«der arbeitsmarkt» 12/2006

Edelgas vom Klo

Wer in der Agglomeration Luzern sein Geschäft wegspült, treibt Autos an.

Kein Bademeister kann Jürg Meyer das Wasser reichen. «Im Prinzip sind es ja 25 Olympiabecken», witzelt er. Meyer ist der grosse Entsorger in der Region Luzern, er hat die Kehrichtverbrennung und die Kläranlage unter sich. Die Hand braucht er gar nicht erst auszustrecken. Sie sind im Moment so ziemlich das Einzige, was hier zu sehen ist: ein Klärbecken nach dem andern. Es flutet und sprudelt von nah bis fern, mal ziemlich braun, mal weniger. «Wir haben Millionen von Mitarbeitern», trumpft er auf. Zu sehen ist aber lediglich René Bischof, der Informationsbeauftragte. Dieser korrigiert die Zahl des Chefs weiter nach oben. Natürlich sind es Milliarden, die hier arbeiten, gefrässige Mikroorganismen, die hilfreichen Zersetzer, Vergärer und Verfauler – die geniale Erfindung der Natur, für die es keine Abfälle gibt, solange etwas organisch ist.
123 Millionen Liter Abwässer schwappen jeden Tag durchschnittlich in die Abwasserreinigungsanlage (ARA) hier am Rand von Emmen. Das Vorstellungsvermögen kann damit wenig anfangen, besser stellen wir uns einen Würfel mit 50 Meter Kantenlänge vor. Und dieser Koloss ist gefüllt mit all dem, was aus der Spüle, dem Lavabo, der Dusche, dem WC und aus den Wasch- und Spülmaschinen aus den Wohnungen in die Kanalisation wegrauscht. Von Gewerbe und Industrie ganz zu schweigen. Eine schöne Brühe! Was hier zusammenfliesst, kommt aus den Gemeinden Adligenswil, Emmen, Horw, Kriens, Littau, Luzern, Malters, Meggen und Rothenburg. Das Abwasser von fast einer Viertelmillion Menschen.

Der Überschuss wird ins Gasnetz eingespeist

Die ARA Region Luzern ist eine der modernsten in der Schweiz. Gerade eben hat sie feierlich eine sechsjährige Bauzeit beendet. Gegen achtzig Millionen Franken wurden dabei in die Erweiterung investiert. Die Reuss, die das gereinigte Wasser zu schlucken hat, dankt natürlich für jede Optimierung des Klärprozesses.
Nach zehn Tagen haben die Mikroorganismen in den Klärbecken einen wichtigen Teil der Arbeit getan. Der Klärschlamm wird vom Wasser getrennt und kommt in den Faulturm. Die Mikroben werden zurückgeschwemmt für eine nächste Arbeitsrunde von zehn Tagen. Im Faulturm, unter Luftabschluss, fault der Schlamm aus. Es köchelt und brodelt dort drin, es entsteht Klärgas. «Davon fallen jährlich etwa zwei Millionen Kubikmeter an, die in den Gasometer gelangen», erklärt Meyer. «Im Blockheizkraftwerk verstromen wir den Grossteil. Das reicht für etwa 800 Haushaltungen.» Das Blockheizkraftwerk ist eine Anlage, die bei der Stromerzeugung viel Abwärme entwickelt, die wiederum genutzt wird – vor allem betriebsintern, denn der Faulturm muss immer die ideale «Körpertemperatur» von 37 Grad haben, damit die Fäulnisvorgänge optimal ablaufen können. Erst wenn der Schlamm nichts mehr hergibt, wird er verbrannt und die Schlacke auf der Deponie entsorgt. Die ARA versorgt auch den Windkanal der nahen RUAG Aerospace am Flugplatz Emmen mit Wärme. Und natürlich die eigenen Verwaltungsgebäude. Es kam aber dennoch immer wieder zu Gasüberschüssen, die abgefackelt werden mussten. Sinnlos verpuffte Energie.
Meyer: «Es stellte sich die Frage, weil wir selber immer weniger Gas brauchten, ob ein zweites Blockheizkraftwerk Sinn machen könnte. Oder eine Alternative? Wir haben eine Ökobilanz erstellt.» Und diese ergab, dass es sinnvoller ist, wenn die ARA das Klärgas selber reinigt und die ewl (Energie Wasser Luzern) eine Leitung bis zur Kläranlage zieht. «Wir haben voll auf so eine Anlage gesetzt und haben uns Beispiele angeschaut, etwa in Stockholm.» Während die Schweden die technisch leichter machbare Lösung wählten, indem sie das Gas direkt in Druckflaschen abfüllen, wollten die Luzerner – nachdem dank dem Energiefonds der Stadt die Finanzierung gesichert war – auf noch feinsinnigere Technologie setzen. Bischof erklärt das Problem so: «Wer direkt ins Gasnetz einspeist, muss beste Qualität liefern. Unser Gas muss chemisch genau die gleiche Zusammensetzung haben wie das Erdgas, das zum Beispiel die Russen liefern. Beim Öl kann man ja auch nicht gutbrennendes mit schlechterem vermischen.»

ARA-Gas ist von der Mineralölsteuer befreit

Vor gut zwei Jahren kam das Wunder der Technik auf zwei Sattelschleppern aus Deutschland in Emmen an. Und es sieht heute, fertig montiert und im Einsatz, enttäuschend unspektakulär aus. Wie das fensterlose Liftmotorenhaus auf einem Flachdach. Doch das Eingeweide zählt. Das Röhrenwirrwarr hat eineinhalb Millionen Franken gekostet und muss einiges können. Das Klärgas durchläuft hier vier Prozesse, bis es «Edelgas» ist und den Normen für die Einspeisung entspricht. Gasverdichtung, Gastentschwefelung, Gastrocknung, Methananreicherung heissen die Stationen. Ein Viertel ihrer Klärgasmenge – jährlich etwa 540000 Kubik-
meter – drückt die ARA durch diese Anlage.
Schweizweit ist es einmalig, dass eine Kläranlage direkt ins Netz einspeist. Wohl aber nicht mehr lange. Denn der unscheinbare Blockbau ist zur Pilgerstätte geworden, In- und Ausländer kommen in die Zentralschweiz, die Anlage ist zur Nachahmung empfohlen.
Die Abnehmerin ewl verkauft das Gas an ihrer Biogas-Tankstelle in Luzern-Kriens weit billiger als das echte Erdgas. Denn weil das ARA-Gas aus nachhaltiger, unversiegbarer Quelle stammt – unsere Nachfahren werden ja voraussichtlich auch in hundert Jahren noch eine Art WC benutzen –, ist es von der Mineralölsteuer befreit. Das jährlich aufbereitete Gas entspricht dem Energiewert von 390000 Litern Benzin. «Die Nachfrage steigt kräftig», schwärmt Meyer. Weil in Horw sogar ein Kehrichtfahrzeug mit diesem Gas fährt, lässt er sich in der Begeisterung zu einem Kalauer hinreissen: «Mit eusne Fürz gosch nochher no go Kehricht isammle.» Ein anderer Slogan lautet: Jeder Plumps ist Energie. Meyer ist in besonders guter Stimmung heute. Und bald stellt sich auch heraus, warum. «Wissen Sie, was wir heute gekauft haben?» Pause. «Eine Anlage, die aus unserer Schlacke eine Tonne Aluminium pro Tag herausholt.» Meyer leitet ja auch die KVA, die Kehrichtverbrennungsanlage, und ist in Gedanken ständig multipel am Recyclen. Bischof erklärt: «Das Prinzip ist die Wurfparabel. Im Gegensatz zu Eisen schmilzt und verklumpt Aluminium im Ofen. Wenn diese neue Anlage die Schlacke ausspuckt, fliegt das Aluminium einfach weiter, weil es leichter ist, und ist damit schnell sortiert.» So kommt also auch noch das wenige Aluminium, das nicht zu den Sammelstellen gefunden hat, wieder in den Kreislauf zurück – und die Schweiz baut ihren Vorsprung als Alusammelweltmeister weiter aus. 

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