«der arbeitsmarkt» 06/2007

Durchzogene Aussichten

Viele Tourismusgebiete verzeichneten im Jahr 2006 Rekorde – allerdings auch auf Kosten anderer Destinationen. Um neuen Zielgruppen und veränderten Bedürfnissen gerecht zu werden, sind innovative Strategien gefragt.

Für Roland Imboden, 36, Direktor von Zermatt Tourismus, herrscht momentan auch an trüben Tagen Sonnenschein. «Bei uns ging diesen Winter die Post ab.» Tatsächlich konnte das Zugpferd der Walliser Feriendestinationen in seiner Geschichte noch nie so viele Übernachtungen verzeichnen wie letztes Jahr: Rund 1,86 Millionen Mal nächtigten Gäste in der vergangenen Winter- und Sommersaison am Fusse des Matterhorns. Doch die erfreulichen Zahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass beim Schweizer Tourismus immer noch vieles im Argen liegt.

Allotria bei Après-Ski und Alkohol

16. März 2007: Die Zermatter Jugendherberge liegt ein wenig abseits vom Zentrum. Der riesige Bau mit seinen grauen Neben-gebäuden hebt sich unvorteilhaft von den schmucken Walliser Chalets ab. An der Rezeption herrscht Grossandrang. Zumindest eilweise verantwortlich dafür ist ein Partyveranstalter. Er bot
zwei Übernachtungen in der Jugi für unter hundert Franken an, inklusive Eintritt für zwei Partys. Junge Leute sind teilweise aus Zürich, Basel oder Bern angereist, um im Wallis tüchtig einen draufzumachen. Sie heben sich altersmässig deutlich von den restlichen Gästen der Herberge ab. Denn die meisten anderen sind allenfalls noch im Geist jugendlich. Viele haben Kinder dabei, manche sogar Grosskinder. «Ein Hotel könnten wir uns in der teuren Schweiz nicht leisten», sagt Annette. Die 42-jährige Allgäuerin ist soeben mit dem gesamten Kegelverein angekommen. Sie bildet mit ihren Kameraden eine fröhliche Runde um einen der beiden Holztische auf dem Vorplatz der Jugendherberge. Auf dem Tisch stehen mitten am Nachmittag eine Flasche Kirsch und eine Kiste Bier. Alles aus Deutschland importiert – im Reisebus. Denn schliesslich sei auch der Schnaps in der Schweiz viel zu teuer.
Nicht alle teilen diese Ansicht. Es ist noch nicht Abend, doch der «Papperla Pub» an der Zermatter Steinmattenstrasse ist brechend voll. Eine Band spielt Rockklassiker. Es macht den Anschein, als sei das Barpersonal wegen seines Aussehens eingestellt worden. Das Publikum hat die Contenance bereits weitgehend verloren. Nur wenige Rotgesichter sind auf die Walliser Sonne zurückzuführen. Bier und Schnaps fliessen in Strömen. Vor allem Russen und Engländer liegen sich alkoholselig in den Armen. Um die durch Schnaps und Skihosen herbeigeführten Hitzewallungen zu lindern, haben sich viele Gäste oben weitgehend frei gemacht. Das Geld sitzt locker, trotz der stolzen Preise im Pub. Laut einer Schätzung der Wirtschaftszeitung «CASH» gaben Gäste im letzten Jahr alleine in Zermatt rund 410 Millionen Franken aus. Für Übernachtung, Essen, Bahnen, Souvenirs und… Alkohol. Après-Ski ist wieder hoch im Kurs. Denn für viele ist Wintersport immer noch untrennbar mit Party verbunden.

Mittelklassehotellerie unter Druck

Viele betrachten mit Argwohn, dass das vergnügungssüchtige Volk unsere Heidi-und-Peter-Idylle stürmt. Vor allem Einheimische sehen es nicht gerne, wenn ihre Kinder auf dem Heimweg von der Schule schwankenden und grölenden Touristen begegnen. Und keiner schätzt morgens gelben Schnee vor seiner Haustür. Noch vor wenigen Jahren wurden über einschlägige Besäufnisdestinationen wie Mallorca oder Ibiza die Köpfe geschüttelt. Heute geht der Trend in vielen Schweizer Wintersportorten in eine ähnliche
Richtung. Die Alpen, der neue Ballermann?
Für Daniela Bär, Leiterin Corporate Communications der nationalen Marketingorganisation Schweiz Tourismus, besteht kein Grund zur Besorgnis. Die Schweiz sei eben sehr vielseitig. Sie biete  ein «pulsierendes, urbanes Leben einerseits» und «alpine Frische, Ruhe und Beschaulichkeit andererseits». Zu dieser Vielfalt gehöre auch das Partyleben. Allerdings: «Der Ballermann wird mit Massen- und Billigtourismus in Verbindung gebracht. Beides werden wir in der Schweiz nie vorfinden.»
Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste: Die Masse der Partyhungrigen strömt vor allem wegen der günstigen Flüge, Hotels und der tiefen (Alkohol-)Preise auf die Balearen. Die Schweiz wird in den letzten beiden Punkten wohl niemals konkurrenzieren können. Fakt ist jedoch, dass die Konjunktur weltweit angezogen hat. Die Menschen haben wieder mehr Geld. Auch die Deutschen, die hierzulande den grössten Anteil der ausländischen Touristen ausmachen. Dennoch sind sie sparsamer geworden. Dafür verantwortlich sind zum Teil die finanziellen Lasten der Wiedervereinigung, welche sich auf die deutsche Volkswirtschaft niederschlugen. Eine «Geiz ist geil»-Mentalität hat sich verbreitet. Und das Ferienbudget ist nun mal der erste Posten, der gekürzt wird. Laut Statistik geben Deutsche deshalb im Schnitt dreimal weniger Geld aus als beispielsweise Russen.
In Russland, China oder Indien gilt es als chic, die Ferien in der Schweiz zu verbringen. Und jene Gesellschaftsschicht, die vom wirtschaftlichen Boom dieser Länder überdurchschnittlich profitierte, kann sich solche auch leicht leisten. Russen reisen deshalb in der Regel mit dem Flieger an, übernachten in hochklassigen Hotels und kümmern sich auch beim Konsum wenig um die Kosten. Deutsche hingegen vergleichen Preise, buchen eher in Pensionen und können schon rein sprachlich eine Speisekarte besser beurteilen. Diese Konstellation bringt die Schweizer Ferienindus-trie in Bedrängnis. Die Fünfsternehotels boomen, das ehemalige Zielpublikum der mittelklassigen rutscht zunehmend ins Einsternesegment ab, die Dreisternehotellerie gerät unter Druck. Und die macht immerhin die Hälfte aller Schweizer Hotels aus.
Doch die sich öffnende Preisschere stellt für die Schweizer Ferienindustrie ein eher kleineres Problem dar. An sie kann sie sich mit relativ geringem Aufwand anpassen. Etwas anderes gibt viel mehr Grund zur Besorgnis: Während hochalpine Destinationen das letzte Jahr feiern, herrscht bei tiefer gelegenen Katzenjammer. Einige Skiregionen der Zentralschweiz etwa verzeichneten 2006/2007 die schlechteste Wintersaison seit 50 Jahren. Grund dafür ist der Schneemangel. Der Stoos bei Schwyz zum Beispiel konnte während der gesamten Saison die obere, felsige Sektion des Fronalpstocks nicht für den Pistenbetrieb frei geben. Es lag schlicht zu wenig Schnee. Verärgerten Saisonkartenbesitzern versprachen die Innerschweizer im kommenden Winter Genugtuung. Sie erhalten den Saisonpass gratis. Es ist zu hoffen, dass Frau Holle sich gnädiger zeigen wird. Darauf zählen kann keiner.

Die neue Beschaulichkeit

«Die Klimaveränderung wird viele Wintersportorte herausfordern. Sie müssen handeln, neue Angebote und Strategien entwickeln und sich punktuell neu positionieren», erklärt Daniela Bär. Und so sind neue Marketingideen gefragt. Am nächstliegenden wäre es, wieder vermehrt auf die Karte Sommertourismus zu setzen.
So wie vor 100 Jahren. Damals kam es keinem in den Sinn, sich in halsbrecherischem Tempo die Berge runterzustürzen. Man genoss die klare Bergluft und die grandiose Kulisse der Schweizer Berge vor allem zur warmen Jahreszeit. Beschaulichkeit war Trumpf. Heute geht es zum Teil wieder in diese Richtung. Es hat sich ein Gegentrend zur Vergnügungssucht entwickelt. Viele suchen Ruhe und Kraft in Langsamkeit und Genuss. Deshalb setzt Schweiz Tourismus in ihrem aktuellen Kommunikationsauftritt bewusst auf die Karte Gemütlichkeit. «Get natural» oder eben «ganz natürlich» lautet ihr Slogan. Ein urchiger Älpler etwa, der den Weg weist, soll das Schweizer Pendant zu GPS darstellen. Eine beschauliche Alp mit Konferenztisch «unser Sitzungszimmer». Ob die Kampagne dazu verhelfen wird, die Schweiz in den Köpfen der Massen wieder als Sommerdestination zu etablieren, wird die Zukunft zeigen.
13. Mai 2007: In Brunnen SZ ist schönstes Wetter. Die Strassencafés am See sind bis auf den letzten Platz besetzt. Unzählige Menschen flanieren am Quai. Ab und zu spucken mächtige Schaufelraddampfer weitere Massen an Land. Es herrscht akuter Parkplatzmangel. Vor allem Autos mit Zürcher Kennzeichen bevölkern die Strasse. Tagestouristen. In den goldenen Zeiten Brunnens gab es im 8000-Seelen-Dorf nicht weniger als vier Grandhotels. Eines wurde in ein Luxus-Appartementhaus umgewandelt, eines in eine Privatklinik und eines wird demnächst abgerissen. Nur der «Waldstätterhof» am See bleibt trotzig bestehen. Er hält sich vor allem dank Seminargästen über Wasser. Diese generieren laut Direktor Alois von Reding 45 Prozent des Umsatzes. Übernachtungen von ausländischen Feriengästen sind in den letzten dreissig Jahren rapide zurückgegangen.
«Die ausländischen Gäste kommen nicht mehr», erklärt Alois Horat, Besitzer des Hotels «Elite». «Heute leben wir von der Restauration, von den Tagestouristen. Das sind meistens Schweizer. Die Ausländer fahren bloss noch durch.» Dabei ist die Kulisse am Vierwaldstättersee nicht weniger eindrucksvoll geworden. «Es ist die schönste Landschaft der Welt», meint Horat sogar. Deshalb glaubt der 47-Jährige an die Zukunft des Standorts Brunnen. Er hat in den letzten Jahren über drei Millionen Franken in seinen Betrieb investiert. Unter anderem hat er drei Mehrbettzimmer eingerichtet, im Stil einer Herberge. «Die Gästebedürfnisse haben sich verändert. Die Touristen sind verwöhnt geworden. Man muss ihnen viel mehr bieten als früher, damit sie kommen», sagt er. «Oder eben andere Zielgruppen ansprechen.»

Schwule und Lesben als begehrte Zielgruppe

Darauf kamen auch die Strategen von Schweiz Tourismus. Mit einem «warm welcome to Switzerland» versuchen sie, Homosexuellen die Schweiz als Urlaubsziel schmackhaft zu machen. Diese sind vor allem deswegen interessant, weil sie als spezielle Form der DINKs (Double Income, No Kids) über eine höhere Kaufkraft verfügen als beispielsweise Familien. Ausserdem gelten sie als Trendsetter. Die Kampagne sorgt nicht bei der gesamten Bevölkerung für Begeisterung. Für die EVP etwa steht diese Politik im Widerspruch zum Schweiz-Tourismus-Slogan «ganz natürlich». Laut Daniela Bär überwiegen aber die positiven Feedbacks. «Im Gegenteil, es gibt Stimmen, die Schweiz sei nach wie vor zu wenig schwulen- und lesbenfreundlich.»
Der Meinung ist auch Frank Bumann, Direktor von Zürich Tourismus. Er würde die Bewerbung der Gay-Szene am liebsten noch ausweiten. «Wir werben schon länger gezielt um schwule oder lesbische Touristen», verriet er gegenüber der Pendlerzeitung «20 Minuten». «Das sind ausgabefreudige Gäste!» Ausgabefreudig vor allem in einer Hinsicht: Homosexuelle gelten als besonders eifrige Partygänger. Und somit profitiert schlussendlich wieder hauptsächlich die Vergnügungsindustrie von den neu gewonnenen Gästen.
Gegen Abend leeren sich die Strassen von Brunnen zusehends. Die Dampfer sind verschwunden, die Zürcher auch. Das Dorf gehört wieder den Einheimischen. An der Bar des «Elite» treffen sich Gastronomen und Gewerbetreibende. Einige standen den ganzen Tag im Betrieb. Die Müdigkeit ist ihnen ins Gesicht geschrieben. «Wenn wir den Tourismus wieder ankurbeln wollen, sind vor allem wir, die Gastronomen, gefordert», sagt Alois Horat. «Wenn jeder einzelne von uns den Gästen zeigt, dass sie willkommen sind, wie schön die Schweiz ist und wie stolz wir darauf sind, dann kommen sie auch wieder.» Ein wahres Wort.

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