der Schweizer Kultur und der Schweizer Volksmusik: Dies vermittelt die Schule überhaupt nicht, nicht einmal in den musischen Fächern. Bei den fahrenden jenischen Familien gehen die Kinder von Frühling bis Herbst auf Reisen mit, bleiben im Winterhalbjahr an einem Ort, und die Eltern schicken ihre Kinder dort in die Schule.

Wie gross ist der Stellenwert der Bildung unter den fahrenden Jenischen?
Da kommt die ganze Bandbreite vor. Ich kenne fahrende Familien, die sich zusammentaten, um aus eigenen Mitteln ein 25-Prozent-Pensum einer Lehrerin zu zahlen. Einmal pro Woche fahren sie die zehn Kinder zur Lehrerin nach Hause, wo sie diese in ihrer Stube unterrichtet. Diesen Familien ist das Leben der jenischen Kultur wichtig, sie wollen aber auch, dass ihre Kinder den Wiedereinstieg in die Schule im Herbst problemlos schaffen. Von den fahrenden Jenischen machen nur wenige das Gymnasium oder gehen studieren. Einige kritisieren das Schulsystem der Mehrheitsgesellschaft fundamental: Sie sagen, es würde ihre Kinder von der jenischen Kultur entfremden, entreissen. Aus diesem Grund bemühen sie sich, ihre Kinder möglichst gar nicht in die Schule zu schicken, und haben dann Probleme mit den Behörden.

Als «Fahrende» im April ein Protestcamp im Berner Wankdorf errichteten, um für mehr Standplätze zu demonstrieren, löste die Polizei das Lager gewaltsam auf. Ein Arbeitgeber erkannte seinen Mitarbeiter in der Zeitung als Jenischen und kündigte ihm. Ein Fall von Diskriminierung?
Ja, ganz klar. Mir ist einmal etwas Ähnliches passiert. Ich arbeitete während mehrerer Monate in einer Firma, leistete einen guten Job. Dann sagte der Chef, dass eine weitere Arbeitskraft nötig sei, um das Team zu verstärken. Am nächsten Tag brachte ich einen Kollegen mit und empfahl ihn dem Chef. Der Kollege hatte einen etwas dunkleren Hautteint und – der Teufel wollte es – hatte einen Nachnamen, den der Chef als jenisch identifizierte: «Wie heissen Sie? Vazer? Nein, tut mir leid, die Stelle ist schon besetzt.» Über Nacht konnte er unmöglich einen anderen gefunden haben. Also sagte ich zum Chef: «Weisst du was, hier hast du meine Arbeitskleidung zurück. Ich hätte gerne den Zahltag. Du kannst dir zwei neue Arbeiter suchen.»

Die Geschichte der Jenischen ist seit Beginn eine Geschichte der Ausgrenzung. Im 18. Jahrhundert wurden sie in so genannten «Gaunerlisten» erfasst. Im Zweiten Weltkrieg schoben die Schweizer Behörden Jenische nach Nazideutschland ab. Bis in die 1970er-Jahre nahm das «Hilfswerk» der Pro Juventute ihnen die Kinder weg. Warum diese Ausgrenzung? 
Das Thema ist vielschichtig: Das fahrende Volk wurde im späten Mittelalter von der Aristokratie und nicht vom gemeinen Volk ausgegrenzt. Die Aristokraten bekämpften den Nomadismus, weil ihnen die Ungebundenheit und die Unkontrollierbarkeit ein Dorn im Auge waren. Der Nomade galt als besonders freiheitsliebend. Später, in der frühen Neuzeit, nahm die romantisierende Literatur dieses «positive Vorurteil» wieder auf: Sie beschrieb die Nomaden als ungebunden, freiheitsliebend und wild. Die Schriftsteller stammten aus dem Bürgertum, und ihre Werke spiegelten die Denkwelt der oberen Schichten wider. Die Romantisierung und die Ausgrenzung sind wie die zwei Seiten derselben Medaille: Die gleiche Wahrnehmung führt zu zwei verschiedenen Ergebnissen.

Inwiefern spielte die Eintreibung von Steuern eine Rolle?
Das war ein sehr wichtiges Element bis in die jüngste Geschichte. Ich erinnere mich noch gut, als 1985 die Jenischen zum ersten Mal demonstrierten, so ähnlich wie diesen Frühling in Bern. Wir besetzten neben dem Verkehrshaus in Luzern einen Platz. Wir sassen als Vertreter der Jenischen mit den Regierungsräten an einem Tisch und verhandelten. Damals stellte jeder Kanton eigene Hausierpatente aus, die teilweise exorbitant teuer waren – mehrere hundert Franken pro Monat. Wir fragten den Regierungsrat, warum das Patent in Luzern ebenfalls teuer sei. Er sagte: «Eure Vorfahren zahlten keine Steuern, und auf diesem Weg trieben wir Geld ein.» Worauf wir antworteten, dass dies vor 100 Jahren so gewesen sei und wir heute als Selbständigerwerbende Steuern zahlen würden. Das teure Patent belaste uns doppelt. Da lächelte der Regierungsrat und meinte: «Haben Sie schon einmal erlebt, dass der Staat eine Einnahmequelle freiwillig aufgibt?»

In der Stiftung «Zukunft Schweizer Fahrende» bestimmen Sie mit. In einer Welt, wo alle miteinander vernetzt sind und wo Unternehmen von den Mitarbeitenden Mobilität fordern: Wie sehen Sie die Zukunft der «Fahrenden»?
Hier in Basel kommt bei Novartis alle zwei Wochen eine neue Gruppe Inder an. Die Mitarbeiter, die ersetzt werden, ziehen weiter. Diese «Büronomaden» sind die mobilsten Nomaden heutzutage. Wir Jenischen machen Geschäfte übers Internet und sind immer up to date. Die fahrenden Jenischen surfen Tag und Nacht im Internet dank Mobilfunknetz. Kamen die Jenischen zum Schluss, dass eine Technologie für sie sinnvoll sei, dann übernahmen sie diese, etwa bei der Erfindung des Autos oder des Mobiltelefons. Erleichtern neue Technologien uns den Alltag, dann gehören wir zu den Ersten, die diese nutzen. Jenische werden auch in 50 und 100 Jahren noch ihre Kultur leben und, überlebensfähig wie sie sind, sich auch an die neue Zeit anpassen. 

Venanz Nobel,
58, ist ein jenischer Journalist und Historiker und publizierte zur Geschichte der Jenischen. Er machte eine Lehre als Kaufmann. Auf Reisen hausierte er jeweils als Scherenschleifer, handelte mit Altmetall und führte die Buchhaltung kleiner Gewerbebetriebe. Zudem verkaufte er Antiquitäten übers Internet. Venanz Nobel lebt zurzeit in einer Wohnung und arbeitet freiberuflich als Buchhalter in Basel. Er ist Vizepräsident des Vereins «schäft qwant», der die Zusammenarbeit der jenischen Organisationen über die Landesgrenzen hinaus fördert. Er ist zudem Stiftungsrat in der vom Bund gegründeten Organisation «Zukunft Schweizer Fahrende».
  
 

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